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Nichtbehandelte Asylgesuche von Flüchtlingen aus dem Irak: BFM hat rechtswidrig gehandelt

16.01.2012

Die Schweiz hat Asylgesuche von Irakern, welche in den Jahren 2006 bis 2008 in den Botschaften Syriens und Ägyptens eingereicht wurden, nie behandelt. Zurückzuführen ist dies auf eine Weisung des Bundesamts für Migration (BFM) aus dem Jahre 2006. Mit dieser Weisung habe das BFM gegen geltende Gesetze verstossen, kommt nun eine Untersuchung im Auftrag des Bundesrates zum Schluss.

Rechtswidrig war das Vorgehen des BFM demnach, weil es Verfahrensgarantien der Bundesverfassung und Verfahrensvorschriften der Asylgesetzgebung verletzt hat. Die Untersuchung kommt ferner zum Schluss, dass das BFM, als es die Weisung weitergab, habe davon ausgehen dürfen, dass gesuchstellende Personen in Syrien und Ägypten generell einen effektiven Schutz hätten finden können und dass das in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verankerte Non-Refoulement-Prinzip grundsätzlich beachtet worden sei. Schweizerische NGOs erinnern derweil daran, dass insbesondere für Frauen die Lage in den dortigen Flüchtlingslagern miserabel war, was auch dem BFM bekannt gewesen sein musste.

Tausende Asylgesuche in schweizerischen Botschaften gestapelt

Im Zuge des Zweiten Irakkriegs und des darauffolgenden bürgerkriegsähnlichen Zustandes flüchteten ab 2003 viele Tausend Iraker in die benachbarten Staaten. Die schweizerischen Botschaften in Syrien und Ägypten sahen sich zwischen 2006 bis 2008 mit ca. 7'000 bis 10'000 Asylgesuchen von irakischen Staatsangehörigen konfrontiert. Diese Gesuche wurden weder vor Ort behandelt, noch an das BFM weitergeleitet. Verantwortlich für die Schubladisierung der Gesuche war eine am 20. November 2006 vom BFM herausgegebene Weisung, solche Asylgesuche nicht zu behandeln.

Die Nichtbehandlung der Asylgesuche war im Spätsommer 2011 bekannt geworden. Damals wurde die heutige Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), Simonetta Sommaruga, über die Sonderregelung informiert. Daraufhin beauftragte sie Ende August 2011 alt Bundesrichter Michel Féraud mit einer externen Untersuchung. Zugleich stoppte sie die sich unterdessen im Gange befindende Abarbeitung der Gesuche. Mit der Untersuchung sollte aufgezeigt werden, ob geltendes Recht oder Informationspflichten verletzt worden sind und wie die restlichen Anträge rechtskonform bearbeitet werden können. 

Keine Folgen für die Verantwortlichen?

Der nun veröffentlichte Bericht vom 22. Dezember 2011 kommt zum Schluss, dass die Sonderregelung des BFM rechtswidrig war, auch wurden Informationspflichten verletzt. Doch kommt laut dem Verfasser der Untersuchung weder eine disziplinarische Verantwortlichkeit noch ein strafrechtliches Verfahren in Frage. Alt Bundesrichter Michel Féraud zieht dafür in seinem Bericht den politischen Schluss, dass die Vorkommnisse hauptsächlich auf die geltende gesetzliche Regelung zurückzuführen seien: «Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem grossen Zustrom von Asylsuchenden in Syrien und Ägypten erweist sich die in den Art. 19 Abs. 1 und 20 AsylG vorgesehene Möglichkeit, dass jede schweizerische Vertretung Asylgesuche entgegennimmt und behandelt, als diskussionswürdig.» Er empfiehlt deshalb, das Botschaftsverfahren abzuschaffen.

Damit spielt er dem Bundesrat, der das sogenannte Botschaftsverfahrens im Rahmen der aktuellen Revision des Asylgesetzes abschaffen will, in die Hände. Dieser hält in der Erläuterung zum entsprechenden Geschäft fest, dass die übrigen europäischen Staaten das sogenannte Botschaftsverfahren nicht kennen, was zu einer ungleichen Lastenverteilung der Asylgesuche zuungunsten der Schweiz führe. Bei Schweizer Vertretungen und beim BFM würden durch die Bearbeitungspflicht sämtlicher eingereichten Gesuche erhebliche Personal- und Finanzressourcen gebunden. Die Abschaffung des Botschaftsverfahrens hat der Ständerat am 12. Dezember 2011 beschlossen. Der Nationalrat muss diesen Entscheid noch bestätigen.

NGOs: Lage in den Flüchtlingslagern war sehr schwierig

Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl – und Ausländerrecht kritisiert auf ihrer Website die Schlussfolgerung Férauds, dass das rechtswidrige Verhalten der involvierten Behörden auf das Botschaftsverfahren zurückzuführen sei. Sie schreibt, am Botschaftsverfahrens sei festzuhalten. Stattdessen schlägt sie vor, eine Aufstockung des Botschaftspersonals in Erwägung zu ziehen, um die eingehenden Gesuche rechtmässig behandeln zu können.

Ähnlich tönt es auch bei andern NGOs. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hält unter dem Titel «Skandal ohne Folgen» fest, dass aus rechtlicher Sicht nicht geklärt sei, ob die strafrechtlich relevante Nichtbehandlung der Asylgesuche bereits verjährt sei und ob die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können.

Amnesty International und die SFH gehen ferner auf die genaueren Umstände ein, in denen die irakischen Kriegsflüchtlinge 2006 und später in den Flüchtlingslagern in Syrien leben mussten. Dem BFM müsse bekannt gewesen sein, dass im fraglichen Zeitraum in Syrien Kriegsflüchtlinge aus dem Irak durch die prekären humanitären Verhältnisse zur Prostitution gezwungen wurden. Medien haben gemäss Darstellung der SFH damals einen wahren Sex-Tourismus aus der gesamten Region am arabischen Golf beschrieben. Der britische «Independent» habe in einem Bericht vom 24. Juni 2007 von einer Million irakischer Kriegsflüchtlinge in Syrien gesprochen, darunter etwa 50‘000 Frauen und minderjährige Mädchen, die sich in Nachtklubs gegen ihren Willen verkaufen mussten.

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