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Basiswissen Asylrecht - Dossier

Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Asylgrund

16.08.2017

Für die asylrechtliche Behandlung der Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung bzw. einer bestimmten Geschlechtsidentität besteht in der Schweiz keine eigene Rechtsgrundlage. Doch nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gelten unter anderen auch solche Personen als Flüchtlinge, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat sieben «soziale Gruppen» im Sinne von Art. 3 Abs. 1 AsylG definiert, wozu auch «Opfer aus Gründen der sexuellen Orientierung/Geschlechtsidentität» zählen. Für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft wird vorausgesetzt, dass die asylsuchende Person aufgrund der sexuellen Identität oder Orientierung in seinem/ihrem Herkunftsland ernsthaft gefährdet ist.

Dabei reicht es nach der Praxis des SEM nicht aus, dass beispielsweise homosexuelle Handlungen mit Strafe bedroht sind, solange die asylsuchende Person nicht glaubhaft machen kann, dass angedrohte Gefängnisstrafen auch vollzogen werden und dass sie selbst von diesem Risiko betroffen ist. Entscheidend sind daher nicht die generellen rechtlichen Regelungen im Herkunftsland, sondern die konkreten nachteiligen Erfahrungen der einzelnen asylsuchenden Person oder deren begründete Befürchtungen, nachteilig behandelt zu werden.

Eine einfache Diskriminierung reicht nicht

Bei der Beurteilung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung im Heimatstaat des Asylsuchenden vorliegt, ist deren Schwere zu berücksichtigen. Verfolgungsmassnahmen sind nur dann asylrelevant, wenn sie auf Grund ihrer Art und Intensität ein menschenwürdiges Leben verunmöglichen oder in unzumutbarer Weise erschweren. Nach der Praxis des SEM wird die «einfache Diskriminierung» von LGBTI Asylsuchenden in ihrem Herkunftsstaats nicht als hinreichend für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erachtet. Die Schwierigkeiten, mit denen diese Personen in ihrem Heimatland konfrontiert sind, beispielsweise behördliche Kontrollen und Schikanen, willkürliche Festnahmen, Diskriminierungen am Arbeits- oder Studienplatz bis hin zum Verlust der Arbeitsstelle, reichen daher unter Umständen nicht aus, wenn sie nicht die geforderte Intensität aufweisen.

Glaubhaftmachen für LGBTI-Personen erschwert

Die Asylpraxis der Schweiz misst der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Asylsuchenden grosse Bedeutung zu. Die asylsuchende Person muss also glaubhaft machen, dass sie wegen ihrer sexuellen Orientierung bzw. Geschlechtsidentität ernsthafte Benachteiligungen erlitten hat bzw. dass solche drohen.

Damit das Vorbringen glaubhaft erscheint, muss die asylsuchende Person ihre persönlichen Erlebnisse lückenlos und ohne wesentliche Widersprüche darlegen. Die gesamte Schilderung muss detailliert, konsistent und lebensnah sein.

Spätere Berichtigungen oder Ergänzungen werden als nachgeschoben und damit unglaubhaft abgetan. Dies ist bei LGBTI Asylsuchenden problematisch, da diese bei der Anhörung zu ihrem Asylgesuch oft nicht offen über ihre sexuelle Orientierung oder ihre geschlechtliche Identität reden können. Betroffene haben nicht selten über Jahre ihre sexuelle Orientierung oder Identität aus Angst und/oder Scham geheim gehalten. Dies kann dazu führen, dass LGBTI Asylsuchende im Asylverfahren andere Fluchtgründe vorgeben oder den wahren Fluchtgrund erst später vorbringen. Nachträgliche Vorbringen sollten daher von den Behörden nicht unbesehen als unglaubhaft angesehen werden. Die Praxis zeigt sich aber oft eher verständnislos gegenüber dieser Lebenswirklichkeit.

Verfolgung verhindern durch diskretes Verhalten?

Das sogenannte Diskretionsargument, wonach ernsthafte Nachteile im Heimat- oder Herkunftsstaat vermieden werden könnten, wenn die Person ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität verstecken würde, darf seit geraumer Zeit nicht mehr verwendet werden. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bereits Ende 2013 festgestellt, dass Homosexuellen nicht zugemutet werden könne, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen, um einer Verfolgung in ihrer Heimat zu entgehen. Entsprechend betont das SEM, dass die sexuelle Orientierung/Geschlechtsidentität ein wesentlicher Teil der menschlichen Identität ist. Das Recht, seine sexuelle Orientierung/Geschlechtsidentität frei, offen und ohne Furcht vor Verfolgung leben zu können, ist daher essentiell.

Psychischer Druck zu wenig gewürdigt

Für Betroffene bleibt es aber eine Schwierigkeit, wenn sie in vielen Fällen ihre sexuelle Identität bzw. Orientierung über eine längere Zeit verborgen haben und deshalb nicht verfolgt wurden, und irgendwann trotzdem aus ihrem Herkunftsstaat flüchten, weil sie befürchten, entdeckt zu werden oder weil sie ihre sexuelle Orientierung/Geschlechtsidentität nicht weiter verstecken können bzw. verstecken wollen.

In der Schweizer Asylpraxis wird zwar davon ausgegangen, dass das Unterdrücken oder das Nicht-Ausleben einer Eigenschaft in gewissen Fällen einen unerträglichen psychischen Druck darstellen kann, der ein lebenswertes Leben verunmöglicht. Der Druck, den Menschen mit einer bestimmten sexuellen Orientierung bzw. Geschlechtsidentität in manchen Herkunftsländern unterliegen - Hindernisse beim Führen einer Liebesbeziehung, der Zwang zur Verheimlichung der Sexualität bzw. Geschlechtsidentität, die ständige Gefahr der Denunziation, die fehlende Unterstützung der Familie -  wird jedoch von den Schweizer Migrationsbehörden oft nicht ausreichend gewürdigt.

Richtlinien des UNHCR

Das UNO Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR hat im Jahr 2012 Richtlinien zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder der geschlechtlichen Identität erlassen, welche das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ergänzen.

Die Richtlinien dienen Regierungen, Asylbehörden und anderen Entscheidungsträger/innen, welche mit der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft befasst sind, zur Rechtsauslegung.

Den Flüchtlingsbegriff ausdehnen

Da es für LGBTI Asylsuchende entsprechend schwierig ist, in der Schweiz Schutz zu erhalten, wird von verschiedenen Seiten gefordert, dass die LGBTI-spezifische Verfolgung nicht einfach dem Auffangtatbestand der «Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe» subsumiert wird. Durch eine Ergänzung von Artikel 3 des Asylgesetzes könnte – in Analogie zu den frauenspezifischen Fluchtgründen – auch denen im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung und Identität Rechnung getragen werden. Die explizite Ergänzung von Fluchtgründen aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität würde zu einer grösseren Sensibilisierung aller involvierten Instanzen und Organisationen führen und wäre daher sehr zu begrüssen. Eine ausdrückliche Erwähnung der sexuellen Orientierung findet sich auch bereits in der einschlägigen EU-Richtlinie.

Die Probleme LGBTI Asylsuchender sind nach der Flucht nicht vorbei

Für die Asylsuchenden hört die Flucht in der Schweiz nicht auf. In den Asylunterkünften sind sie nicht selten der Diskriminierung und der verbalen Gewalt anderer Asylsuchender ausgesetzt. Sie leben mit Personen zusammen, die stigmatisierende Haltungen zur sexuellen Orientierung bzw. Geschlechtsidentität aus ihrer Heimat mitgenommen haben und daher Menschen mit anderer sexueller Orientierung auch in der Schweiz unter Druck setzen. Wichtig wäre daher, dass sich die Asylbehörden und die Mitarbeitenden von Asylzentren und Hilfswerken stärker mit diesem Thema auseinandersetzen und speziell geschult werden. Insbesondere muss bei der Unterbringung berücksichtigt werden, dass es sich bei LGBTI Asylsuchenden um eine besonders vulnerable Personengruppe handelt. Den Geflüchteten muss in der Schweiz ein sicheres zu Hause gewährt werden, wo sie frei von Diskriminierungen leben können.

Dokumentation