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Kehrtwende des SEM im Fall eines verfolgten Homosexuellen

17.05.2017

Der homosexuelle Flüchtling O. aus Nigeria wird nun doch nicht aus der Schweiz weggewiesen. Nach einem abgelehnten Asylgesuch, einem Wiedererwägungsgesuch, einem erfolglosen Rekurs vor dem Bundesverwaltungsgericht und einem zweiten Asylgesuch hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) O. im Januar 2017 als Flüchtling anerkannt.

Der Fall des Nigerianers O. hatte im Frühling 2014 eine Protestwelle ausgelöst: O. hatte – zuerst ohne Erfolg - in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt, da er aufgrund seiner Homosexualität in seinem Heimatland Repressionen befürchtete. Bei einer Abschiebung zurück in seine Heimat hätten ihm Gewalt von privater Seite und eine hohe Haftstrafe gedroht.

Chronologie eines Asylgesuchs

Im Jahre 2010 flüchteten O. und sein Partner in die Hauptstadt Lagos, nachdem ihre Beziehung in ihrem Heimatdorf in Nigeria bekannt geworden war und sie deswegen gewaltsame Übergriffe und Feindseligkeiten erlebt hatten. Als das Paar einige Jahre später auch in der Hauptstadt unter Druck geriet, flüchteten sie weiter in die Schweiz. Von seiner Familie konnte  O. keinen Schutz erwarten, da sein Vater – ein Pfarrer - zu denen gehörte, die eine Hetzjagd gegen O. veranstalteten und zur Ermordung des jungen Mannes aufriefen.

«Unglaubwürdig»

In der Schweiz angekommen stellten die beiden Männer Asylgesuche. Das SEM glaubte ihre Geschichte jedoch nicht, stufte die Berichte der Männer vielmehr als unglaubwürdig ein. Es trat auf die Asylgesuche nicht ein und ordnete die Wegweisung nach Nigeria an.

Dass Nigeria eine der homophobsten Gesetzgebungen weltweit hat und O. erhebliche gewaltsame Übergriffe drohen, war nicht Grund genug, um auf das Asylgesuch einzutreten. Die Behörden befanden, O. könne – selbst wenn sich seine sexuelle Orientierung bewahrheiten sollte - ein «normales Leben» in seiner Heimat führen und sei nicht gefährdet, wenn er diese verberge bzw. diskret ausübe.

Der Freund von O. reiste bereits im Juni 2011 selbständig nach Nigeria zurück und musste dort nach einigen exorzistischen Ritualen öffentlich bekannt geben, dass er von seiner Homosexualität «befreit» ist.

Ausschaffungshaft

O. konnte die Abschiebung umgehen, weil er untertauchte. Ein Wiedererwägungsgesuch und ein Rekurs vor dem Bundesverwaltungsgericht blieben erfolglos. Im März 2014 wurde O. im Rahmen einer Polizeikontrolle wegen illegalen Aufenthalts festgenommen und zehn Wochen in Ausschaffungshaft genommen.

In der Folge kam es vor dem Ausschaffungsgefängnis, dem SEM, der nigerianischen Botschaft und in der Berner Innenstadt zu zahlreichen Protestaktionen und Demonstrationen eines Solidaritätskomitees für O.. Verschiedene NGOs verfassten zudem kritische Stellungnahmen zuhanden der Behörden.

Auch O. gab nicht auf: Er reichte im Mai 2014 erneut ein Wiedererwägungsgesuch ein. Dieses wurde vom SEM als zweites Asylgesuch gemäss Art. 111c AsylG qualifiziert und es ordnete an, vom Vollzug der Wegweisung von O. einstweilen abzusehen. Ein Gutachten von Amnesty International hatte die Befürchtung untermauert, dass O. bei einer Rückkehr gefährdet wäre. Am 16. Juni 2014 machte das Solidaritätskomitee Liberty for O. bekannt, dass O. aus der Haft entlassen worden sei.

Asylgesuch neu aufgerollt

Das SEM hörte O. im Juli 2015 noch einmal zu seinen Asylgründen an. Im Dezember 2015 gab es zudem der Botschaft in Nigeria den Auftrag, weitere Recherchen zu O’s Fall anzustellen. Insbesondere forderte das SEM bei einem Vertrauensanwalt der Schweizer Botschaft in Nigeria einen Bericht an.

Der Bericht vom 29. März 2016 bestätigte die Glaubhaftigkeit von O.s’ Geschichte: O. sei aus dem Dorf vertrieben worden, weil er ein Homosexueller sei und ein „Sakrileg begangen“ habe. Der Bericht führt aus, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen zu den meist geächteten gesellschaftlichen Tabus im dörflichen Kontext in Nigeria gehören würden. Es sei nicht möglich, Homosexualität frei und offen zu leben. Ein staatlicher Schutz vor homophober Gewalt und Verfolgung durch die Bevölkerung oder einzelne Staatsorgane sei in Nigeria nicht vorhanden.

Diese Beurteilung aus erster Hand führte zu einer Kehrtwende. Das Staatssekretariat für Migration stufte nun die Fluchtgeschichte von O. als glaubwürdig ein. Am 25. Januar 2017 wurde O. als Flüchtling anerkannt und in der Schweiz vorläufig aufgenommen (Ausweis F).

Wegen eines Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz im Jahr 2012 gewährte ihm das SEM kein Asyl. Es entschied, der Nigerianer würde gemäss Art. 53 AsylG eine Gefahr für die Sicherheit darstellen und sei daher asylunwürdig. Gegen diesen Entscheid hat O. Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht erhoben, die derzeit noch hängig ist (Stand Mai 2017). Das Bleiberecht-Kollektiv und die Solidaritätsgruppe Liberty for O. haben zudem eine Petition gestartet: Die Einschätzungen des SEM betr. des Delikts von 2012 seien unverhältnismässig.

In Nigeria drohen Haft und Gewalt

Nigeria gehört zu den Ländern, in denen homosexuelle Handlungen mit hoher Strafe bedroht werden. Homosexualität ist zudem in Nigeria gesellschaftlich tabuisiert. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTI) sowie Aktivisten werden schikaniert, erpresst und mit dem Tode bedroht.

Im Mai 2013 wurde ein Gesetz verabschiedet, welches Homosexuelle mit einer Haftstrafe von bis zu 14 Jahren bestraft, wenn diese ihre Neigung öffentlich zur Schau stellen. Im Januar 2014 unterzeichnete der nigerianische Präsident dieses repressive Gesetz. Amnesty International (AI) berichtete kurz darauf von einer Hexenjagd auf Homosexuelle in einigen Regionen Nigerias, wo einige Polizeikorps sogar Listen mit verdächtigen Homosexuellen führen.

Durch die Verabschiedung des neuen Gesetzes ist die Gefahr für Schwule und Lesben, Opfer von Gewalt und Verfolgung zu werden, gestiegen. Bereits davor stand die LGBTI-Gemeinschaft unter grossem Druck: Bedrohung an Leib und Leben, Gewalttaten und Diskriminierungen durch private Dritte sind in weiten Teilen Nigerias üblich. Es sind Fälle bekannt, in denen Homosexuelle hingerichtet wurden.

Der Staat untersuchte entsprechende Vorfälle in der Regel nicht oder nur ungenügend. Auch Personen, die sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzen, müssen Repressionen befürchten. Zudem drohen den Betroffenen entwürdigende Rituale, wenn sie ihre sexuelle Orientierung offen legen. Dazu gehören Folter und exorzistische Rituale (wie Vergewaltigungen), die dazu führen sollen, dass Homosexuelle «geheilt» werden.

Entscheidung des EuGH und die restriktive Praxis der Schweiz

Die ursprüngliche Haltung des SEM, wonach O. ein «normales Leben» in seiner Heimat führen könne, wenn er die Homosexualität  verberge bzw. diskret ausübe, steht im Widerspruch zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom November 2013. Der Gerichtshof hatte entschieden, dass die sexuelle Orientierung ein für die Identität bedeutendes Merkmal ist und daher von Asylsuchenden nicht erwartet werden kann, die Homosexualität im Herkunftsland geheim zu halten oder sich zurückzuhalten, um eine Verfolgung zu vermeiden.

Fachleute bewerteten damals die Schweizer Rechtspraxis im Umgang mit Asylsuchenden, die eine Verfolgung aufgrund ihrer Homosexualität geltend machen, als relativ restriktiv. Gemäss einem Bericht der WochenZeitung (WoZ) vom Februar 2014 hat Queeramnesty seit 2010 rund fünfzig LGBTI-Asylsuchende betreut. Lediglich in vier Fällen gewährte das SEM den Betroffenen Asyl. Dem WoZ-Artikel kann entnommen werden, dass insbesondere die Überprüfung der Homosexualität bei den Befragungen der Flüchtlinge dem SEM Mühe bereitet. Häufig bewertete das SEM die Schilderungen von LGBTI-Asylsuchenden als nicht glaubhaft oder die Angst vor Verfolgung im Heimatland als unbegründet.

Kommentar: Ein hoffentlich nachhaltiger Lernprozess

Bundesrätin Simonetta Sommaruga und der Sprecher des SEM betonten nach dem EuGH-Urteil, das Argument der diskreten Ausübung der Homosexualität sei veraltet und seit einigen Jahren in den Asylentscheidungen des SEM nicht mehr zu finden. Offiziell wurde die Praxis des SEM denn auch im Jahr 2013 angepasst. Im Handbuch Asyl und Rückkehr – ein Nachschlagewerk für MitarbeiterInnen des SEM – wird ausdrücklich festgehalten, dass die Abweisung eines Asylgesuchs nicht mit Argumenten begründet werden dürfe, dass eine Person allen Verfolgungen entkommen bzw. sich ihnen entziehen könnte, wenn sie einen weniger auffälligen Lebensstil pflegen würde.

Genau so wurde jedoch zunächst im Fall O. argumentiert. Das Vorgehen des SEM stiess deshalb auf grosses Unverständnis. Trotz vieler Belege, Proteste und auch Stellungnahmen für O., etwa von Amnesty International, blieb das Migrationsamt vorerst bei seiner Entscheidung.

Die Kehrtwende des SEM im Fall O. ist sehr zu begrüssen. Die Schweiz kommt damit ihren internationalen Verpflichtungen nach. Die bereits beschlossene Ausschaffung von O. wäre aus menschen- und flüchtlingsrechtlicher Sicht nicht zulässig gewesen.

Der Fall zeigt, dass Personen mit LGBTI Hintergrund im Asylverfahren mit vielen Problemen konfrontiert sind. Die Vorbringen von LGBTI-Asylsuchenden werden oft – wie im Fall von O. – vom Bundesamt als „nicht glaubhaft“ erachtet. Aus der Sicht des SEM gilt für LGBTI-Asylsuchende, was auch für alle anderen Asylsuchenden gilt: Wer als Flüchtling anerkannt werden will, muss seine Fluchtgründe glaubhaft darlegen. Diese Erwartung ist bei LGBTI-Asylsuchenden problematisch, da sie oft nicht in der Lage sind, ihre Fluchtgründe widerspruchsfrei darzulegen. Meist kämpfen die Geflüchteten mit einer traumatischen Vergangenheit und haben ihre sexuelle Orientierung über viele Jahre geheim gehalten. Ein jahrelanges Verstecken und Tabuisieren kann nicht einfach von einem Tag auf den anderen über Bord geworfen werden.

Dokumentation