11.03.2022
2018 erhob der Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap Beschwerde gegen das neuste Zugsmodell FV-Dosto der SBB. Der Fall wurde bis ans Bundesgericht weitergezogen und zeigt exemplarisch auf, wie mit einem strategischen Prozess Menschenrechte eingefordert werden.
Als dem Projekt des FV-Dosto 2011 grünes Licht gegeben wurde, erhob Inclusion Handicap Beschwerde, da eine behindertengerechte Benützung des Zuges nicht gegeben war. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die Beschwerde teilweise gut und wies die SBB an, über die Bücher zu gehen. Die Beschwerde wurde ans Bundesgericht weitergezogen. Die Richter*innen in Lausanne entschieden zugunsten der SBB und erlaubten das Projekt wie geplant zu realisieren.
Ende 2017 konnten Vertreter*innen von Behindertenorganisationen den fertigen Dosto Zug zum ersten Mal besichtigen. Inclusion Handicap identifizierte 15 Beschwerdepunkte, welche Menschen mit Behinderungen die eigenständige Benützung des neuen Doppelstockzuges erschwerten. Zum Beispiel hinderte eine zu steile Rampe Rollstuhlgänger*innen am selbständigen Verlassen des Zuges. Auch beim Begehen des Zuges stellten sich Probleme, da die Türöffnungstasten ausserhalb der Reichweite von rollstuhlfahrenden Personen angebracht wurden. Weiter waren die Handläufe im Zug nicht durchgängig bis zur Tür gebaut worden, was Menschen mit einer Sehbehinderung Probleme bereitet.
Inclusion Handicap beschwerte sich in diesen 15 Punkten gegen den Entscheid des Bundesamts für Verkehr, den Dosto zur Probe auf die Schienen zu lassen. Da die Beschwerde die Testphase des Dostos verzögerte, hob das Gericht mit der Einwilligung der Beschwerdeführerin die aufschiebende Wirkung auf. Inclusion Handicap liess verlauten, dass sie nicht die Inbetriebnahme des Zuges verzögern, sondern die Baumängel, die Menschen mit Behinderungen die Benützung des Zuges erschwerten, beheben wollten.
In vier der 15 Beschwerdepunkte konnte sich Inclusion Handicap und die SBB aussergerichtlich einigen. Die SBB verpflichteten sich, diese Mängel zu beheben.
Nachdem die Richter*innen des Bundesverwaltungsgerichts den Dosto Zug besichtigt hatten, fällten sie im November 2018 das Urteil. In nur einem von den elf übrig gebliebenen Beschwerdepunkten gab das BVger Inclusion Handicap teilweise Recht. Betreffend der zu steilen Ein- / Ausstiegsrampe wurden die SBB verpflichtet, sicherzustellen, dass mindestens ein Eingang pro Zug rollstuhltauglich ist.
Inclusion Handicap stellt sich auf den Standpunkt, dass die vom BVger zitierten Normen zu behindertengerechtem öffentlichem Verkehr den Anforderungen des Schweizer Behindertengleichstellungsgesetz nicht genügen.
Anfangs 2019 entschied sich der Dachverband der Behindertenorganisationen das Urteil vor das Bundesgericht zu ziehen, um die von Gesetzes wegen garantierte, autonome Benützung des öffentlichen Verkehrs für Menschen mit Behinderungen einzufordern. Des Weiteren prozessiert Inclusion Handicap auch gegen die rund 250'000 CHF Entschädigung, zu der sie verurteilt wurde. Die masslos hohen Entschädigungen würden NGOs davon abhalten, ihr Verbandsbeschwerderecht einzufordern, so der Dachverband. In der Durchsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes spielen die Verbände eine zentrale Rolle.
In diesem Punkt gab das Bundesgericht Inclusion Handicap in seinem Urteil vom 22. Dezember 2021 Recht. Es entschied, dass die Parteienentschädigung nach unten korrigiert werden müsse. Denn eine zu hohe Parteientschädigung könne sich negativ auf die künftige Ausübung des Verbandsbeschwerderechts auswirken.
Weiter folgte das Bundesgericht der Vorinstanz insofern, als es in der maximalen Rampenneigung von 15 Prozent im Ein- und Ausstiegsbereich der Züge für sich genommen keine unzulässige Benachteiligung sieht. Anders als das Bundesverwaltungsgericht kommt es jedoch zum Schluss, dass die maximale Rampenneigung nicht nur bei einem Einstieg pro Zug, sondern für sämtliche Ein- und Ausstiegsbereiche eines Zuges gelten muss. Es erteilt dem Bundesamt für Verkehr den Auftrag, der SBB zur Sicherstellung dieser Auflage eine angemessene Frist zu setzen. Damit wird das selbständige und sichere Zu- und Aussteigen für Menschen mit Gehbehinderungen einfacher.
Die übrigen sieben Beschwerdepunkte von Inclusion Hanicap - u.a. die Länge der Handläufe und die Platzierung und Kennzeichnung der Türöffnungstasten - erachtete das Bundesgericht als unbegründet und lehnte sie ab. Damit nimmt das Gericht in Kauf, dass die autonome Nutzung der Doppelstock-Züge insbesondere für Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen weiterhin stark erschwert bleibt.
Eine ausführliche Analyse zum Urteil lesen Sie hier auf unserer Informationsplattform.
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