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Urteil des Bundesgerichts zur Kostenbeteiligung der Eltern für einen integrativen Schulunterricht

06.01.2015

Stellt der Besuch einer Regelschulklasse für ein behindertes Kind die pädagogisch sinnvollste Lösung dar, so müssen die Eltern nicht für die benötigte Zusatzbetreuung aufkommen. Dies entschied das Bundesgericht am 4. Dezember 2014 mit drei gegen zwei Stimmen im Falle eines autistischen Jungen aus dem Kanton Aargau.

Damit bekräftigen die Richter/innen ihren Entscheid BGE 138 I 162 vom 13. April 2012, in welchem sie festhielten, dass behinderte Kinder möglichst eine Regelschule und nicht eine Sonderschule besuchen sollten.

Sachverhalt

Der heute 15-jährige Junge leidet an einer Autismus-Störung und wurde im Jahr 2009 in Brugg in eine Regelklasse eingeschult. Von Anfang an unterstützte ihn eine Assistenzlehrperson mit 18 Lektionen pro Woche. 2012 entschied die Schulpflege der Gemeinde, dass das Kind auf eine Vollzeit-Betreuung angewiesen sei.

Das Recht des Kantons Aargau sieht die Möglichkeit der Integration von behinderten Kindern in der Regelschule vor, wobei wöchentlich maximal 18 Stunden Assistenzunterricht bewilligt werden können. Der Junge sollte jedoch auch nach dem Entscheid der Schulpflege nicht in die Sonderschule wechseln, sondern  in der Regelklasse verbleiben, allerdings mit einer vollumfänglichen Betreuung. Die Schule legte fest, dass die Eltern diejenigen Assistenzlektionen bezahlen müssen, die über die 18 Stunden hinausgehen. Gegen die Überwälzung der Kosten beschwerten sich die Eltern erfolglos beim Schulrat, dem Regierungsrat und schliesslich dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau.

Das Bundesgericht gab den Eltern Recht. Die Richter/innen verweisen in ihrem Entscheid auf Art. 19 der Bundesverfassung (BV) und Art. 62 BV, welche allen Kindern einen Anspruch auf unentgeltlichen Schulunterricht einräumen. Gemäss einer Mehrheit der Bundesrichter/innen bedeutet dies, dass eine finanzielle Beteiligung der Eltern an der Betreuung des behinderten Kindes in einer Regelklasse verfassungswidrig wäre.

Kommentar

Aus menschenrechtlicher Sicht ist der Entscheid des Bundesgerichts zu begrüssen. Die Richter/innen rücken das Kindeswohl ins Zentrum, da im vorliegenden Fall der Besuch der Regelklasse von allen Beteiligten als die pädagogisch beste Lösung beurteilt wurde. Seit Mai 2014 gilt die UNO-Konvention zum Schutz von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz. Der Wortlaut von Art. 24 der Konvention lässt keinen Zweifel daran, dass die Integration behinderter Kinder in eine Regelklasse dem Besuch einer Sonderschule vorzuziehen ist. Das Ziel ist die schulische und gesellschaftliche Integration der Kinder sowie die gesellschaftliche Anerkennung von Vielfalt und Heterogenität in Bildung und Entwicklung.

Die zukünftigen Auswirkungen des Urteils lassen sich nur schwer abschätzen. Es ist insbesondere unklar, ob sich aus dem Urteil ein Rechtsanspruch für behinderte Kinder auf Besuch einer Regelklasse ableiten lässt, und zwar ungeachtet der finanziellen Folgen für die Schule. Wäre dies der Fall, so könnten die Kantone zukünftig kaum noch frei entscheiden, unter welchen Bedingungen sie behinderten Kindern den Zugang zu einem integrativen Schulunterricht ermöglichen und finanzieren wollen, bzw. wann eine Betreuung in Sonderschulen vorzuziehen ist.

Dokumentation