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Psychiatrische Einrichtungen: Zwangsmassnahmen bleiben problematisch

11.12.2023

Noch heute sind in der Schweiz Menschen mit Behinderungen wiederholt mit Zwangsmassnahmen, Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen oder Zwangsmedikation konfrontiert. Der Einsatz von Zwangsmassnahmen verstösst jedoch gegen das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte «Verbot von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe». Der UN-Behindertenrechtsausschuss empfiehlt seit vielen Jahren die Unterbindung jeglicher Form von medizinischer Zwangsbehandlung oder Nötigung.

Beitrag von Véronique Rota und Zoé Huber (Law Clinic der Universität Genf)

Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen - die die Wahrnehmung, Gedanken und Gefühle verändern - sehen sich oft zahlreichen Schwierigkeiten und vielfältigen Formen von Diskriminierung ausgesetzt. Diese Probleme bildeten integraler Bestandteil des Reflexionsprozesses, der schliesslich zur Erarbeitung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, BRK) führte. Die Konvention will unter anderem sicherstellen, dass Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ihre Rechte genauso ausüben können wie andere Bürger*innen und dass die Gesundheit der Betroffenen erhalten bleibt. So beinhaltet die BRK auch die Verpflichtung, Menschen mit Behinderungen die gleiche Pflege- und Versorgungsqualität zu gewähren. Entsprechend müssen die Staaten Zwangsmassnahmen abschaffen und eine Politik der Deinstitutionalisierung einleiten. Nur so ist eine adäquate Umsetzung der BRK möglich.

In der Schweiz ist der Einsatz von Zwangsmassnahmen unter bestimmten Bedingungen zulässig. Die derzeitige Gesetzgebung steht hingegen im Widerspruch zum Völkerrecht und lässt Raum für zahlreiche Missbräuche in psychiatrischen Einrichtungen. In verschiedenen Berichten der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF), die diese Einrichtungen überprüft, wird von unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen berichtet. Diese Handlungen verstossen gegen die durch die BRK und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierten Grund- und Menschenrechte. Trotz der in den Medien berichteten problematischen Situationen bleibt die Anzahl der Überprüfungen von Pflegeeinrichtungen aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen der NKVF gering.

Kritik an der Zwangseinweisung in psychiatrische Einrichtungen

Die zwangsweise Einweisung in eine «geeignete» Einrichtung (eine unfreiwillige freiheitsentziehende Massnahme, die im Gesetz als «Fürsorgerische Unterbringung» (FU) bezeichnet wird) ist nach Schweizer Recht zulässig, wenn bei der betroffenen Person wegen einer psychischen Störung, einer geistigen Behinderung oder einer schweren Verwahrlosung die erforderliche Betreuung oder Behandlung nicht auf andere Weise erfolgen kann (Art. 426 Abs. 1 ZGB). Der Begriff «geeignete Einrichtung» umfasst Einrichtungen, zu denen psychiatrische Fachkliniken und -krankenhäuser zählen (Europarat Rec(2004)10, S. 24) sowie psychosoziale medizinische Einrichtungen. Laut einer Studie, die 2011 im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) gemacht wurde, ist die Rate der Zwangseinweisungen in der Schweiz eine der höchsten unter den 15 untersuchten europäischen Länder.

Die Anwendung von Zwangsmassnahmen in einer Einrichtung ist im Schweizer Recht geregelt, insbesondere die Behandlung ohne Zustimmung (Art. 434 ZGB) und Massnahmen, die die Bewegungsfreiheit einschränken (Art. 438 ZGB, Art. 383 ff. ZGB). Das im 2013 in Kraft gesetzte neue Erwachsenenschutzrecht (KESR) hat zwar die Bedingungen für den Schutz von in Institutionen Eingewiesenen auf Bundesebene vereinheitlicht, diese Bestimmungen regeln jedoch die Anwendung von Zwangsmassnahmen nicht abschliessend (Leuba, Vaerini, S. 308). Deshalb können die Modalitäten ihrer Anwendung von einer psychiatrischen Einrichtung zur anderen unterschiedlich sein. Der Bund hat 2020 ein Projekt ausgeschrieben, um die Bestimmungen zur Zwangseinweisung in eine Institution einer eingehenden Evaluation zu unterziehen. Die Dachorganisation der Behindertenorganisationen «Inclusion Handicap» empfiehlt die Ergebnisse im Lichte von Art. 12 und 14 BRK zu interpretieren (NGO-Bericht von «Inclusion Handicap», S. 68).

Parallel dazu empfiehlt der «Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen» (BRK) dem Bund im Jahr 2022, die derzeitigen gesetzlichen Vorschriften abzuschaffen, die einen unfreiwilligen Freiheitsentzug aufgrund einer psychischen Störung oder einer geistigen Behinderung sowie die medikamentöse Zwangsbehandlungen, Isolation und die Anwendung von chemischen, physischen und mechanischen Zwangsmitteln zulassen (Abschliessende Bemerkungen, S. 7-8). Der Ausschuss erinnert daran, dass die BRK die Freiheit und Sicherheit der Person schützt (Art. 14 BRK) und Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe verbietet (Art. 15 BRK).

Aus menschenrechtlicher Sicht problematische Formen von Zwangsanwendung

Hand- und Fussfesseln, Körper- und Bauchgurte, Isolationsmassnahmen, Zwangsbehandlungen: Die in Schweizer Psychiatrien eingesetzten Zwangsmassnahmen sind mechanischer, physischer, räumlicher und chemischer Art.

In einem Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 2010 verurteilten die Richter die unverhältnismässig lange Dauer einer Fixierung mit einem Fünf-Punkt-Gürtel; die Fixierung wurde bei einem Patienten in einer psychiatrischen Klinik an fünf aufeinanderfolgenden Tagen angewendet. Bei dieser Praxis wird die Person vollständig an ein Bett gefesselt, es werden die Handgelenke, Fussgelenke und der Oberkörper blockiert. In einem Bericht aus dem Jahr 2019, der nach dem Besuch der psychiatrischen Klinik Cery erstellt wurde, stellte die NKVF mit Besorgnis fest, dass die privaten Sicherheitsleute manchmal auch mit einem taktischen Schlagstock, Metallhandschellen sowie Pfefferspray ausgestattet waren. Der Einsatz von metallenen oder scheuernden Zwangsmitteln wurde im Jahr 2015 auch vom Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT) kritisiert. Der Ausschuss empfahl den Einrichtungen damals, das eigene Personal zu schulen und nicht mehr auf Polizeibeamte zurückzugreifen (Bericht 2015, S. 69).

Am GRAAP-Kongress (Groupe d'accueil et d'action psychiatrique) zum Thema «Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie» im Jahr 2019 wurden zahlreiche Fälle von Misshandlungen präsentiert: Von Isolationshaft betroffene Personen berichteten, dass sie Tag und Nacht von Licht gestört wurden, dass ihnen nur über eine Matratze auf dem Boden verfügten und dass sie gezwungen waren, mangels Tisch und Stuhl am Boden zu essen. Einige Patient*innen berichteten auch, dass sie zwangsweise ausgezogen und gezwungen wurden, Kleidung zu tragen, die es verunmöglichte, ihre Genitalien zu bedecken, wenn sie sich setzten. Andere kritisierten den Mangel an Privatsphäre und berichteten, dass sie ihre Notdurft unter Aufsicht eines Sicherheitsbeamten in einem Eimer verrichten mussten, was sich für sie erniedrigend und entmenschlichend anfühlte. Die NKVF stellte in einem anderen Fall fest, dass der Zugang zu Toiletten in einem Nebenraum eingeschränkt war.

Isolation jenseits von therapeutischem Nutzen

Wenn es darum geht, die Sicherheit und den Schutz von Patient*innen und Dritten zu gewährleisten, beruht die Praxis in der Schweiz immer noch weitgehend auf der Isolierung in einem Intensivpflegezimmer (ICS); dies anstelle anderer Möglichkeiten wie der Betreuung durch ein Mitglied des medizinischen Personals (Eins-zu-Eins-Betreuung) oder der Begleitung in einem offenen, speziell dafür eingerichteten Flügel der Institution, der von gemeinsam genutzten Räumen abgetrennt ist. Laut Gesetz müssen die Mittel, die die Freiheit der Patient*innen einschränken, geeignet und unbedingt erforderlich sein, um das angestrebte sicherheitsorientierte Ziel zu erreichen (Art. 383 ZGB). Der Ermessensspielraum der Einrichtungen ist folglich immens.

Eine vom Schweizer «Archiv für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie» durchgeführte Studie zum Einsatz fixierender Mittel in der Psychiatrie liefert eine gemischte Einschätzung der vermeintlich therapeutischen Wirkung von Einzel- oder Isolationshaft. Aus der Studie geht hervor, dass die Vorteile, die eine solche Unterbringung mit sich bringen kann, nämlich das Gefühl der Beruhigung oder der Wiedererlangung der Kontrolle, bei manchen Betroffenen oft mit traumatischen Erfahrungen einhergehen. Die Befragten beklagen die sicherheitsorientierte Haltung, die weit von einem wohlwollenden Ansatz entfernt sei. Ebenso kann eine gereizte oder gelangweilte Haltung des Pflegepersonals eine destruktive Wirkung auf die Psyche der Patient*innen haben. Die negativen Auswirkungen von Zwangsmassnahmen gehen auch aus Untersuchungen der Kommission für soziale Fragen, Gesundheit und nachhaltige Entwicklung des Europarats hervor: Sie berichten von einer Verschlechterung der Lebensqualität der Betroffenen, physischen und psychischen Traumata, verminderter Therapietreue, Angst, Leid, Erniedrigung, Scham, Stigmatisierung und Selbststigmatisierung. Aus der Schweizer Rechtsprechung (BGE 134 I 209, rechtswidrige Isolationsunterbringung), den Untersuchungen in psychiatrischen Einrichtungen (CNPT-Bericht Cery, 2019; CNPT-Bericht HUG, 2018; CNPT-Bericht UPD Bern, 2016) und den Aussagen, die insbesondere am GRAAP-Kongresses gemacht wurden, geht hervor, dass Verletzungen der Menschenwürde und Praktiken, die eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 15 BRK darstellen, immer noch weit verbreitet sind.

Darüber hinaus wurde mehrfach eine unrechtmässige Nutzung des Isolationszimmers festgestellt. Einer in sich Isolationshaft befindenden Person war, mit Ausnahme der Bibel, alle persönlichen Gegenstände abgenommen worden; dies wurde vom Bundesgericht als moralisierend und strafend und damit als Verstoss gegen Art. 50 Abs. 4 SG/GE gewertet. Diese Bestimmung verurteilt jede Praxis von Isolation, die einen Gefängnischarakter hat respektive zu Disziplinar- und nicht zu Sicherheitszwecken (BGE 134 I 209) eingesetzt wird. Ein von der Psychiatrieabteilung des CHUV (Universitätsspital Lausanne) erstellter Bericht zeigt auf, dass die Isolationszimmer (ISZ) wegen Überbelegung sowohl tagsüber wie nachts zuweilen als Zusatzzimmer für die Patient*innen genutzt werden und zwar auch dann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, also keine Störung des Gemeinschaftslebens oder eine ernsthafte Gefahr für das Leben (Art. 383 ZGB) vorliegen. Die NKVF sprach dieses Problem auch bei ihrem Besuch in der psychiatrischen Klinik Cery an.

Mangelnde Information rund um die medikamentöse Behandlung

Nach Schweizer Recht kommt eine medikamentöse Zwangsbehandlung dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen von Art. 434 ZGB erfüllt sind. Nach dieser Bestimmung darf eine Zwangsbehandlung bei fehlender Zustimmung der betroffenen Person nur dann angeordnet werden, wenn diese urteilsunfähig ist, eine ernsthafte Gefahr für sich selbst oder für Dritte darstellt und keine weniger einschneidende Massnahme möglich ist. Eine Zwangsbehandlung muss im Behandlungsplan (Art. 434 Abs. 1 ZGB) vorgesehen sein; ein solcher Plan muss vom behandelnden Arzt oder der Ärztin und zusammen mit der betroffenen Person bei der Aufnahme in die psychiatrische Einrichtung erstellt werden (Art. 433 ZGB). Die Person, die unfreiwillig eingewiesen oder behandelt wird und ihre Vertrauensperson müssen über die Entscheide des Arztes oder der Ärztin und die ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel informiert werden (Art. 434 Abs. 1 und 2 ZGB; Europarat, Rec(2004)10, Art. 22 Abs. 1 und 2). Die Kommunikation vor, während und nach der Anwendung einer Zwangsbehandlung ist von grosser Bedeutung, da eine klare Kommunikation dazu beiträgt, die Anwendung von Zwangsbehandlungen zu begrenzen oder sogar zu vermeiden (SAMW-Richtlinien, Zwangsmassnahmen, S. 15).

In ihrem Tätigkeitsbericht von 2016 stellte die NKVF jedoch fest, dass Behandlungspläne systematisch fehlen und Entscheide zur Zwangsbehandlung oft nur lückenhaft dokumentiert werden. Im Bericht im Anschluss an den Besuch der psychiatrischen Klinik in Genf im Jahr 2018 stellte die Kommission zudem fest, dass zwar in der Mehrzahl der Fälle Behandlungspläne vorlagen, einige jedoch erst Wochen nach der Aufnahme der betroffenen Person in die Einrichtung erstellt wurden.

Laut Aussagen von Pro Mente Sana und der GRAAP ist der Informationsmangel eines der vielen Probleme, die es zu lösen gilt, auch im Zusammenhang mit Behandlungsplänen. Oft werden die Pläne mit den untergebrachten Personen weder diskutiert, noch mit ihnen ausgehandelt oder von ihnen verstanden. Oft wissen die Patient*innen weder ob sie einen Behandlungsplan haben, noch ob ein solcher die Bedingungen des Art. 434 ZGB erfüllt. Den Betroffenen ist selten bewusst, dass nur diejenigen medizinische Zwangsmassnahmen schriftlich angeordnet werden können, die im Behandlungsplan vorgesehen sind (Art. 434 ZGB). Darüber hinaus wissen sie nicht, dass sie sich gegen diese ohne ihre Zustimmung erfolgten Behandlungen nachträglich wehren könnten (Art. 434 Abs. 2 i.V.m. Art. 439 ZGB). Eine medikamentöse Behandlung wird häufig unter Erpressung und/oder Druck des Pflegepersonals durchgeführt. Patient*innen können so dazu gebracht werden, einer Behandlung zuzustimmen im Glauben, dass diese eine Bedingung für die baldige Entlassung aus der Einrichtung seien.

Übergang zu einem System der unterstützten Entscheidungsfindung

Das im Jahr 2020 eingereichte Postulat «Für eine uneingeschränkte Achtung der Rechte von Menschen mit Behinderungen» will vom Bundesrat wissen, wie diese Forderung auf der Grundlage der Gleichstellung (Art. 17 BRK) erfüllt werden kann. Die BRK verlangt den Übergang zu einem System der unterstützten Entscheidungsfindung; ein System, das die Achtung der Rechte, des Willens und der Präferenzen der Person gewährleistet (BRK, Allgemeine Grundsätze).

Die Patient*innenverfügung (Art. 370 ZGB) ist ein Mittel, um den Willen von Patient*innen zu formulieren. In der Patient*innenverfügung wird festgelegt, welche medizinischen Behandlungen im Falle einer Urteilsunfähigkeit genehmigt oder abgelehnt werden. Sie ermöglicht die Ernennung einer natürlichen Vertretungsperson, die den Willen der Patient*innen durchsetzen muss oder in ihrem Namen entscheiden kann. Bei Eintritt der Urteilsunfähigkeit muss die Patient*innenverfügung grundsätzlich vom Behandlungsteam befolgt werden, solange diese den gesetzlichen Bestimmungen entspricht (Art. 372 Abs. 2 ZGB). Das Schweizer Recht basiert jedoch immer noch auf einem System der stellvertretenden Entscheidungsfindung; dieses System schränkt die Achtung des Willens einer Person, die wegen einer psychischen Störung fürsorgerisch untergebracht ist, ein. In einem solchen Fall ist das medizinische Personal lediglich verpflichtet, die Patient*innenenverfügung zu berücksichtigen, nicht aber sie zu befolgen, wobei eine Vertretung durch eine Drittperson ausgeschlossen ist. Zudem muss die Entscheidung der Ärzt*innen, wenn diese von der Patient*innenverfügung abweicht, dann nicht begründet werden, wenn es sich um eine fürsorgerische Unterbringung handelt, anders als bei einer freiwilligen Einweisung in ein Krankenhaus. Folglich verfügen die Betreuungseinrichtung und die behandelndne Ärzt*innen über einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Behandlung (Meier, N 1275 und 1276). Hinzu kommt, dass in der Praxis nur wenige Personen eine Patient*innenverfügung verfassen und dass in Fällen, in denen keine Vertrauensperson bestimmt wurde, de facto das medizinische Team entscheidet. Nach Angaben von «Pro Mente Sana» wird eine Patient*innenverfügung häufig unter dem Einfluss der Ärzt*innen verfasst.

Diese Praxis steht im Widerspruch zur BRK. Ärzt*innen und Gesundheitsfachkräfte, einschliesslich Psychiater*innen, müssen unbedingt die freie und informierte Zustimmung von Menschen mit Behinderungen einholen, bevor sie diese behandeln (BRK, Allgemeine Bemerkung Nr. 1, S. 12). Wie bereits erwähnt, kann die Zustimmung in einer Patient*innenverfügung ausgedrückt werden oder von einer therapeutischen Vertretungsperson im Namen des/der Betroffenen erteilt werden. Es muss aber sichergestellt werden, dass ein Entscheid freiwillig und auf der Grundlage verständlicher und ausreichender Informationen gefällt wird. Auch darf das begleitende Pflegepersonal keinen unzulässigen Einfluss auf die betroffene Person nehmen (Position des SPT zu den Rechten von Personen, die in Einrichtungen untergebracht sind, S. 3; CAT, Jahresbericht 2012/13, S. 38 und 117). Es braucht einen Paradigmawechsel zum System der unterstützten Entscheidungsfindung – nur so ist eine freie und informierte Zustimmung möglich, die die Autonomie sowie Menschenwürde der Person achtet und Selbstbestimmung gewährleistet. Dies sind wesentliche Elemente des Rechts auf Gesundheit und der Garantie des Schutzes vor Folter und Misshandlung (SPT-Position zu den Rechten von in Heimen untergebrachten Personen, S. 3; Devandas-Aguilar-Bericht vom 16. Juli 2018, S. 6).

Alternativen zu Zwangsmassnahmen

Es müssen speziell an die Bedürfnisse der Patient*innen angepasste Zwangsmassnahmen entwickelt und in der Praxis angewendet werden. Der Europarat (Resolution 2291), medizinische Einrichtungen (CHUV, Zwangsmassnahmen, S. 6 und 28) und Interessenvertreter*innen aus den betroffenen Kreisen empfehlen den Einsatz von Beruhigungs- und Begleitmassnahmen sowie die Investition in bessere Beschäftigung und Pflege während der Anwendung von Zwangsmassnahmen. Empfohlen werden bauliche Massnahmen wie beispielsweise die Einrichtung eines offenen Raums mit sanftem Farblicht und Musik, in dem jederzeit medizinisches Personal anwesend sein sollte. Weiter soll eine therapeutische Vertretung bestimmt und eine Patient*innenverfügung ausgearbeitet werden. Es müssen Peer-Praktiker*innen zum Einsatz kommen sowie die Anwesenheit von Pflegepersonal gesichert sein, um den Bedürfnissen der Betroffenen besser gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang wird der Aufbau eines therapeutischen Teams empfohlen, das die Entwicklung einer starken Partnerschaft zwischen dem Betroffenen und seinem Arzt oder seiner Ärztin fördert (GRAAP, Kongress über Zwangsmassnahmen; Devandas-Aguilar-Bericht vom 11. Januar 2019, S. 17 und 20-21).

Die Anwendung von Alternativen zu Zwangsmassnahmen in psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz ist uneinheitlich. Beispielsweise sieht die Psychiatrische Klinik für Erwachsene in Basel die individuelle Überwachung von Patent*innen durch Mitarbeitende zur Vermeidung von Isolationshaft oder Injektion eines Zwangssedativums vor (CPT-Bericht an den Schweizerischen Bundesrat, S. 67). Seit 2014 werden zum Beispiel auch in der kantonalen psychiatrischen Klinik in Mendrisio weniger einschneidende Massnahmen umgesetzt, um von Fixierungen und Isolation abzusehen. Diese alternativen Massnahmen bestehen insbesondere aus «einer intensiven Betreuung [des Individuums] ab dem Zeitpunkt der Aufnahme (Verhältnis 1 zu 1 während der ersten vier Stunden) oder in Krisensituationen» (CNPT-Bericht an den Tessiner Staatsrat, S. 6-8). Schliesslich beherbergt das Zentrum Belle-Idée die Spitaleinheit Les Tilleuls in Genf eine Abteilung, die rehabilitative Pflege in Form von Meditation oder therapeutischen Gruppen für Personen mit einer schweren und chronischen psychischen Krankheit anbietet. Diese Aktivitäten ermöglichen es den Patient*innen unter anderem, Kenntnisse über ihre Krankheit sowie eine größere Autonomie und Selbstachtung zu erlangen (Thomazic, S. 1697-1698).

Auf dem Weg zur Reform des psychiatrischen Gesundheitssystems

In einem Resolutionsvorschlag aus dem Jahr 2019 fordert das Parlament des Europarats die Reform der psychiatrischen Gesundheitssysteme (Antrag, S. 3). Diese Ansicht teilen auch das Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR), der UN-Antifolterausschuss (CAT), der UN-Behindertenrechtsausschuss sowie die Sonderberichterstatterin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, indem sie die Abkehr von Zwangsmassnahmen und die Einrichtung gemeindenaher Hilfsdienste wie Krisensituationszentren oder nichtmedizinische Zentren für vorübergehende Betreuung empfehlen, in denen keine Zwangsmassnahmen angewendet werden; damit soll die Versorgung der Betroffenen in ihrem Umfeld und nicht im Krankenhaus erfolgen.

Im September 2021 verabschiedete der UN-Behindertenrechtsausschuss BRK den Entwurf für eine Richtlinie zur Deinstitutionalisierung von Menschen mit Behinderungen. Damit wollte der Ausschuss sicherstellen, dass für alle Menschen mit Behinderungen akzeptable Dienste in der Gemeinde verfügbar, erschwinglich, zugänglich, anpassungsfähig, nachhaltig und inklusiv werden und eine angemessene Qualität angeboten wird. Das Projekt soll den Vertragsstaaten konkrete Leitlinien an die Hand geben, damit sie ihren Deinstitutionalisierungsprozess im Einklang mit der BRK erfolgreich umsetzen können; der Tendenz, die Institutionalisierung als Massnahme zum Schutz von Menschen mit Behinderungen anzuwenden, soll jeglicher Wind aus den Segeln genommen werden. Es ist eine Pflicht, die Hauptursachen für die Institutionalisierung wie z.B. fehlende Alternativen zu Institutionen oder Vorurteile und Stereotypen, die mit Behinderung einhergehen, zu beseitigen und dieser Praxis ein Ende zu setzen.

Bereits im Jahr 2009 veröffentlichte eine von der Europäischen Kommission beauftragte Expert*innengruppe einen Bericht über den Übergang von der Heimpflege zu gemeindenahen Diensten. Darin wird gefordert, dass solche Dienste parallel zur Schliessung von Heimen aufgebaut werden, um Neuaufnahmen in Institutionen zu vermeiden. Es sollen Plätze für bereits in Institutionen lebende Menschen bereitgestellt und Menschen unterstützt werden, die in einer Wohngemeinschaft, in der Familie oder auf andere Weise ohne angemessene Unterstützung leben (Bericht, S. 6 und 19). Darüber hinaus wird im Bericht festgestellt, dass die Annahme, gemeindebasierte Dienste seien teurer als Heime, nicht belegt werden kann (Bericht, S. 13).

Eine Studie in 27 EU-Mitgliedstaaten, die im Jahr 2020 von derselben Expert*innengruppe veröffentlicht wurde, betont, dass eine individuell ausgerichtete Unterstützung, die den komplexen Unterstützungsbedarf berücksichtigt, der einzige Weg sei, um eine vollständige Eingliederung und Teilhabe in der Gemeinschaft zu gewährleisten.