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Die Asylunterkünfte des Bundes im Fokus der Menschenrechte

28.02.2019

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) überprüfte in den Jahren 2017 und 2018 diverse vom Bund betriebene Asylunterkünfte in Hinblick auf die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte. Hierbei identifizierte sie ernst zu nehmende Mängel.

Während das bisherige Asylverfahren Empfangs- oder Verfahrenszentren (EVZ) und Bundesasylzentren ohne Verfahrensfunktion (BZ) unterscheidet, werden als Folge der Asylgesetzrevision ab dem 1. März 2019 Bundesasylzentren mit Verfahrensfunktion, Bundesasylzentren ohne Verfahrensfunktion (sog. Warte- und Ausreisezentren) und besondere Zentren für renitente Personen betrieben. Die NKVF besuchte zur Beurteilung der aktuellen Lage 5 Empfangs- und Verfahrenszentren, 2 Bundeszentren ohne Verfahrensfunktion und 4 bereits auf das neue Asylverfahren angepasste Bundesasylzentren. Die aus den Aufenthalten abgeleiteten Erkenntnisse und Empfehlungen veröffentlichte die Kommission im November 2018 schliesslich in Form eines Berichtes an das Staatssekretariat für Migration (SEM). Das Amt reagierte auf die Publikation innert Kürze mit einer Stellungnahme: obgleich es einzelne Anregungen annahm, verteidigte es in weiten Teilen die herrschenden Zustände.

Fehlende Massnahmen zum Schutz vulnerabler Personen

Im Rahmen ihrer Besichtigungen begutachtete die Kommission die Abläufe zur Identifikation und Versorgung speziell verletzlicher Personen. Zwar merkt sie positiv an, dass interne schriftliche Standards für die Betreuung und Unterbringung vulnerabler Zentrumsbewohner/innen erarbeitet worden seien. Als eindeutige Schwachstelle identifiziert sie aber, dass es in allen Asylunterkünften an einem Konzept für den Umgang mit Opfern von Folter fehle und kein strukturiertes Vorgehen zur Identifikation der Opfer von Menschenhandel, Folter und geschlechterspezifischer Gewalt vorgegeben sei.

Um besonderen Bedürfnissen von Asylsuchenden gerecht werden zu können, müssen diese gemäss des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) systematisch und so früh wie möglich erkannt werden. Dabei helfen klar zugeteilte Rollen und Zuständigkeiten des Betreuungspersonals und der Behörden sowie die Definition von Standardabläufen. Die Sensibilisierung der Mitarbeitenden ist zudem unbedingt notwendig, damit besonders verletzliche Menschen schneller identifiziert und ihre Bedürfnisse besser kommuniziert werden. Überdies muss es für Betroffene jederzeit möglich sein, besondere Anliegen vorzubringen.

Das SEM verweist diesbezüglich auf das neue Betriebskonzept Unterbringung (BEKO), welches im Rahmen der künftigen Strukturen im Asylbereich zur Anwendung kommen wird. Dieses sehe die Schulung des Personals im Umgang mit traumatisierten Personen und die Klärung der Verantwortlichkeiten vor. Bereits vorhanden seien Leitfäden zur Erkennung und Betreuung von Opfern geschlechterspezifischer Verfolgung oder Menschenhandel. Zu diskutieren bleibe die Einführung einer Checkliste entsprechend dem EASO-Instrument für die Ermittlung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen, welches das European Asylum Support Office zur Verfügung stellt. Letztlich sei die Identifikation betroffener Personen aber im neuen Asylverfahren sowieso besser sichergestellt, da die erste Anhörung der Asylsuchenden künftig viel früher stattfinden würde.

In Zusammenhang mit dem medizinischen Screening im Eintrittsverfahren äussert sich die NKVF namentlich besorgt über die unspezifischen Abklärungen zur psychischen Verfassung der Asylsuchenden. Da die Gesuchsteller/innen die Asylunterkünfte grundsätzlich innerhalb von 90 Tagen wieder verlassen, beschränkt sich ihre psychiatrische Betreuung ausserdem auf akute Krisensituationen. Zwar führte das SEM im Jahr 2018 mit der Medizinischen Erstkonsultation (MEK) ein Instrument ein, welches den allgemeinen Gesundheitszustand von Asylsuchenden bei Eintritt in eine Unterkunft systematisch dokumentiert. Jedoch erfolgt die Befragung lediglich mittels eines online Fragebogens in Anwesenheit einer Pflegefachperson. Werden Beschwerden erkannt, müssen die Betroffenen zunächst eine/n Allgemeinmediziner/in konsultieren, bevor sie möglicherweise an eine psychiatrische Fachperson weiterverwiesen werden.

Der erschwerte Zugang zu psychiatrischer Behandlung wiegt besonders schwer, da psychische und psychosomatische Beschwerden bei Asylsuchenden aufgrund von Gewalt, Verfolgung und anderen traumatisierenden Erlebnissen im Krieg oder auf der Flucht sehr häufig auftreten. Gemäss einer in Zürich durchgeführten Studie aus dem Jahr 2010 weisen rund 40% der Asylsuchenden eine psychiatrische Diagnose auf.

Ihre Behandlungsaussichten könnten mittels frühzeitiger Intervention erheblich günstiger ausfallen. Aus diesem Grund empfiehlt die NKVF dem SEM dringend, die Evaluation und Behandlung des psychischen Gesundheitszustandes von Asylsuchenden zu verbessern.

Die Versorgung minderjähriger Asylsuchender

Hinsichtlich der Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender nimmt die Kommission mit Bedauern zur Kenntnis, dass Jugendliche wiederholt gemeinsam mit erwachsenen Personen untergebracht werden und ihnen häufig lediglich gemeinschaftliche sanitäre Anlagen zur Verfügung stehen.

Das oberste Gebot bei der Behandlung von minderjährigen Asylsuchenden ist gemäss UNHCR die Orientierung am Kindeswohl. Allfällige Gefährdungen durch Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung sowie besondere Verletzlichkeiten müssen bei der Unterbringung berücksichtig werden. Die NKVF empfiehlt deshalb dringend, sämtliche Minderjährige getrennt von nicht nahverwandten Erwachsenen unterzubringen. Sie ermahnt die Behörden überdies, im Zweifelsfall immer von der geltend gemachten Minderjährigkeit der Asylsuchenden auszugehen.

Die Kommission fordert ausserdem eine statistische Erhebung der während des Asylverfahrens verschwundenen beziehungsweise untergetauchten unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden.
Bis anhin wurden diese Fälle in der Schweiz nicht systematisch erfasst, obwohl diverse internationale Schätzungen die Notwendigkeit einer solchen Praxis illustrieren: in Europa sind im Jahr 2016 über 10'000 Flüchtlingskinder verschwunden und allein in Deutschland galten im selben Zeitraum rund 5'000 unbegleitete minderjährige Asylsuchende als vermisst.

  • Die vermissten Flüchtlingskinder
    Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nula Frei, 29. März 2017 (online nicht mehr verfügbar)

Strenge freiheitsbeschränkende Massnahmen für Unterkunftsbewohnende

Unverhältnismässige Anwesenheitspflichten

In der Überzahl der Unterkünfte ist der Ausgang für die Bewohner/innen bewilligungspflichtig. Zwar ist aus betrieblichen und verfahrensrechtlichen Gründen durchaus nachvollziehbar, dass freie Ein- und Ausgangszeiten schwer umsetzbar sind. Jedoch fordert die NKVF, dass die Ausgangsmodalitäten zumindest situativ angepasst werden. Die schematische Anwendung der gesetzlichen Mindestausgangszeiten (Mo - So 09.00 - 17.00 Uhr, Fr 09.00 - So 19.00 Uhr) berge die Gefahr einer unverhältnismässigen Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Dies treffe insbesondere auf abgelegene Unterkünfte zu, welche über Monate nicht mit dem öffentlichen Verkehr erreichbar sind.

Gemäss der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR vereinfachen längere Ausgangszeiten nicht nur zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern erleichtern den Asylsuchenden auch die Teilnahme am öffentlichen Leben. Darüber hinaus vermindere die flexible Freizeitgestaltung das Konfliktpotential in den Unterkünften, da die Bewohnenden ihren Alltag individueller gestalten können.

Das SEM heisst nach eigenen Angaben längere Ausgangszeiten grundsätzlich gut, ist aber für deren Ausweitung auf die Zustimmung der jeweiligen Standortgemeinde angewiesen. Ob die Behörden beabsichtigen entsprechende Verhandlungen künftig voranzutreiben, bleibt unklar.

Schriftliche Anordnung von Disziplinarmassnahmen

In den meisten Unterkünften werden als disziplinarische Massnahmen vorwiegend eingeschränkte Ein- und Ausgangszeiten sowie der Taschengeldentzug eingesetzt. Bis anhin sieht die Verordnung des EJPD über den Betrieb von Unterkünften des Bundes im Asylbereich (EJPD VO) schriftliche Verfügungen lediglich für Ausschlüsse aus Asylunterkünften von mehr als acht Stunden und Verlegungen in besondere Zentren vor. Wird eine Ausgangbewilligung für mehr als 24 Stunden oder wiederholt verweigert, muss eine Verfügung in Papierform ebenfalls nur auf Verlangen der betroffenen Person erlassen werden.

Obwohl das SEM zurzeit ein Beschwerdeformular gegen angeordnete Sanktionen zur Verfügung stellt, setzt dessen Verwendung eine mündliche Aufklärung der Asylsuchenden und insbesondere die schriftliche Abfassung der vorangegangenen Disziplinarmassnahme voraus. Aus Gründen der Rechtssicherheit empfiehlt die NKVF den Behörden deshalb, disziplinarische Massnahmen in jedem Fall schriftlich anzuordnen.

Das SEM befürchtet unter dieser Praxis erhebliche Verfahrensverzögerungen und erachtet das Bereitstellen eines Beschwerdeformulars für weniger weitreichende Disziplinarmassnahmen als ausreichend. Dass damit Bewohner/innen ohne anfechtbare Verfügung bis zu acht Stunden aus einer Asylunterkunft ausgeschlossen und bis zu 24 Stunden in einem Asylzentrum eingeschlossen werden können, nehmen die Behörden zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren in Kauf.

Erheblicher Mangel an Privatsphäre

Die NKVF äussert sich besorgt darüber, dass Bewohner/innen von Asylunterkünften sowie ihre persönlichen Gegenstände regelmässig durchsucht werden. Grundsätzlich seien oberflächliche Leibesvisitationen und die Inspektion von Gegenständen nur bei konkreten Verdacht durchzuführen. Im Besonderen beunruhigt zeigt sich die Kommission über die Tatsache, dass in einzelnen Unterkünften auch die Durchsuchung von Kindern und ihren Utensilien ein Regelfall darstellt.

Das SEM wird ungeachtet dessen an der bestehenden Praxis festhalten. Dies mit der Begründung, dass immer wieder verbotene Gegenstände in Asylunterkünfte eingeführt würden, unter anderem mithilfe der Kleidung von Kindern oder deren Kinderwagen. Dass damit asylsuchende Männer, Frauen und Kinder unter einen Generalverdacht gestellt werden und regelmässig Eingriffe in ihre Privatsphäre in Kauf nehmen müssen, scheint für die Behörden zweitrangig.

Die Experten/innen der NKVF erachten es ferner als notwendig, dass Bewohnende von Asylunterkünften ihre Schlafräume von innen abschliessen können. Das SEM versichert in diesem Zusammenhang, dass künftig alle Massnahmen zur Erhöhung der Privatsphäre in den Asylunterkünften getroffen würden, solange dies baulich möglich und sinnvoll sowie feuerpolizeilich erlaubt sei. Aus sicherheitstechnischen Gründen bleibe es aber unabdingbar, dass die Räume jederzeit durch das Betreuungs- und Sicherheitspersonal von aussen aufgeschlossen werden könnten.

Als bedenklich erachtet die Kommission mit Bezug auf die Privatsphäre letztendlich, dass in den Asylunterkünften verschiedene Familien oftmals gemeinsam in einem Zimmer untergebracht werden. Zudem seien keine separaten Abteilungen oder spezieller Nutzungszeiten der Gemeinschaftsräume für Frauen und Kinder vorgesehen, obwohl geschlechtergetrennte Aufenthaltsräume und Aussenbereiche insbesondere für weibliche Asylsuchende einen wichtigen Rückzugsort darstellen würden, an welchem sie sich in Ruhe bewegen und austauschen können.

Das SEM stimmt dieser Einschätzung im Grundsatz zu, verweist jedoch auf mögliche infrastrukturelle Engpässe aufgrund der hohen Präsenz von Familien. Sofern es die räumlichen Ressourcen zuliessen, würden weiblichen Asylsuchenden aber künftig eigene Aufenthaltsräume zu Verfügung gestellt und kinderfreundliche Räume eingerichtet.

Der Zugang zur Gesellschaft bleibt erschwert

Die Kommission ist abschliessend der Ansicht, dass der Zugang zur örtlichen Gemeinschaft und städtischen Infrastrukturen insbesondere für die Bewohner/innen von abgelegenen Asylunterkünften nicht immer ausreichend gewährleistet wird. So erreiche die Bewohnerschaft zum Teil nur zweimal täglich per Shuttlebusservice einen grösseren Ort sowie einmal wöchentliche die nächste Stadt. In anderen Unterkünften seien die Asylsuchenden auf einen internen Bus und damit auf Begleitung angewiesen, um überhaupt in das nächstgelegene Dorf zu gelangen. Dabei würde der Austausch mit der Zivilgesellschaft gemäss den Einschätzungen des UNHCR nicht nur die Isolation der Asylsuchenden verhindern, sondern vermöchte gleichzeitig die lokale Bevölkerung zu sensibilisieren und damit als wirksames Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit zu dienen.

Die Asylsuchenden besitzen das Recht, Kontakte mit Familienmitgliedern, Bekannten und anderen Personen zu halten sowie Informationen frei zu empfangen. Die NKVF bemängelt im letzten Teil ihres Schwerpunktberichts den eingeschränkten Zugang zu Internet, Zeitungen und sonstigen Medien, sowie die uneinheitliche Praxis betreffend die Abnahme von Mobiltelefonen bei missbräuchlicher Nutzung. Das SEM weist in seiner Stellungnahme zwar darauf hin, dass seit Januar 2018 in allen Bundesasylzentren ein kostenfreies WLAN eingeführt wurde. Allerdings benötigen die Asylsuchenden zu dessen Nutzung ein WLAN-fähiges Gerät, welches sie sich wiederum selbst beschaffen müssen.

Kommentar humanrights.ch

Die NKVF kommt in ihrem Bericht zum Schluss, dass die Rahmenbedingungen der Unterbringung in den Asylunterkünften des Bundes grundsätzlich keine Grund- und Menschenrechte verletzen. Jedoch offenbaren ihre Untersuchungen bestehende Mängel, welche aus menschenrechtlicher Sicht durchaus bedenklich sind.

Es ist besorgniserregend, dass sich die Gesundheitsversorgung in den Asylunterkünften des Bundes auf die medizinische und zahnärztliche Grund- respektive Notversorgung beschränkt. Umso alarmierender scheint es, dass im Rahmen der medizinischen Betreuung einer eindeutigen Risikogruppe die Ermittlung und Behandlung psychischer Beschwerden systematisch vernachlässigt wird.

Bedauerlicherweise verteidigen die Behörden ausserdem die inadäquate Unterbringung von Minderjährigen und weiblichen Asylsuchenden mit dem bestehenden Platzmangel und schreiben sie aufgrund ihres vermeintlichen Ausnahmecharakters ab.

Unverkennbar ist die Tatsache, dass sicherheitstechnische Überlegungen dem persönlichen Wohl der Asylsuchenden übergeordnet werden – dies verdeutlich namentlich die Praxis der Durchsuchung von Erwachsenen und Kindern sowie die knappen und bewilligungspflichtigen Ausgangszeiten.

Unter dem Strich wünschen sich die Behörden einen reibungslosen, gar mechanischen Fortgang der von ihnen angeordneten Abläufe und Massnahmen, für welchen sie offenbar bereitwillig einen mangelhaften Rechtsschutz für die Anwohnenden in Kauf nehmen.