humanrights.ch Logo Icon

Institutioneller Umgang mit Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in der Schweiz

14.04.2024

Der 18-jährige Theo W. stirbt im Januar 2021 an den Folgen seiner Selbstverletzungen, die er sich in der Psychiatrie zugefügt hat. Theo hatte die Diagnose «Asperger». Wie konnte es soweit kommen? Wie gehen wir in der Schweiz mit sogenannt neurodivergenten Menschen um, die mit den Anforderungen des Alltags nicht mehr zurechtkommen?

Seit Februar 2021 unterstützt humanrights.ch die Eltern von Theo W. im Rahmen eines strategischen Prozesses bei der Aufarbeitung dieser tragischen Geschichte. Es wird schnell klar: Theo ist kein Einzelfall. Seine Eltern haben sich mit anderen Betroffenen vernetzt , deren Kinder sich mit derselben Diagnose in einer psychiatrischen Klinik befinden oder befunden haben. Dabei gleichen sich die Erzählungen insofern, als es in der Klinik nicht zur Verbesserung der Situation kommt, im Gegenteil.

Weitere Recherchen weisen auf ein grundsätzliches Problem in der Betreuung von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) hin: 2018 gerät die Institution Cité du Genévrier oberhalb von Vevey im Kanton Waadt in die Schlagzeilen , weil die Eltern von fünf jungen Erwachsenen mit ASS eine Beschwerde wegen physischen und psychischen Misshandlungen wie medikamentöses Ruhigstellen oder Isolieren insbesondere gegen zwei Mitarbeitende einreichen. Im Februar 2022 werden gravierende Missstände im Sonderschulheim Mancy in Genf bekannt, Kinder sollen am Boden entlang geschleift worden sein, seien in ihren Exkrementen gelegen und es sei ihnen das Essen vorenthalten worden. Kurz darauf im August 2022 kommt ein weiterer Skandal in der Chasa Flurina in Graubünden ans Tageslicht: Die Eltern eines dort betreuten schwer autistischen Jugendlichen haben diesen im Herbst 2021 in einer Klinik im Kanton Zürich untersuchen lassen, weil sie ihn in einer «unzumutbaren Verfassung» aufgefunden haben. Er hatte massiv an Gewicht verloren und wirkte leer und traurig. Die Aufarbeitung der Ereignisse läuft isoliert und auf die Institution bzw. deren Leitung oder die zuständigen Kontrollorgane der Kantone bezogen. Im Kanton Genf wirft der Skandal hohe Wellen bis in die Politik mit dem Ergebnis gegenseitiger Schuldzuweisungen. Die Chasa Flurina wird Ende 2022 wegen fehlender Nachfolgelösung in der Heimleitung geschlossen. In keinem der Fälle wird von einem strukturellen Problem im institutionellen Umgang mit Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gesprochen. Hingegen kommt in allen Fällen zur Sprache, dass das Personal oder im Fall Mancy auch der Institutionsleiter nicht adäquat ausgebildet bzw. auf ASS spezialisiert waren. Im Fall Mancy unterstützt die Subkommission der Genfer GPK, die den Skandal untersucht hat, den Staatsrat in der Bestrebung, Jugendliche mit ASS in Zukunft in subventionierten privaten Institutionen zu betreuen. Ist dies die Lösung des Problems? Das ist eine der Grundfragen, der in diesem Artikel nachgegangen werden soll.

Im Folgenden wird der institutionelle Umgang mit Menschen mit ASS in der Schweiz systematisch untersucht. Als Grundlage dafür müssen einerseits die Eigenheiten der Autismus-Spektrum-Störung verstanden werden, andererseits die (menschen-)rechtlichen Grundlagen sowie der Stand der Diskussion und die Umsetzung von Massnahmen im institutionellen Umgang mit Menschen mit ASS in der Schweiz bekannt sein.

Autismus, Asperger oder Autismus-Spektrum-Störung (ASS)?

Der Begriff «Autismus» geht auf den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler zurück, der 1911 im Rahmen seiner Forschungen zur Schizophrenie eines der Grundsymptome beschrieb: die Zurückgezogenheit in eine innere Gedankenwelt. Hans Asperger und Leo Kanner nahmen den Autismus-Begriff unabhängig voneinander auf und beschrieben nicht mehr nur ein einzelnes Symptom, sondern ein ganzes Syndrom. Im Gegensatz zu Menschen mit Schizophrenie, die sich aktiv in ihr Inneres zurückziehen, definierten sie «Autismus» als einem Zustand der inneren Zurückgezogenheit ab dem Moment der Geburt.

Das bis im Jahr 2022 im deutschsprachigen Raum gültige Klassifikationssystem ICD-10-GM (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der WHO unterschied drei Ausprägungen, die als tiefgreifende Entwicklungsstörungen eingeordnet waren: frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus und Asperger-Syndrom, auch bezeichnet als hochfunktionaler Autismus, weil es bei dieser Ausprägung keine kognitive oder sprachliche Entwicklungsverzögerung gibt. Das 2013 veröffentlichte Handbuch DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA) und das seit 2022 international gültige ICD-11 definieren jedoch nur noch eine allgemeine, übergreifende Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Grund für diese Änderung war die zunehmende Erkenntnis der Wissenschaft, dass eine klare Abgrenzung der genannten unterschiedenen Subtypen nicht möglich ist – und man stattdessen von einem fliessenden Übergang zwischen verschiedenen individuellen Ausprägungen des Autismus ausgehen sollte. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 25-30% aller Betroffenen eine schwere Form der ASS im Sinne des «frühkindlichen Autismus» aufweisen. Dabei wird geschätzt , dass bis über die Hälfte von einer leichten und rund ein Drittel von einer schweren intellektuellen Entwicklungsstörung (früher «geistige Behinderung») betroffen sind. Auch psychische Komorbiditäten gelten bei ASS als verbreitet: 28% für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), 20% für Angststörungen, 13% für Schlafstörungen, 12% für disruptive, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen, 11% für depressive Störungen, 9% für Zwangsstörungen, 5% für bipolare Störungen und 4% für Psychose-Erkrankungen. Es wird keine Zunahme der Diagnosen der schweren Form der ASS beobachtet, anders als im Bereich des hochfunktionalen ASS. Die Betroffenen fallen oft erst während der Pubertät oder im Erwachsenenalter auf. Dabei gibt es erhebliche Geschlechtsunterschiede, insbesondere ASS-betroffene Mädchen im hochfunktionalen Spektrum werden weniger schnell als solche erkannt als betroffene Jungen.

Menschen mit ASS verfügen über eine andere Informationsverarbeitung, sie sehen, hören und fühlen die Welt anders als sogenannt neurotypische Menschen. Sie haben Schwierigkeiten mit der Perspektivenübernahme, sich also in andere Menschen hineinzufühlen und adäquat mit ihnen zu kommunizieren. Zudem können sie die Stimmung ihres Gegenübers aus dessen Gesicht schlecht erkennen und haben deswegen Mühe, soziale Situationen oder Ironie zu verstehen. Sie vermeiden deshalb oft Kontakte zu ihren Mitmenschen. Für Menschen mit ASS ist es eine Herausforderung, sich auf Neues einzustellen und entsprechend ist es für sie am einfachsten, Alltagsabläufe immer gleich zu gestalten (Rituale) und sich im gewohnten Lebensumfeld zu bewegen. Menschen mit ASS orientieren sich an Details und haben Mühe, eine Situation ganzheitlich zu erfassen. Gerne befassen sie sich mit einem Spezialgebiet. Menschen mit ASS sind in ihren Bewegungen und motorischen Fähigkeiten eher ungeschickt. Oft zeigen sie Über- oder Unterempfindlichkeiten auf Licht, Gerüche, Geräusche oder Berührungen, was sich als Faszination für Licht oder glänzende Oberflächen, als Angstreaktionen bei speziellen Geräuschen, als Vorliebe für intensive Körperkontakte oder als auffälliges Beriechen oder Ertasten von Oberflächen und Gegenständen äussern kann. Diese Über- oder Unterempfindlichkeiten und Detail-Orientierung führen dazu, dass Kinder oder Erwachsene mit ASS grosse Probleme haben, ihre Umwelt als sinnvolles Ganzes zu verstehen. Das Erreichen von Lernerfolgen wird dadurch massgeblich erschwert. Aufgrund dieser anderen Wahrnehmung kann es zu einem sogenannten «Overload» kommen, einer Überlastung aufgrund von Reizüberflutung, bei der unwichtige Reize nicht mehr gefiltert werden können. Kann sich die betroffene Person nicht beruhigen und zurückziehen, kann ein «Meltdown» - oft in Form eines unkontrollierten Wutausbruchs - mit möglichem anschliessendem «Shutdown» - völliger Rückzug, Betroffene sind kaum oder gar nicht mehr ansprechbar - die Folge sein.

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine angeborene Entwicklungsstörung, die nicht «geheilt» werden kann. Die Ursachen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Es wird davon ausgegangen, dass mehrere Faktoren eine Rolle spielen: So können genetische Prädispositionen, aber auch biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und eine Autismus-Spektrum-Störung begünstigen bzw. verursachen. Einflüsse des sozialen Umfeldes wie Erziehungsverhalten der Eltern oder familiäre Konflikte werden als Ursache ausgeschlossen.

Anders als beispielsweise bei einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gibt es keine medikamentöse Behandlung für die Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Es geht darum, die Begleiterscheinungen wie Depressionen, Angstzustände, Zwangsstörungen und/oder gegen sich selber oder andere gerichtete Aggressionen zu behandeln. Diese Begleiterscheinungen können und werden medikamentös behandelt. Hingegen geht es bei der Frage, wie eine Person mit ASS am besten unterstützt werden kann, in erster Linie um Unterstützungs- und Fördermassnahmen wie Logopädie, Psychomotorik-, Ergo- und Verhaltenstherapie. Diese Massnahmen zielen darauf ab, die Entwicklung bestmöglich und insbesondere die sozialen Kompetenzen zu fördern, damit die Betroffenen sich besser in ihrer Umwelt zurechtfinden.

Öffentliches Bewusstsein und Leidensdruck

Eine Metastudie über den Zeitraum zwischen 2012 und 2021 zeigt eine durchschnittliche weltweite Prävalenz der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) von 1%, mit zunehmender Tendenz und der Vermutung, dass die Rate aufgrund mangelnder Datenlage in gewissen Ländern unterschätzt wird. Werden die Daten zurück bis 1980 betrachtet, dann zeigt sich eine dramatische Zunahme in den letzten 40 Jahren. Es ist unklar, in welchem Ausmass dieser Anstieg auf zunehmende Prävalenz zurückzuführen ist. Vielmehr hat sich die diagnostische Praxis aufgrund der zunehmenden Aufmerksamkeit und Wissen hinsichtlich ASS geändert. Auch in der Schweiz wird die Prävalenzrate auf 1% geschätzt, das heisst, es werden jährlich 800 bis 1000 Kinder mit einer ASS geboren.

Auf internationaler Ebene manifestiert sich das Bewusstsein für Autismus bereits 1998, als auf Initiative von «Autism Europe» die «World Autism Organisation (WAO)» gegründet wird. Grund dafür war, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) damals das Thema nicht bearbeitete und die UNESCO kein Programm dazu anbot. Auch auf wissenschaftlicher Ebene erfolgte im Jahr 2001 der Zusammenschluss in der «International Society for Autism Research (INSAR)». Dies hatte auf europäischer Ebene wohl durchaus Auswirkungen hinsichtlich der offiziellen Autismus-Strategien: In Frankreich wurde bereits 2005, in Dänemark 2006 und in Wales sowie Ungarn 2008 eine Autismus-Strategie verabschiedet. Es folgten England 2010, Nord Irland und Schottland 2011, Spanien 2015 und Malta 2016. In England und Wales trat 2009 der Autism Act in Kraft.

Als Schlüsselmoment hinsichtlich des öffentlichen Bewusstseins auf internationaler Ebene gilt der 17. Dezember 2007, als die UNO Generalversammlung einen weltweiten Autismus-Tag (World Autism Awareness Day – A/RES/62/39) ausrief, der jeweils am 2. April stattfindet und das Ziel verfolgt, die Umsetzung der Rechte von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen zu fördern, die in der 1990 in Kraft getretenen Kinderrechtskonvention (Art. 2) sowie der 2008 in Kraft getretenen Behindertenrechtskonvention geregelt sind.

In der Schweiz kommt auf politischer Ebene mit dem Postulat Hêche (12.3672) «Autismus und andere schwere Entwicklungsstörungen. Übersicht, Bilanz und Aussicht» vom 10. September 2012 Bewegung in die Sache. Zur Beantwortung des Postulats gibt der Bundesrat ein Forschungsprojekt in Auftrag, auf dessen Basis er im Juni 2015 einen ersten Bericht publiziert mit einer Bestandesaufnahme in Bezug auf Erkennung, Betreuung sowie Elternunterstützung und Empfehlungen zur Verbesserung der Situation formuliert. Konkret wird eine Arbeitsgruppe aus Vertreter*innen von Kantonen, Bund und anderen betroffenen Akteur*innen (Elternvereinigungen, Fachgesellschaften) beauftragt, die im Bericht formulierten Empfehlungen zu überprüfen, um eine gemeinsame Vision zu entwickeln, Handlungsfelder festzulegen und die Ergebnisse dem Bundesrat bis Ende 2016 vorzulegen. Im Oktober 2018 verabschiedet der Bundesrat einen zweiten Bericht, indem die Massnahmen konkretisiert werden. Drei Schwerpunkte werden festgelegt: Früherkennung und Diagnostik, Beratung und Koordination sowie Frühintervention. Seither hat es keine offizielle und umfassende Evaluation der Umsetzung dieser Massnahmen und Empfehlungen gegeben. Die Antwort des Bundesrats vom 17.2.2021 auf eine Interpellation von Nationalrätin Franziska Roth (SP) hingegen ist ernüchternd und deutet darauf hin, dass wenig Fortschritte erzielt wurden bzw. in gewissen Bereichen sich gar nichts bewegt hat (für eine detailliertere Analyse vgl. übernächster Abschnitt).

Auch in der Schweizer Öffentlichkeit hat in letzten Jahren das Thema Autismus, Asperger bzw. Autismus-Spektrum-Störung (ASS) stark an Aufmerksamkeit gewonnen. Dafür sprechen die vielen DOK-Filme und TV-Sendungen, Podcasts, Blogs und Zeitungsberichte, die vor allem auch darauf abzielen, Menschen mit ASS, insbesondere auch Erwachsene, sichtbar zu machen und das Umfeld für diese Krankheit zu sensibilisieren. Auch gibt es diverse Foren zum Fachaustausch, Vereine für Angehörige, Betroffene und Fachpersonen, die u.a. auch Hilfsangebote vermitteln. Weiter bestehen Vernetzungsinitiativen sowie Forschungsnetzwerke und Fachstellen an Hochschulen.

Inwiefern diese Aufmerksamkeit mit den Handlungsbemühungen des Bundesrats zusammenhängt ist kaum nachzuweisen. Hingegen wird deutlich, dass noch immer ein grosser Leidensdruck und viel Handlungsbedarf besteht. Entsprechende Kommentare und Hilferufe insbesondere zum Thema Schule im Autismusforum Schweiz deuten darauf hin. Auf der Webseite von Autismus Deutschschweiz, auf der Unterstützungsangebote pro Kanton aufgelistet sind, steht der Hinweis, dass aktuell viele der Fach- und Diagnosestellen stark überlastet seien und es deswegen zu längeren Wartezeiten und Aufnahmestopps komme. Die Wartezeit für eine diagnostische Abklärung beispielsweise kann bis zu 18 Monate dauern. Auch an humanrights.ch wenden sich immer wieder Betroffene, die Hilfe suchen. Die eingangs beschriebenen Missstände in der institutionellen Betreuung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ASS untermauern die These, dass es mit der Umsetzung der Massnahmen hapert. Wo steht also die Schweiz im Umgang mit Menschen, die von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) betroffen sind?

(Menschen)rechtliche Grundlagen und Verpflichtungen für die Schweiz

Rechtlich ist die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) als Behinderung klassifiziert, da das Syndrom in den gängigen Klassifikationssystemen ICD-11 und DSM-5 beschrieben wird und entsprechende Diagnosen von qualifizierten Fachpersonen gestellt werden. Die Betroffenen wehren sich gegen diese konsequente Kategorisierung, denn es gibt viele, die über keine Diagnose verfügen und die die Anforderungen des Alltags bewältigen können. Da es sich um ein Spektrum handelt, ist der Übergang zur «Behinderung» fliessend, weswegen sich die Betroffenen selber bevorzugt als «besonders» oder als «neurodivergent» (vs. neurotypisch) bezeichnen. Hieraus ergibt sich eine besondere Herausforderung, um die Rechte der Betroffenen geltend zu machen, da es dafür eine Diagnose braucht. Denn die spezifischen Rechte von Menschen mit ASS werden im Rahmen der Rechte von Menschen mit Behinderungen garantiert.

Auf internationaler Ebene sind die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Behindertenrechtskonvention BRK der UNO festgehalten. Dieses Übereinkommen trat 2008 in Kraft, wurde von der Schweiz aber erst 2014 ratifiziert. Hingegen verzichtet die Schweiz bis heute darauf, das Fakultativprotokoll zu unterzeichnen, das den Betroffenen ermöglichen würde, individuelle Beschwerden einzureichen. Auch wurden im Rahmen der ersten Überprüfung der Schweiz im Frühjahr 2022 in Bezug auf die Inklusion von Menschen und Kindern mit Behinderungen erhebliche Missstände festgestellt, aber keine ASS-spezifischen Empfehlungen abgegeben. Deswegen ist ein zweites für ASS-Betroffene relevantes Abkommen umso wichtiger: die Kinderrechtskonvention KRK, welche die Schweiz 1997 ratifizierte und sich im 2014 dazu durchgerungen hat, das Zusatzprotokoll für Individualbeschwerdeverfahren anzuerkennen. Insbesondere relevant sind Art. 23 KRK über die Rechte von Kindern mit Behinderungen, aber auch Art. 2 KRK, der vorschreibt, dass Kinder vor jeglicher Form der Diskriminierung, insbesondere auch aufgrund von «Behinderung» zu schützen sind. Es ist denn auch der UNO-Kinderrechtsausschuss, der in den letzten beiden periodischen Überprüfungen der Schweiz (2009-2015 / 2019-2021) im Rahmen der Staatenberichtsverfahren wiederholt erhebliche Missstände hinsichtlich des Umgangs mit Kindern mit ASS feststellte und spezifische Empfehlungen formuliert hat (vgl. ausführliche Version der Feststellungen sowie nächster Titel zu Massnahmen und Umsetzung).

Die gesetzliche Grundlage in der Schweiz, die für den Umgang von Menschen mit Behinderungen relevant ist, ist in erster Linie das 2004 in Kraft getretene Behindertengleichstellungsgesetz (BeHiG) mit den entsprechenden drei Verordnungen. Das Gesetz setzt die verfassungsmässigen Verpflichtungen nach Artikel 8 Absatz 4 zum Diskriminierungsverbot in gewissen zentralen Belangen um, in denen Menschen mit Behinderungen Einschränkungen erfahren. Darin ist beispielsweise geregelt, dass die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in die Regelschule Aufgabe der Kantone ist (BeHiG, Art. 20 Abs. 2). Weiter relevant sind die entsprechenden gesetzlichen Regelungen der Krankenkassen – z.B. für die Kostenübernahme der Diagnostik – oder der Invalidenversicherung (IV) – bei der Finanzierung von Massnahmen im Rahmen des sog. Nachteilsausgleichs im Bildungsbereich oder der Hilflosenentschädigung und des Assistenzbeitrags im Bereich des Wohnens.

In der Schweiz gibt es kein spezifisches Gesetz, das die Rechte von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) regelt. Hingegen sind in den letzten Jahren spezifische Urteile ergangen. In Bezug auf die Integration in Regelklassen hat das Bundesgericht im Entscheid 2C_590/2014 vom 4. Dezember 2014 festgehalten, dass die Eltern eines autistischen Jungen nicht für die Zusatzbetreuung aufkommen müssen, wenn die Integration in eine Regelklasse die pädagogisch sinnvollste Lösung darstellt. Ein wichtiges Urteil auf kantonaler Ebene ist eine gutgeheissene Beschwerde gegen den Entscheid einer Oberstufenleitung, einen Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) trotz guter Noten nicht für einen prüfungsfreien Übertritt ins Gymnasium zu empfehlen (Handicap und Recht 03/2022). Ein weiterer Bundesgerichtsentscheid vom 12. September 2022 (9C_131/2022 ) bezieht sich auf die Berufsausbildung und verlangt hinsichtlich des Nachteilsausgleichs auch den sekundären Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Wegweisend für den Anspruch von ASS-Betroffenen auf Finanzierung durch die IV ist schliesslich ist der Bundesgerichtsentscheid BGer 9C_37/2020 vom 19.05.2020, welcher diesen Anspruch bejaht.

Menschenrechtliche Einordnung der Massnahmen und Umsetzung

Auch wenn sich der Bundesrat im ersten Bericht von 2015 eingesteht, dass die Schweiz im internationalen Vergleich im Verzug ist, bieten die bis 2018 erarbeiteten Grundlagen zumindest einen guten Überblick über die Ausgangslage und den Handlungsbedarf. Hingegen decken sich die Empfehlungen und v.a. die Priorisierungen im zweiten Bericht (2018) nur teilweise mit den Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschusses, wie das Netzwerk Kinderrechte Schweiz (NKS) bereits 2015 in Bezug auf die Empfehlungen aus dem ersten Bericht feststellte. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, inwiefern die nun eingeschlagene Handlungsstrategie den menschenrechtlichen Vorgaben und Empfehlungen entspricht und welche Fortschritte in der Umsetzung in einzelnen Bereichen ersichtlich sind.

Datenlage: Der UN-Kinderrechtsausschuss stellt in seinem Bericht von 2015 fest, dass «es keine umfassenden Daten zu Kindern mit Behinderungen, einschliesslich Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen, gibt» (Nr. 54. a.) und fordert die Schweiz dazu auf, Daten zur Situation aller Kinder mit Behinderung zu erheben und zu analysieren (Nr. 55 a.). Im initialen Forschungsprojekt von 2015 (vgl. S.9.) wird deutlich, wie unvollständig und heterogen die Datenlage in der Schweiz ist. Der Bundesrat widmet in seinem Bericht 2018 der Datenlage ein eigenes Handlungsfeld (vgl. S. 40) und nimmt Bezug auf die Empfehlungen des Kinderrechtsausschusses. Er schlägt zwei Massnahmen vor, nämlich epidemiologische Studien zu initiieren und ein Autismus-Register aufzubauen. Diesen Massnahmen wird jedoch lediglich zweite Priorität eingeräumt. Auf die Nachfrage in der Interpellation von Franziska Roth zu der Anzahl ASS-Betroffener in der Schweiz antwortet der Bundesrat im Februar 2021, dass es noch immer keine Zahlen gebe, dass sich die ins Auge gefasste Möglichkeit, Zahlen im Rahmen des Projekts MARS (Statistiken der ambulanten Gesundheitsversorgung) zu erfassen als nicht zielführend erwiesen habe und dass es angesichts der vielen involvierten Akteur*innen schwierig sei, die Daten zu zentralisieren. Er wiederholt die Möglichkeit für die Initiierung von epidemiologischen Studien, wofür der Nationalfonds oder Fachgesellschaften zuständig seien oder die Möglichkeit des Aufbaus eines Autismus-Registers, wofür aber vorgängig die gesetzliche Grundlage geschaffen werden müsste. In dieser Frage sind also zumindest bis im 2021 keine Fortschritte zu verzeichnen.

Inklusion: Im Bildungsbereich fordert der UN-Kinderrechtsausschuss 2015 die Schweiz auf, auf allen Stufen (frühkindliche Bildung und Betreuung, Regelschule, Berufsbildung) den Zugang zu einer inklusiven Bildung sicherzustellen, die auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet ist (Nr. 55 d. und e.). Sechs Jahre später stellt der Ausschuss zwar Fortschritte in diesem Bereich fest, wiederholt hingegen die Forderung, weil gemäss neueren Daten immer noch viele Kinder mit Behinderungen, einschließlich Kinder mit Autismus, Sonderschulen oder Klassen ausserhalb der Regelschulen besuchen müssten (Nr. 33. a.). Er fordert die Schweiz dazu auf, den Kantonen, die immer noch einen segregierten Ansatz anwenden, klare Anweisungen zu geben (Nr. 34 a.). Im Bericht des Bundesrates von 2018 werden zur Förderung der schulischen und beruflichen Integration insgesamt 13 Massahmen formuliert und 9 davon mit erster Priorität gewichtet (v.a. im Bereich der Begleitung von Übergängen, Bereitstellung von Unterstützungsangeboten, Weiterbildung der Lehrkräfte). In ihrer Interpellation fragt Roth konkret nach der Umsetzung hinsichtlich der Inklusion in allen Lebensbereichen (Punkt 5). Der Bundesrat bezieht sich in der Antwort lediglich auf den Regelschulbereich und begründet den Fortschritt mit dem Rückgang der Schüler*innen in Sondersettings um 40%, wobei sich die Sonderschulquote zwischen den Kantonen stark unterscheide (von 0.8% bis 2.66%). Im Bereich Wohnen und Freizeit formuliert der Bundesrat insgesamt 19 Massnahmen, davon eine einzige mit Priorität 1, nämlich die «Anpassung/Erweiterung der bestehenden Angebote des selbständigen Wohnens (begleitetes Wohnen) an die Bedürfnisse von Menschen mit ASS» (Nr. 14.1., S. 32). Aussagen zum Stand der Umsetzung im Rahmen der Interpellation Roth bleibt er schuldig. Der UN-Kinderrechtsausschuss stellt im Bericht von 2021 jedoch fest, dass Kinder mit Behinderungen nach wie vor von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung betroffen seien (Nr. 33. d). Deswegen fordert er Sensibilisierungskampagnen, um die Stigmatisierung und Diskriminierung von Kindern mit Behinderungen zu bekämpfen und ein positives Bild dieser Kinder als Träger*innen von Rechten zu fördern, wobei ihre sich entwickelnden Fähigkeiten gleichberechtigt mit anderen Kindern geachtet werden (Nr. 34 g). Unter den vorgeschlagenen Massnahmen im Bericht des Bundesrats von 2018 sind keine Massnahmen zur Sensibilisierung der breiten Bevölkerung vorgesehen, hingegen sollen im Bereich der ausserschulischen Betreuungs- und Freizeitangebote die entsprechenden Akteur*innen für das Thema ASS sensibilisiert werden. Diese Massnahmen werden jedoch mit Priorität 3 eingestuft.

Früherkennung, Diagnostik und Frühintervention: Im 2015 empfiehlt der UN-Kinderrechtsausschuss der Schweiz Früherkennungsmechanismen zu installieren und sicherzustellen, dass Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in wissenschaftlich fundierte Frühförderprogramme aufgenommen werden (Nr. 55 e.). Der Bundesrat definiert denn auch die beiden Bereiche Früherkennung & Diagnostik sowie Frühintervention als zwei von drei Handlungsschwerpunkten. Im Bereich der Früherkennung und Diagnostik formuliert er 11 Massnahmen, davon 4 mit erster Priorität (Ressourcen für Diagnostik, Koordination zwischen den Kantonen, Diagnostikverfahren, Weiterbildung), im Bereich der Frühintervention 6 Massnahmen, zwei davon mit erster Priorität, die sich hauptsächlich auf die langfristige Sicherung und den Ausbau von frühen Interventionen beziehen. Als Antwort auf die Frage zum Stand der Umsetzung in den Handlungsschwerpunkten (Interpellation Roth, 2020) macht der Bundesrat zum Bereich der Früherkennung und Diagnostik anfangs 2021 folgende Angaben: «Laut Jahresbericht 2019 von Autismus Deutsche Schweiz, sind die Entwicklungen bis jetzt ernüchternd. Je nach Kanton präsentiert sich die Situation sehr unterschiedlich: Während in Genf zum Beispiel die Ressourcen für die Diagnostik stark aufgestockt wurden, wurde im Kanton Freiburg die Diagnosestelle für Autismus geschlossen.» Der Handlungsschwerpunkt «Frühintervention» ist gemäss Bundesrat der einzige Bereich, bei dem die Verantwortung beim Bund liegt. So würde die Frage der gemeinsamen Finanzierung (Bund und Kantone) der intensiven Frühintervention bei sog. frühkindlichem Autismus in einem mehrstufigen Prozess erarbeitet und die Sicherstellung der langfristigen Finanzierung im Rahmen eines Pilotprojekts geklärt. Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) legt dafür im Februar 2021 den Abschlussbericht zum Projekt «Intensive Frühinterventionen für Kinder mit frühkindlichem Autismus» (IFI) vor. Im November 2022 erfolgt die Anpassung der Verordnung zum Pilotversuch bzw. die Verlängerung, weil der Entscheid über die ordentliche Aufnahme in die Gesetzgebung Ende 2022 noch nicht gefällt werden kann. Gemäss Aussage des Bundesrates in seiner Antwort auf die Interpellation Roth sind zur Umsetzung der Frühintervention drei neue Zentren in den Kantonen Tessin, Waadt und Thurgau aufgebaut worden, zwei weitere (Bern, Winterthur) befänden sich in Planung.

Beratung und Koordination: Der Kinderrechtsausschuss formuliert erstmals 2021 die Empfehlung an die Schweiz, sie solle sicherstellen, dass Eltern von Kindern mit Behinderungen weiterhin geschult, beraten und unterstützt werden (Nr. 34 d.) und dass zur Entwicklung und Sicherstellung dieser Angebote genügend Mittel zur Verfügung gestellt werden (Nr. 34 c.). Dieser Massnahmenbereich entspricht im Bundesratsbericht 2018 dem dritten und wohl wichtigsten Handlungsschwerpunkt, da er massnahmenübergreifend zum Tragen kommt. Verfolgt wird damit das Ziel, dass «Eltern, Angehörige, Selbstbetroffene (und Institutionen) […] eine ausreichende, koordinierte und kontinuierliche Beratung, Unterstützung und Begleitung für Therapien und Probleme in der Familie, Freizeit, Schule, Ausbildung, Arbeit und Wohnen durch Fachpersonen vor[finden]». Formuliert werden 4 Massnahmen die alle unter dem Titel «Aufbau eines Kompetenzzentrums» laufen, davon drei mit Priorität 1 (Professionelle Beratung von Betroffenen, kontinuierliche, lebenslange Begleitung im Sinne eines Case Managements, Vernetzung aller Akteur*innen des Systems und Entwicklung einer gemeinsamen Autismus-Vision). Roth stellt in ihrer Interpellation 2021 die Frage, wie die Zusammenarbeit und Koordination aller involvierten Akteur*innen als zentrales Element für die erfolgreiche Umsetzung sichergestellt wird und welche Rolle dabei der Bund übernehme. Aus der Antwort des Bundesrats wird deutlich, dass er sich einzig in der Sicherstellung der Frühintervention in der Verantwortung sieht. Für Massnahmen, die in der Kompetenz anderer Akteur*innen liegen (und das sind die meisten), sieht der Bundesrat keine Verantwortung des Bundes und sieht auch keine regelmässige Überprüfung der Umsetzung vor. Die Entwicklung in den Kantonen werde jedoch mitverfolgt, indem das Thema «Autismus» im «Nationalen Dialog Sozialpolitik zwischen Bund und Kantonen» immer wieder traktandiert würde. Ausserdem würde mit der Weiterentwicklung der IV (WE IV), die per 1.1.2022 in Kraft getreten ist, die Beratung und Begleitung für alle Versicherten während des ganzen IV-Verfahrens verstärkt, wovon auch Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) profitieren würden. Mit der WE IV erhalte die IV die Möglichkeit, sich finanziell an kantonalen Angeboten zu beteiligen, die Jugendliche mit Interventionsbedarf beim Übergang aus der Regelschule in die berufliche Ausbildung unterstützen, was auch der Koordination zuträglich sei. Im Kontext der vorschulischen und schulischen (obligatorischen) Bildung werde die Zusammenarbeit und die Koordination der involvierten Akteur*innen durch die kantonalen Stellen/Ämter für Sonderpädagogik sichergestellt (vgl. Sonderpädagogik-Konkordat und kantonale Sonderpädagogik-Konzepte). Im Vorschulalter übernehmen die heilpädagogischen Dienste (HPD) diese Funktion und arbeiten zudem eng mit den Familien zusammen. Nach Bedarf gewährleisten die HPD auch die Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten und Diensten wie zum Beispiel medizinisch-therapeutische Massnahmen, Kleinkindbetreuung, Sozialarbeit, Kinderschutz. Besuchen die Kinder eine Regelschule (Regelklasse oder Sonderklasse) obliegt die Koordination dem pädagogisch-therapeutischen Personal (schulische Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik, Schulpsychologie, Schulsozialarbeit) und/oder der Schulleitung; besuchen die Kinder eine Sonderschule, übernimmt diese die Koordination. Der Bundesrat weist weiter darauf hin, dass der Dachverband Autismus Schweiz in Lausanne und Zürich zusätzliche Beratungsstellen eingerichtet habe, um den steigenden Bedarf an Beratungen zu decken.

Ausbildung der Fachkräfte: Der UN-Kinderrechtsausschuss stellt 2015 einen Mangel an spezifisch ausgebildeten Fachkräften fest, die mit ASS-Kindern und Jugendlichen arbeiten (Nr. 54 d.), fordert die Intensivierung der Bemühungen im Bereich der Ausbildung (Nr. 55 e.) und wiederholt diese Forderung auch sechs Jahre später (Nr. 34 b.) - insbesondere in Bezug auf die Lehrkräfte im Regelschulbereich. Der Bundesrat widmet in seinem Bericht 2018 der Ausbildung von Akteur*innen ein eigenes Kapitel (S. 39) im Rahmen der «weiteren Handlungsfelder» und formuliert 6 Massnahmen, davon 4 mit erster Priorität, die sich auf die Gewährleistung von Referenzpersonen für ASS pro Kanton sowie dem Aufbau der Fachkompetenz der Institutionen beziehen. Die Integration des Themas ASS in die Grundausbildungen und Weiterbildungen ist mit Priorität 2 eingestuft. In seiner Antwort auf die Interpellation Roth nimmt der Bundesrat dazu keine Stellung. Die Tatsache, dass bei den eingangs erwähnten Skandalen in Institutionen in den Kantonen Genf, Waadt und Graubünden die mangelnde fachspezifische Ausbildung des Personals in jedem Fall Thema war, deutet darauf hin, dass diesbezüglich insbesondere in der institutionellen Betreuung weiterhin Handlungsbedarf besteht.

Behandlungsmethoden: Der UN-Kinderrechtsausschuss thematisiert im 2015, dass in der Schweiz, insbesondere im Kanton Genf, die Behandlungsmethode des «Packings» (Einwickeln in kalte, nasse Laken) angewendet werde, die einer Misshandlung gleichkomme (Nr. 54 e.). Die Forderung nach einem gesetzlichen Verbot wiederholt der Ausschuss auch 2021 (Nr. 55. F und Nr. 34. d.), u.a. mit dem Hinweis darauf, dass die Spezialisierung von Fachkräften im Gesundheitswesen auf ASS zu fördern sei. Entsprechende Behandlungsmethoden werden ausserdem durch Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Folterverbot) und Art. 15 BRK (Freiheit von Folter sowie grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) untersagt. Weder der Forschungsbericht (2015), noch der Bericht und Massnahmenplan des Bundesrats gehen auf diese Problematik ein. Darauf, dass es in Bezug auf die Behandlung von Autist*innen insbesondere in Institutionen immer noch Missstände gibt, deuten die eingangs erwähnten Skandale.

Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen: Die vom UN-Kinderrechtsausschuss angebrachten Feststellungen und Empfehlungen in diesem Bereich sind umfassend. So stellt der Ausschuss 2015 fest, dass in der Schweiz keine Auskunft darüber gegeben werden kann, welche Massnahmen getroffenen worden sind, um zu verhindern, dass Kinder mit Behinderungen in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht werden und ihnen willkürlich das Recht abgesprochen wird, von ihren Eltern besucht zu werden (Nr. 54 f.). Der Ausschuss fordert, hier alle notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um dies zu verhindern (Nr. 55. g.). Sechs Jahre später stellt der Ausschuss fest, dass «Kinder mit Behinderungen, einschließlich autistischer Kinder, […] manchmal noch immer in Heimen untergebracht [werden], manchmal zusammen mit Erwachsenen.» (Nr 33 c.). Der Ausschuss formuliert diesbezüglich folgende Empfehlungen:

  • das Angebot an angemessenen Unterstützungsdiensten für Kinder mit Behinderungen soll ausgebaut werden, um die Unterbringung solcher Kinder in speziellen Zentren zu verhindern; (Nr. 34 e.)
  • verstärkte Massnahmen sollen ergriffen werden zur Verringerung der Anzahl Tage, die Kinder in Heimen verbringen, u. a. durch Bereitstellung ausreichender Mittel für Kinderschutzdienste und für die Ausbildung, Unterstützung und Beratung von Pflege- und Adoptiveltern; (Nr. 31. c.)
  • Es soll sichergestellt werden, dass Kinder in alternativer Betreuung bei Entscheidungen angehört werden, die sie während ihres gesamten Aufenthalts betreffen, und dass die zuständigen Behörden über die technischen Möglichkeiten verfügen, die erlauben, die Ansichten der Kinder in alternativer Betreuung zu respektieren; (Nr. 31. d.)
  • Es soll weiter sichergestellt werden, dass Kinder nur dann von ihrer Familie getrennt werden, wenn dies zu ihrem Wohl notwendig ist und einer gerichtlichen Überprüfung gemäss Artikel 9 Absatz 1 der Kinderrechtskonvention unterliegt, und dass Armut und Behinderungen, einschließlich Autismus-Spektrum-Störungen, niemals ein Grund dafür sind, ein Kind aus der elterlichen Obhut zu nehmen.» (Nr. 31. e.)

Der Bundesrat geht in seinem Bericht nicht explizit auf die Frage ein, wie die Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen oder Heimen vermieden werden könnte. Es werden hingegen Massnahmen hinsichtlich Wohnen und Entlastungsmassnahmen formuliert, diese fallen aber alle ausserhalb der Handlungsschwerpunkte. Nur eine Massnahme wird als prioritär betrachtet, nämlich die Anpassung der bestehenden Angebote zur Unterstützung des selbständigen Wohnens auf die Bedürfnisse von Personen mit ASS. Die Entwicklung von neuen Angeboten sowie Massnahmen zur Entlastung von Familien sind mit Priorität 2 oder 3 versehen. Roth bezieht sich in ihrer Interpellation auf die in der Studie «Versorgungssituation psychisch erkrankter Personen in der Schweiz» aus dem Jahr 2016 festgestellten Lücken in der Versorgung von Menschen mit Autismus (fehlende Anschlussangebote beim Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenbereich, fehlendes spezifisches Know-how bei den Fachpersonen und lange Wartefristen) und möchte Informationen über quantitative und qualitative Daten darüber, wie die Situation mit den im Bericht definierten Massnahmen für Menschen mit ASS konkret verbessert werden können. Die Antwort des Bundesrats lautet: «Hierzu liegen keine spezifischen Daten vor. Basierend auf dem im Jahr 2016 vom Bundesrat verabschiedeten Bericht in Umsetzung des Postulats Stähelin 10.3255 «Zukunft der Psychiatrie in der Schweiz» setzt sich der Bund insbesondere für den Ausbau der intermediären Versorgungsangebote (Tageskliniken, mobile psychiatrische Dienste) ein, welche auch für Menschen mit ASS von grosser Bedeutung sind.»

Diskrepanz zwischen Prioritäten des Bundes und Bedürfnissen der Betroffenen

Die Reaktionen von Betroffenenvereinigungen auf den ersten Bericht des Bundesrates im Jahr 2015 sind von Enttäuschung geprägt , weil keine Sofortmassnahmen entschieden wurden. Auch die Tatsache, dass der Bund seine Zuständigkeit für die Entwicklung einer gesamtschweizerischen Autismusstrategie ablehnt – obwohl er kurz zuvor eine für Palliative Care und Demenz verabschiedet hatte – stösst auf Kritik. Er begründet dies mit der Tatsache der vielen verschiedenen involvierten Akteur*innen. Gleichzeitig ist die Koordination der Akteur*innen genau deswegen als Handlungsschwerpunkt definiert. Der Bund unternimmt denn auch keine Anstrengung für die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für den Aufbau eines Autismus-Registers zur Verbesserung der Datenlage. Ohne zentrale Koordination und Überprüfung der Umsetzung der Massnahmen sowie ohne zentral koordinierte Datengrundlage ist davon auszugehen, dass die Situation weiterhin unübersichtlich und das Tempo des Fortschritts langsam bleibt.

Die Schwerpunktsetzung des Bundes in den Bereichen Früherkennung, Diagnostik und Frühintervention überschneidet sich nur in einem kleinen Bereich mit den Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschusses. In Anbetracht der Tatsache, dass in weniger als einem Drittel der ASS-Betroffenen eine schwere und früh erkennbare ASS-Form auftritt, umfassen insbesondere die Bemühungen im Bereich der Frühintervention – für dessen Sicherstellung sich der Bund zuständig sieht – nur eine Minderheit der Betroffenen. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Betroffenen, insbesondere jene im Bereich des Autismus-Spektrums, die als «hochfunktional» gelten, spät auffallen und in dessen Bereich auch die Diagnosen weiterhin ansteigen, nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Zusätzlich fallen die Massnahmen im Bereich der Unterstützung und Entlastung des Familiensystems sowie des Wohnens weder in den Handlungsschwerpunkt, noch werden sie prioritär eingestuft. Dies obwohl im Forschungsbericht 2015 festgestellt wurde, dass «für die Personengruppe der – insbesondere jungen – Erwachsenen mit einer leichteren Ausprägung der Störung insgesamt ein deutlicher Mangel an geeigneten Konzepten, die dem individuellen Unterstützungsbedarf beim Übergang von der Familie in das selbstständige oder begleitete Wohnen sowie in der Alltagsgestaltung angemessen gerecht werden, [besteht] und «die Verantwortung für die Finanzierung bei diesen neuen Wohnformen häufig unklar [ist]». Die wissenschaftlichen Expert*innen widmen denn in ihrem Forschungsbericht auch eine von acht Empfehlungen den familienunterstützenden und für die Autonomieentwicklung förderlichen Angeboten, denen auf der Ebene der Konzeptentwicklung wie auch auf Ebene der praktischen Umsetzung eine höhere Priorität zukommen solle (Empfehlung 7). Ergänzt wird diese Empfehlung mit einer flankierenden Empfehlung 7a, die fordert, dass «für eine gelingende Gestaltung des Übergangs in ein selbstständiges Leben […] für die Personengruppe der jungen Erwachsenen mit einem Asperger-Syndrom bzw. High-Functioning-Autismus bedarfsorientiert adäquate Wohn- und Assistenzmodelle entwickelt und realisiert werden [sollen]». Im Bereich Wohnen wird jedoch im Bericht des Bunderates 2018 nur die Anpassung der bestehenden Angebote auf die Bedürfnisse von Menschen mit ASS als prioritär betrachtet.

Weiter ist nicht nachvollziehbar, warum Entlastungsmassnahmen – das sind Massnahmen zur Entlastung des Familiensystems – nur im «geschützten» Bereich, d.h. bezogen auf Personen mit schweren Formen der ASS, aufgeführt werden und nicht auch im Rahmen der Massnahmen für sog. hochfunktionale ASS-Betroffene. Denn gerade dort soll vermieden werden, dass diese Personen aus dem System herausfallen. Schliesslich ist der ganze Bereich des Wohnens im Lichte der besonderen Eigenheiten von Menschen mit ASS zu betrachten, die besondere Mühe mit Veränderungen in den täglichen Routinen, im Wohnumfeld und bei Bezugspersonen haben. Vor diesem Hintergrund sind auch vorgeschlagene Entlastungsmassnahmen wie der Ausbau von Kurzzeitunterbringungen für Kinder und Erwachsene (Nr. 19, S. 37) schwer nachzuvollziehen. Welche Massnahmen sind also vorgesehen in Situationen wie beispielsweise jener von Theo W., in der ein hochfunktionaler Jugendlicher mit ASS in eine Krise gerät und das Familiensystem überfordert ist? Weswegen ist die Einweisung in die Psychiatrie eine Massnahme, die von Fachpersonen in dieser Situation empfohlen und offensichtlich immer wieder eingeleitet wird?

Die Tatsache, dass vergleichsweise viele Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschuss in den Bereich der institutionellen Betreuung fallen, lässt aufhorchen. Hier stellt sich die Frage, inwiefern die vom Bund vorgeschlagenen Massnahmen tatsächlich mit den Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschuss einhergehen und dasselbe Ziel verfolgen. Nämlich jenes Ziel, dass Kinder mit ASS nur wenn es dem Kindswohl nicht zuträglich ist, aus dem Familiensystem herausgenommen werden und es zu vermeiden gilt, dass diese Kinder in spezielle Zentren und v.a. psychiatrische Einrichtungen eingewiesen werden. Im Fall von Theo W. ist die Situation nach der Einweisung in die Psychiatrie eskaliert und auch in anderen Fällen kam es nicht zur Verbesserung der Situation für den bzw. die Betroffene*n. Auch die eingangs erwähnten Skandale in Institutionen in Genf, Waadt und Graubünden deuten darauf hin, dass der Handlungsbedarf insbesondere im Bereich der institutionellen Betreuung sehr hoch ist. Deswegen ist es besorgniserregend, dass diesem Bereich im Massnahmenkatalog des Bundes nicht oberste Priorität zugeordnet wird. Vielmehr ist die Antwort des Bundesrats auf die Nachfrage von Roth, welcher Handlungsbedarf aus Sicht des Bundes bestehe, um die Situation von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung nachhaltig zu verbessern folgende: «Arbeiten betreffend die Verbesserung der Situation von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sind angelaufen und auf Kurs. Dank des regelmässigen Austauschs mit den Kantonen wird die weitere Entwicklung beobachtet.»

Weiterführende Links: