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Besuchsrechte in Haft: eine Schlüsselrolle bei der Prävention von psychischen Erkrankungen und Suiziden im Gefängnis

25.01.2024

Das Besuchsrecht von inhaftierten Personen leitet sich aus dem Verbot der Folter und dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ab. Diese Rechte wiederum werden durch nationale und internationale Regelwerke geschützt. Die Aufrechterhaltung familiärer und sozialer Bindungen während einer Inhaftierung ist für die psychische Gesundheit der betroffenen Personen von entscheidender Bedeutung und trägt dazu bei, das Suizidrisiko zu verringern und damit das Recht auf Leben zu garantieren. Die Behörden müssen diesen präventiven Aspekt beachten, um die geschützten Rechte zu gewährleisten und gleichzeitig eine Balance zum staatlichen Auftrag des Sicherungsprinzips zu finden.

Die schwerwiegenden Folgen einer Inhaftierung für die psychische Gesundheit

Eine Inhaftierung fördert das Auslösen, die Entwicklung oder eine weitere Verstärkung bestehender psychiatrischen Erkrankungen. Verschiedene Forschungsergebnisse belegen, dass die Anzahl psychischer Erkrankungen, einschliesslich Depressionen, Suizidalität und anderer psychischer Störungen wie Schizophrenie, bei inhaftierten Personen weitaus höher liegt als bei der restlichen Bevölkerung. 2012 wurde eine weltweite Studie durchgeführt, in der die Gesundheit von Inhaftierten in über 30’000 Gefängnissen verglichen wurde. Die Studie ergab, dass eine von sieben Personen an einer schweren psychischen Erkrankung leidet und dass die Gefängnisumgebung einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit von Häftlingen hat.

Die psychische Gesundheit von Inhaftierten hängt direkt mit den Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung der Beziehungen zu ihren Angehörigen ab. Die Förderung von Kontakten zur Aussenwelt ist ein Mittel, um ein Abgleiten in die soziale Isolation zu verhindern und ist für die Resozialisierung von entscheidender Bedeutung. Der Zusammenhang zwischen dem Einfluss der sozialen Unterstützung und der Entwicklung von psychischen Erkrankungen im Gefängnis muss daher von den Behörden bei der Anordnung von Massnahmen mitberücksichtigt werden: Die Massnahmen müssen verhältnismässig sein und die Einschränkungen der persönlichen Freiheit dürfen nicht zu stark sein. Denn die Forschung bestätigt die Gefahr, dass sich die psychische Gesundheit von Häftlingen verschlechtert, dass Häftlinge zur Isolation neigen, dass sie zu wenig Kontakt mit der Aussenwelt haben und dass Suizidgefahr besteht. Eine Studie zu den Risikofaktoren im Zusammenhang mit den mehr als 35’000 Suizidfällen in Gefängnissen zwischen 2007 und 2020 analysierte, zeigte den Mangel an sozialer Unterstützung als einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf die Höhe der Suizidrate. 47% der Insassen, die sich das Leben genommen hatten, hatten keinen einzigen Besuch erhalten.

Das Besuchsrecht: entscheidend für die Achtung der Menschenrechte von inhaftierten Personen

Die Behörden müssen entsprechend ein Gleichgewicht finden zwischen den Sicherheitsmassnahmen, die sie bei Besuchen anordnen und der Notwendigkeit, ein Minimum an Kontakt zur Aussenwelt zu gewährleisten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist der Ansicht, dass eine zu starke Einschränkung des Besuchsrechts eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder sogar eine Form der Folter gemäss Artikel 3 EMRK darstellen kann (Ilascu und andere v. Moldawien und Russland), aber auch eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das durch Artikel 8 EMRK garantiert wird (El Masri c. ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien). Das in Artikel 2 EMRK geschützte Recht auf Leben findet Anwendung, wenn eine «tatsächliche und unmittelbare Suizidalität» besteht. Dabei sind die Behörden verpflichtet, Massnahmen zum Schutz des Lebens der Personen zu ergreifen, für die sie verantwortlich sind (Keenan c. Vereinigtes Königreich), die über Überwachungsmassnahmen oder die Entfernung gefährlicher Gegenstände hinausgehen (Renolde c. Frankreich), d.h. Massnahmen, die nach Ansicht des EGMR «vernünftigerweise diese [Suizid-] Gefahr beseitigt hätten» (S.F. c. Schweiz). Da die Besuche ein konkretes Mittel zur Verminderung dieses Risikos darstellen, hat der Staat hier eine Verantwortung.

Gemäss Artikel 24.1 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze sowie der Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats sollten inhaftierte Personen «so oft wie möglich» Besuche empfangen können. Obwohl eine Mindestzahl von Besuchen nicht festgelegt ist – dieser Parameter hängt weitgehend von der Staatenpraxis ab – müssen die Behörden den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten. In seinem Bericht 2021 hat das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) darauf hingewiesen, dass der Kontakt mit der Aussenwelt für Minderjährige im Freiheitsentzug besonders wichtig sein kann, da «viele die Gefahr laufen, Verhaltensstörungen zu entwickeln, die mit einer emotionalen Deprivation oder der Unfähigkeit, in Gesellschaft zu leben, zusammenhängen» (S. 62).

Angesichts der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung sozialer Kontakte steht der den Staaten zugestandene Ermessensspielraum bei der Einschränkung der Besuchsrechte im Vordergrund der Suizidprävention in Gefängnissen. Um die Menschenrechte inhaftierter Personen - insbesondere das Recht auf Leben, Familie und Privatsphäre - zu gewährleisten, müssen die Besuche von Angehörigen als Teil des Rechts auf eine angemessene medizinische und psychiatrische Behandlung betrachtet werden.

Januar 2024, Monika Trajkowska

Link zum Artikel in sui generis

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