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Geschlechtseintrag

Streichung des Geschlechtseintrags

23.01.2024

In Berlin liess Julian P. den Vornamen ändern und den Geschlechtseintrag im Personenregister streichen. Die Behörden im Heimatkanton Aargau weigerten sich, die Streichung des Geschlechtseintrag anzuerkennen. In einem historischen Urteil erklärte das Aargauer Obergericht diese Entscheidung nun für ungültig.

Julian P.s Heimatort ist im Kanton Aargau. Aus beruflichen Gründen lebt P. jedoch in Berlin. Auf dem Standesamt in Berlin Mitte liess P. den Vornamen ändern und den Geschlechtseintrag streichen. Was in Deutschland ohne Probleme vonstattenging, bereiteten der zuständigen Aargauer Behörde, dem Departement für Volkswirtschaft und Inneres (DVI), Kopfschmerzen. Während das DVI P.s Antrag, den neuen Vornamen zu übernehmen, stattgab, weigerte es sich, den Geschlechtseintrag aus dem Personenstandsregister zu streichen. Die Behörden begründeten ihren Entscheid damit, dass eine solche Streichung gegen die hiesigen Wertevorstellungen verstosse.

Mit Hilfe des Transgender Network Switzerland (TGNS) legte P. Beschwerde beim Obergericht Aargau gegen die Verfügung des DVIs ein. P.s Anwalt machte eine Verletzung des Rechtes auf Privat- und Familienleben in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 & Art. 14 EMRK) geltend. Zur Begründung, dass die Streichung nicht mit Schweizer Wertevorstellungen vereinbar sei, verwies der Anwalt auf zwei Vorstösse im Parlament, die sich mit der Einführung eines dritten Geschlechtes und des Verzichts auf den Geschlechtseintrag im Personenregister befassten. Die angenommenen Vorstösse in Bundesbern zeigten demnach sinnbildlich, wie Wertevorstellungen nicht stehen blieben, sondern sich mit der Zeit verändern würden – auf gesellschaftlicher wie auf politischer Ebene.

Das Obergericht folgte der Argumentation des TGNS-Anwalts und anerkannte, dass die Binarität des amtlichen Geschlechts zunehmend in Frage gestellt wird, auch in der Verwaltung. Das DVI wurde entsprechend angewiesen, alle in Deutschland vollzogenen Änderungen zu übernehmen.

Julian P.s Gang ans Aargauer Obergericht gipfelte somit in der ersten amtlichen Anerkennung nicht binärer Menschen und der neuen Möglichkeit, keinen Geschlechtseintrag im Personenregister zu haben. Der Entscheid ermöglicht jedoch nur im Ausland gestrichene Geschlechtseinträge zu übernehmen. Obwohl das Obergericht sich nicht zur generellen Möglichkeit einer solche Streichung in der Schweiz äusserte, zeigt sich, dass die Rechtsprechung die Bedürfnisse von nicht binären Personen anerkennt. Damit hat das Urteil, welches Julian P. erkämpft hat, eine grosse Symbolkraft.

Gegen das Urteil des Aargauer Obergerichts wurde jedoch vom Bundesamt für Justiz Beschwerde eingereicht. Damit gelangt der Fall ans Bundesgericht. Das Transgender Network Switzerland hat deshalb am 5. November 2021 eine Crowd-Funding-Kampagne gestartet, um die bereits entstandenen Gerichtskosten zu decken und die Möglichkeit zu eröffnen, den Fall bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzuziehen. Die Anlaufstelle von humanrights.ch unterstützt diese strategische Prozessführung. Hier lesen Sie unseren Newsartikel zum Kampagnenstart.

Am 21. Dezember 2022 äusserte der Bundesrat in einem Postulatsbericht die Ansicht, dass «die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Einführung eines dritten Geschlechts oder für den generellen Verzicht auf den Geschlechtseintrag derzeit nicht gegeben» seien. Ausserdem hätte eine Änderung des binären Geschlechtsmodells weitreichende Konsequenzen für die Rechtsordnung, so der Bundesrat.

Am 8. Juni 2023 entschied das Bundesgericht in einer öffentlichen Beratung, dass die Streichung der Geschlechtsangabe im schweizerischen Personenstandsregister nicht mit Bundesrecht vereinbar sei. Damit hiess das Gericht die Beschwerde des Bundesamtes für Justiz gut und hob den Entscheid des Aargauer Obergerichts auf. Der Verzicht auf einen Geschlechtseintrag sei nicht zulässig, da der Gesetzgeber die geltende binäre Geschlechtsordnung befürworte, so das Bundesgericht. Es machte aber auch deutlich, dass eine Änderung durch das Parlament möglich wäre.

Der Beschwerdeführende Julian P. und das Transgender Network Switzerland zeigten sich enttäuscht über das Urteil, wollen aber weiter für die Anerkennung der Rechte nicht binärer Personen kämpfen. Sie fordern, dass sich das Parlament den Forderungen aus dem Postulat «Verbesserung der Situation von nicht binären Personen» annimmt. Nach reiflichen Überlegungen haben sie sich gegen eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, da das mehrjährige Verfahren nochmals viel Unsicherheit mit sich gebracht und persönliche Ressourcen gekostet hätte.

Der strategische Fall von Julian P. und die Rechte von nicht binären Menschen sind auch Thema der vierten Folge unseres Podcasts «Artikel Sieben»:

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Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
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