27.01.2025
Zum ersten Mal hat das Bundesgericht die Behindertenrechtskonvention als rechtliche Grundlage für die Verpflichtung zur Umsetzung angemessener Anpassungsmassnahmen am Arbeitsplatz anerkannt. Dies nachdem die Beschwerde einer jungen Frau wegen Diskriminierung aufgrund von Behinderung und Geschlecht vom Kantonsgericht abgewiesen worden war. Der befristete Arbeitsvertrag der Frau war aufgrund ihrer fortschreitenden Erkrankung an Multipler Sklerose und ihrer Schwangerschaft trotz guter Leistungen nicht wie im Betrieb üblich in eine Festanstellung überführt worden.

Am 9. Mai 2019 brachte Frau J. ihre Tochter zur Welt und befand sich bis zum 25. September 2019 im Mutterschutz. Nach der Geburt ergaben medizinische Gutachten, dass ihre Arbeitsfähigkeit weiterhin durch die Multiple Sklerose sowie die Auswirkungen der Schwangerschaft erheblich eingeschränkt war. Diese Gutachten legten dar, dass J. lediglich in reduziertem Umfang, konkret mit einer Arbeitszeit von 20 %, und vorzugsweise im home office tätig sein könne. Die vorgeschlagene therapeutische Massnahme sollte eine schrittweise Erhöhung ihrer Arbeitsfähigkeit ermöglichen.
Trotz der vorgebrachten medizinischen Empfehlungen und der ergriffenen Massnahmen entschied das Hospice Général, das Anstellungsverhältnis von J. nicht über den 30. Juni 2020 hinaus zu verlängern. J. sah hierin eine Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung und Schwangerschaft und erhob Beschwerde vor dem zuständigen kantonalen Gericht. Sie machte geltend, dass sie gemäss den Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) sowie des Diskriminierungsverbots in der Schweizer Bundesverfassung Anspruch auf angemessene Anpassungen und auf die Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses habe. Darüber hinaus verlangte sie eine Entschädigung für die erlittene Diskriminierung.
Die Verwaltungskammer des Kantons Genf wies die Beschwerde jedoch ab und bestätigte die Entscheidung des Hospice Général. J. reichte daraufhin eine öffentlich-rechtliche Beschwerde beim Bundesgericht ein. Das Bundesgericht erkannte die Diskriminierung aufgrund der Schwangerschaft sowie der Behinderung an und verwies die Angelegenheit zur erneuten Beurteilung an die Vorinstanz zurück. Diese bestätigte schliesslich die Diskriminierung, woraufhin J. eine Entschädigung zugesprochen wurde.
Die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Dabei greifen Entzündungszellen das Myelin an, die Schutzhülle der Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark, und zerstören es. Dies führt zu Störungen in der Nervenleitung und verursacht eine Vielzahl von Symptomen, darunter Gefühls- oder Lähmungserscheinungen.
Zu den häufigsten Symptomen zählen Empfindungsstörungen wie Taubheitsgefühle oder Kribbeln, Sehstörungen wie Schleiersehen oder Farbsehstörungen sowie Muskellähmungen. Auch Gleichgewichtsstörungen, Blasenfunktionsstörungen und Stimmungsschwankungen treten oft auf.
Der Verlauf der Krankheit ist sehr unterschiedlich: Während einige Betroffene nur milde Symptome haben, entwickeln andere schwere Einschränkungen. Die Häufigkeit und Intensität von Schüben und Krankheitszeichen variieren stark. Dank fortschrittlicher Therapien hat sich die Prognose jedoch deutlich verbessert. In vielen Fällen können bleibende Behinderungen, wie der Verlust der Gehfähigkeit, verhindert werden.
Inklusive Bildung und die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen
Das Recht auf inklusive Bildung und Chancengleichheit ist ein zentraler Bestandteil der Menschenrechte und findet sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene verankerte Bedeutung. Nach Art. 24 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) haben Menschen mit Behinderungen das Recht auf diskriminierungsfreie Bildung und den Zugang zu einem integrativen Bildungssystem, das ihre individuellen Fähigkeiten fördert, die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht und ihre Menschenwürde stärkt. Diskriminierung im Bildungsbereich ist explizit untersagt, was bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen (Art. 24 Abs. 2 BRK). Der Zugang zu hochwertigem, integrativem Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen muss ihnen ebenso gewährt werden, wie die Bereitstellung angemessener Unterstützung und individueller Vorkehrungen zur Förderung ihrer erfolgreichen Bildung.
Das Recht auf Gleichberechtigung auf verschiedenen Ebenen verankert
Artikel 8 der Schweizer Bundesverfassung (BV) garantiert in Absatz 1, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Absatz 2 legt fest, dass niemand aufgrund von Herkunft, Rasse, Geschlecht, Alter, Sprache, sozialem Status, Lebensstil, religiöser, weltanschaulicher oder politischer Überzeugung sowie aufgrund körperlicher, geistiger oder psychischer Beeinträchtigungen diskriminiert werden darf. Diese Regelung verbietet staatliche Massnahmen, die eine Person wegen einer Behinderung benachteiligen, es sei denn, solche Massnahmen sind qualifiziert begründet.
Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK), das am 15. Mai 2014 in der Schweiz in Kraft trat, verpflichtet die Vertragsstaaten in Artikel 5 Absatz 1 dazu, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln und ihnen ohne Diskriminierung den gleichen Schutz sowie Nutzen des Gesetzes zu gewähren. Absatz 2 untersagt jegliche Diskriminierung aufgrund einer Behinderung und verpflichtet die Staaten, Menschen mit Behinderungen denselben Rechtsschutz gegen Diskriminierung zu garantieren. Artikel 2 des BRK definiert «Diskriminierung aufgrund einer Behinderung» als jede Unterscheidung, Ausschliessung oder Einschränkung, die die Ausübung von Menschenrechten und Grundfreiheiten beeinträchtigt. Darüber hinaus werden in Artikel 2 «angemessene Vorkehrungen» als notwendige und angemessene Anpassungen beschrieben, die keine unverhältnismässige Belastung darstellen und gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt alle Rechte geniessen können. Artikel 27 Absatz 1 des BRK erkennt das Recht von Menschen mit Behinderungen auf gleichberechtigte Arbeit an. Diskriminierung aufgrund einer Behinderung im Arbeitsumfeld ist verboten, und es müssen angemessene Vorkehrungen getroffen werden, um diese Gleichberechtigung sicherzustellen.
Das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frauen und Männern (GIG) hat gemäss Artikel 1 das Ziel, die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Praxis zu fördern. Es findet Anwendung auf Arbeitsverhältnisse des Privatrechts sowie des öffentlichen Rechts des Bundes, der Kantone und der Gemeinden (siehe Artikel 2 GIG). Nach Artikel 3 Absatz 1 GIG ist es verboten, Arbeitnehmerinnen aufgrund ihres Geschlechts, Familienstands oder ihrer familiären Situation zu diskriminieren – insbesondere bei Schwangerschaft. Das Diskriminierungsverbot umfasst laut Artikel 3 Absatz 2 GIG auch die Bereiche Einstellung, Aufgabenverteilung, Arbeitsbedingungen, Vergütung, Aus- und Weiterbildung, Beförderung sowie die Beendigung von Arbeitsverhältnissen.
Kantonsgericht bestätigt rechtmässiges Vertragsende
Das Kantonsgericht entschied, dass der befristete Arbeitsvertrag der Beschwerdeführerin rechtmässig war und die maximale Dauer von drei Jahren gemäss Art. 334 Abs. 2 OR (Schweizerisches Obligationenrecht, Regelung zu befristeten Arbeitsverträgen) nicht überschritt. Es stellte fest, dass kein Rechtsmissbrauch im Sinne von Art. 2 ZGB (Verbot des Rechtsmissbrauchs) vorlag. Insbesondere gab es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdegegnerin die gesetzlichen Garantien für unbefristete Arbeitsverhältnisse gezielt umgehen wollte. Der Vertrag endete daher automatisch am 30. Juni 2020 gemäss den Bestimmungen für befristete Arbeitsverträge, ohne dass eine Kündigung nach Art. 334 Abs. 1 OR erforderlich war.
Hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung und Schwangerschaft verwies das Gericht auf die Pflicht zur Gleichbehandlung gemäss Art. 8 Abs. 2 BV (Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung). Das Gericht stellte fest, dass die Beschwerdegegnerin angemessene Vorkehrungen getroffen hatte, um die Beschäftigungsfähigkeit der Beschwerdeführerin sicherzustellen. Dazu gehörten beispielsweise die Bereitstellung eines höhenverstellbaren Schreibtisches und die Möglichkeit zum home office. Diese Massnahmen erfüllten die Anforderungen der UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK).
Die Anträge der Beschwerdeführerin auf zusätzliche Beweisaufnahmen wies das Gericht zurück, da die vorhandenen Unterlagen – insbesondere ärztliche Atteste und weitere Dokumente – als ausreichend angesehen wurden. Es verwies darauf, dass gemäss Art. 8 ZGB die Beschwerdeführerin die Beweislast dafür trägt, dass eine Diskriminierung vorliegt. Dieser Nachweis konnte nicht erbracht werden.
Abschliessend kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass das Vertragsende am 30. Juni 2020 nicht auf einer Diskriminierung oder auf Vorurteilen wegen Behinderung oder Schwangerschaft beruhte. Ein Anspruch auf Verlängerung des befristeten Arbeitsverhältnisses oder die Übernahme in eine unbefristete Position bestand gemäss Art. 335 OR nicht.
Bundesgericht fordert erneute Prüfung von Beweisanträgen
Die Beschwerdeführerin rügte im Berufungsverfahren insbesondere eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV, da das kantonale Gericht es abgelehnt hatte, bestimmte von ihr angebotene Beweise aufzunehmen. Diese Beweise betrafen unter anderem die Aussagen eines Arztes über ihre Arbeitsfähigkeit, die Behauptung, dass eine Verwaltungspraxis der Beschwerdegegnerin existiere, wonach Hilfskräfte nach einer zufriedenstellenden dreijährigen Tätigkeit dauerhaft angestellt würden, sowie den Umstand, dass zum Zeitpunkt des Vertragsendes im Juni 2020 Stellen vakant waren, die ihrem Profil entsprachen und für die sie sich beworben hatte. Die Ablehnung dieser Beweisanträge durch das kantonale Gericht wurde als Verstoss gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör gewertet, da die Beweise geeignet gewesen wären, den Sachverhalt zu beeinflussen – insbesondere im Hinblick auf mögliche Vorurteile der Beschwerdegegnerin gegenüber der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Behinderung und Schwangerschaft.
Die Beschwerdeführerin machte zudem eine Diskriminierung gemäss Art. 8 Abs. 2 BV (Verbot der Diskriminierung) sowie Art. 5 und Art. 27 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) geltend. Sie argumentierte, dass die Nichtverlängerung ihres Arbeitsvertrags oder ihre Nichtanstellung auf einer der offenen Stellen, für die sie qualifiziert gewesen sei, eine Benachteiligung aufgrund ihrer Behinderung und Schwangerschaft darstelle. Trotz zufriedenstellender Leistungen als Hilfskraft und der Möglichkeit, angemessene Vorkehrungen für ihren Arbeitsplatz zu treffen, sei ihr Vertrag nicht verlängert worden. Die Beschwerdeführerin wies darauf hin, dass Stellen, die ihrem Profil entsprachen, besetzt wurden und eine Vertragsverlängerung der üblichen Verwaltungspraxis entsprochen hätte, wonach Hilfskräfte nach drei Jahren zufriedenstellender Tätigkeit in unbefristete Positionen übernommen werden.
Das kantonale Gericht hatte jedoch ihre Beweisanträge abgelehnt und argumentiert, dass die Beschwerdeführerin keinen gesetzlichen Anspruch auf Verlängerung ihres befristeten Vertrags oder auf eine Anstellung in einer anderen Position habe. Es berief sich dabei auf Art. 334 OR, der das automatische Ende befristeter Arbeitsverträge ohne Kündigung regelt. Diese Ablehnung wurde jedoch als problematisch angesehen, da die Beweisanträge geeignet gewesen wären, Hinweise auf eine Diskriminierung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 BehiG, Art. 8 Abs. 2 BV und Art. 5 BRK zu liefern.
Sollte sich herausstellen, dass die Beschwerdegegnerin aufgrund von Vorurteilen von der üblichen Praxis abgewichen ist, Hilfskräfte nach drei Jahren zufriedenstellender Tätigkeit zu übernehmen, würde dies eine Diskriminierung darstellen. In diesem Fall wären die rechtlichen Folgen einer solchen Diskriminierung zu prüfen. Die Beschwerdeführerin beantragte primär ihre Wiedereingliederung in das Personal der Beschwerdegegnerin unter Berücksichtigung angemessener Vorkehrungen. Hilfsweise verlangte sie eine Entschädigung in Höhe von 24 Monatsgehältern.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde teilweise gutgeheissen. Es hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Angelegenheit zur weiteren Untersuchung und erneuten Entscheidung an das Kantonsgericht zurück. Der Grund für die Rückweisung liegt in der Notwendigkeit, den Sachverhalt vertieft zu klären und die diskriminierungsrechtlichen Vorwürfe sowie die Beweisanträge der Beschwerdeführerin unter Berücksichtigung von Art. 29 Abs. 2 BV (Recht auf rechtliches Gehör) und weiteren relevanten Bestimmungen erneut zu prüfen.
Nach Neubeurteilung spricht das Kantonsgericht eine Entschädigung für die Mutter aus
Das Bundesgericht verwies den Fall zur weiteren Sachverhaltsklärung und Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurück. Nach umfassenden Befragungen, Zeugeneinvernahmen und zusätzlichen Beweiserhebungen stellte das Kantonsgericht fest, dass die junge Mutter von ihrem kantonalen Arbeitgeber mehrfach diskriminiert wurde – sowohl aufgrund ihres Geschlechts als auch ihrer Behinderung.
Insbesondere wurde ihr entgegen der üblichen Praxis eine Festanstellung verweigert. Als Gründe wurden ihre Schwangerschaft und die damit verbundene Abwesenheit sowie die behinderungsbedingte Reduktion ihres Arbeitspensums angeführt. Zusätzlich wurde ihre eingeschränkte Mobilität negativ bewertet, um ihr mangelnden Austausch und unzureichende Zusammenarbeit vorzuwerfen.
Das Kantonsgericht sprach der Beschwerdeführerin auf Grundlage des Gleichstellungsgesetzes (GlG) eine Entschädigung für die Geschlechterdiskriminierung zu. Da das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) keine Entschädigungen für Diskriminierungen im Arbeitsbereich vorsieht, berücksichtigte das Gericht die Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung als zusätzliche Begründung, die Entschädigung nach dem GlG zu erhöhen und den Höchstbetrag zuzuerkennen.
Ein grosser Schritt: Bundesgericht erklärt das Diskriminierungsverbot in der UN-Behindertenkonvention für direkt anwendbar
Die junge Mutter konnte sich sowohl vor dem Bundesgericht als auch vor dem Genfer Kantonsgericht durchsetzen. Die Urteile sind von grosser Bedeutung, da sie die Rechte von Menschen mit Behinderungen stärken und die Anwendung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) in der Schweiz klarstellen.
Das Bundesgericht betonte, dass das Diskriminierungsverbot der BRK direkt anwendbar ist und Menschen mit Behinderungen dieses unmittelbar vor Schweizer Gerichten geltend machen können. Zudem entschied es erstmals, dass die Verweigerung angemessener Anpassungen am Arbeitsplatz eine Form der Diskriminierung im Sinne der BRK darstellt. Damit wurde klargestellt, dass öffentliche Arbeitgeber verpflichtet sind, bei Bedarf solche Vorkehrungen zu treffen.
Neben der Feststellung der Diskriminierung und der zugesprochenen Entschädigung markiert das Urteil einen weiteren wichtigen Schritt zur Förderung von Gleichstellung und Gerechtigkeit.
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Marianne Aeberhard
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