22.11.2022
Kulturimperialismus bezeichnet im weitesten Sinne die ökonomische, politische oder gewaltvolle Verdrängung und Zerstörung von Kulturen durch Gesellschaften mit Vormachtstellung. Dieses Machtverhältnis kann sich in unterschiedlichen Formen manifestieren. Zum Beispiel in der Verbreitung der vorherrschenden Populärkultur, der Schaffung von wirtschaftlichen Abhängigkeiten, des Aufzwingens eines politischen Modells oder in der Übertragung moralischer Normen. Auch die Menschenrechte und deren Universalität werden im Zusammenhang mit dem Kulturimperialismus diskutiert.
Postkoloniale Perspektiven
Die Kritik, Menschenrechte würden eine Form des Kulturimperialismus darstellen, ist eng mit der europäischen Kolonialgeschichte verknüpft. Anfang des 20. Jahrhunderts bestand etwa 85 Prozent des globalen Territoriums aus europäischen Kolonien, Protektoraten und Dependancen. Obwohl diese Dominanz von brutalen Plünderungen, Genoziden und der Etablierung des transnationalen Sklavenhandels begleitet war, wurde der Kolonialismus damals als «Zivilisierungsmission» präsentiert und gerechtfertigt.
Auch wenn die Menschenrechte im Westen ursprünglich als Antwort auf konkrete Unrechtserfahrungen entstanden sind, gingen die meisten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dieser Zeit von Europa aus. Auch heute resultieren die politischen, sozialen und kulturelle Konflikte in vielen Ländern auf der Welt aus dem Erbe des Kolonialismus. Recht sowie Rechtssetzung – insbesondere die Universalisierung des Völkerrechts – dien(t)en stets auch als Instrumente (post-)kolonialer Herrschaft. Die Legitimierungsstrategie des Kolonialismus – die gewaltvolle Darstellung der Menschen in Asien, Afrika und Südamerika als «Anders» und die Konstruktion eines überlegenen europäischen oder nordamerikanischen Selbst – wird schliesslich auch im heutigen Menschenrechtsdiskurs noch reproduziert.
Koloniale Narrative finden sich in der Menschenrechtsrethorik etwa in unterschiedliche Kategorisierungen («entwickelt» vs. «unterentwickelt», «globaler Norden» vs. «globaler Süden»). Damals wie auch heute berufen sich europäische Länder (und die USA) zudem auf die Menschenrechte, um Staaten in Afrika, Asien und Südamerika anzuprangern. Nicht selten werden schliesslich ehemals kolonisierte Gesellschaften durch pädagogisch-politische Projekte entmündigt oder die Machtinteressen von vorherrschenden Staaten anhand der Instrumentalisierung der Menschenrechte – etwa im Rahmen humanitärer Interventionen – durchgesetzt.
Der Helfen-Diskurs
Das Anliegen westlicher Menschenrechtspolitiken, die Lebensverhältnisse aller Menschen zu verbessern, überzeugt auf den ersten Blick. Jedoch sind es nicht selten die von westlichen Geldgebenden mitgetragenen Strukturanpassungsprogramme, welche Menschenrechtsverletzungen – etwa Kinderarbeit oder Löhne unterhalb der Mindestlohngrenze – zur Folge haben.
Die unkritische Solidarität und der eurozentristische Blickwinkel zu globaler Gerechtigkeit verdecken zudem immer wieder ökonomische und geopolitische Interessen. Ein hegemonialer Menschenrechtsdiskurs wird etwa als Rechtfertigung herangezogen, um in afrikanische, asiatische oder südamerikanische Staaten einzugreifen. Vernachlässigt wird dabei insbesondere, dass die Ursprünge des europäischen Reichtums nicht (allein) die Fortschritte und Erfolge der europäischen Aufklärung sind, sondern massgebend im Kolonialismus gründen. Die europäische «Helfen-Politik» unter Berufung auf die Menschenrechte muss den historischen Zusammenhang zwischen andauernder kolonialer Ausbeutung und den normalisierten europäischen Privilegien deshalb stets kritisch Reflektieren.
Kulturelle Vielfalt
Ist es möglich für die (Universalität der) Menschenrechte einzutreten, ohne gleichzeitig Kulturimperialismus zu betreiben und die Vielfalt der Kulturen abzuwerten? Und lässt sich die Pluralität von Kulturen anerkennen, ohne die bestehenden internationalen Menschenrechtsstandards abzuschwächen oder gänzlich preiszugeben?
Die Vereinbarkeit von kultureller Vielfalt und den Menschenrechten beschäftigt die Philosophie und Rechtswissenschaft seit geraumer Zeit. Dass Staaten verpflichtet sind, bei der Anwendung der Menschenrechte ihre kulturellen Besonderheiten zu respektieren, ist sodann seit der Weltkonferenz über die Menschenrechte in Wien von 1993 ein anerkannter Grundsatz. Internationale Übereinkommen zum Schutz der Rechte von Minderheiten sowie verschiedene regionale Menschenrechtsabkommen zielen zudem darauf ab, die Wertvorstellungen und Praktiken vor Ort mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu vereinen.
Obwohl sich das Spannungsverhältnis zwischen Universalitätsanspruch der Menschenrechet und der kulturellen Vielfalt nicht endgültig auflösen lässt, sind die Anliegen, welcher die kulturelle Pluralität an die Menschenrechte stellt, in jedem Fall sehr ernst zu nehmen. In dem Sinne ist die Universalität der Menschenrechte im Kontext des Kulturimperialismus kritisch zu hinterfragen und das Spannungsverhältnis zum kulturellen Pluralismus in einem interkulturellen Menschenrechtsdialog zu reflektieren. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass die dominanten Wahrnehmungsformen und Geschichtserzählungen der Menschenrechte heute immer noch vorwiegend westlich sind.
Weiterführende Informationen
- Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen
Heiner Bielefeldt, 2015 - Der «Westen» und die Menschenreche, Abschied vom Ursprungsmythos einer Idee
Eva Kalny, 2008 - Die Universalität der Menschenrechte überdenken
María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, 8. Mai 2020