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Zugang zum Recht – für Gefangene versperrt

23.11.2018

Menschen im Straf- und Massnahmenvollzug bleibt der Zugang zum Recht häufig verwehrt. Dies obwohl es sich beim Freiheitsentzug um den stärksten staatlichen Grundrechtseingriff überhaupt handelt. Mit der «Beratungsstelle für Menschen im Freiheitsentzug» möchte humanrights.ch dies verändern.

(Veröffentlicht in der Jubiläumspublikation: 40 Jahre Demokratische Jurist_Innen Schweiz)

«Aufgrund des bisherigen Vollzugsverhaltens wird Tarek Rosiqi in die SIA II (Kleingruppe) für die vorläufige Dauer von 6 Monaten verlegt». So steht es in der Verfügung vom 20. März 2017 der Sicherheitsdirektion eines kleinen Schweizer Kantons. Mit einem einzigen Satz wird hier entschieden, dass Rosiqi für ein halbes Jahr in ein sehr restriktives Haftsetting einer Strafanstalt verlegt wird. Rosiqi hatte zuvor in einem kleinen Regionalgefängnis darauf gewartet und gehofft, in den Normalvollzug einer Strafanstalt verlegt zu werden.

Aus der Verfügung geht nicht hervor, welches konkrete «bisherige Vollzugsverhalten» dem Adressaten vorgeworfen wird. Zudem bleiben die konkreten Haftbedingungen in der Sicherheitsabteilung unerwähnt; die entsprechenden Informationen muss sich Rosiqi von «gefängniserprobten» Mitgefangenen geben lassen.

Diese berichten ihm, dass er in den nächsten sechs Monaten nur dreimal pro Woche duschen darf, nur halbtags arbeiten kann und auf eine schulische Ausbildung oder Weiterbildung verzichten muss. Auch werde er sich nicht sportlich betätigen können. Zudem befinden sich im Kleingruppenvollzug maximal fünf Personen. Dies im Gegensatz zum Normalvollzug, wo man mit ganz unterschiedlichen Menschen in Kontakt kommt. Die Einschränkung der sozialen Kontakte sei für ihn besonders schlimm, so Rosiqi: «Man kann sich da seine Freunde nicht selber aussuchen».

Die geschilderte Situation ist Alltag im schweizerischen Justizvollzug: Gefangene werden immer wieder mit einschneidenden Vollzugsentscheiden konfrontiert, die nur beschränkt verständlich sind und gegen die sie sich kaum zur Wehr setzen können.

Hürden für Betroffene…

Mit der Rechtskraft des Strafurteils wird der Zugang zum Recht für viele Gefangene schwierig. Während des Strafprozesses konnten sie noch auf die Unterstützung durch eine Anwältin oder einen Anwalt zählen, die oder der ihnen als amtliche Verteidigung unentgeltlich zur Seite gestellt wurde. Diese Unterstützung fällt weg, sobald das Strafurteil definitiv geworden ist, was für die Betroffenen eine tiefgreifende Änderung darstellt. Sie stehen plötzlich alleine einer übermächtigen Behörde gegenüber. Spätestens jetzt erkennen sie, dass Rechte haben und Recht bekommen zwei Paar Schuhe sind.

Für Gefangene ist es enorm anspruchsvoll, überhaupt zu wissen, welche Rechte sie haben und wie sie diese durchsetzen können. Gemäss der Vollzugsstatistik des Bundesamtes für Statistik sind rund drei Viertel der inhaftierten Personen in der Schweiz ausländischer Herkunft. Gefangene kennen häufig das Schweizer Rechtssystem kaum, sprechen oftmals keine der Landessprachen, können zum Teil weder lesen noch schreiben und verfügen meistens über keine finanziellen Mittel. In vielen Fällen haben sie zudem kein (familiäres) Umfeld, das sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützen könnte. Selbstständige Recherchen und die Kontaktaufnahme mit Anwälten/-innen sind aufgrund der eingeschränkten Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten während des Vollzugs wenig realistisch.

Ein weiteres Problem sind die kurzen Beschwerdefristen bei Disziplinarmassnahmen. Wer in Einzelhaft isoliert wird, hat im Kanton Bern gerade mal drei Tage Zeit, um sich über die verfügte Massnahme rechtsgültig zu beschweren. Angesichts der eingeschränkten Telefonmöglichkeit ist dies beinahe unmöglich, da in dieser Frist ein Anwalt oder eine Anwältin gefunden und kontaktiert werden muss, der oder die dann auch noch sofort Zeit hat, um fristgerecht eine Beschwerde zu verfassen und einzureichen. Das von Behördenseite oft vorgebrachte Argument, dass es sich bei Disziplinarmassnahmen nicht um eine komplexe Materie handle und sich die Betroffenen selber wehren könnten, ist in vielen Fällen realitätsfern. Gerade die Arreststrafe stellt einen starken Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Inhaftierten dar, der insbesondere bezüglich der Verhältnismässigkeit einer präzisen juristischen Abwägung bedarf.

Darüber hinaus gibt es weiche Faktoren, wie etwa die Angst vor zusätzlicher Repression, die verhindern können, dass sich Menschen im Freiheitsentzug zur Wehr setzen (wollen). Wenn es dann einer inhaftierten Person im Einzelfall doch gelingt, sich mit juristischer Hilfe gegen eine Disziplinarsanktion oder gegen einen anderen Vollzugsentscheid zu wehren, bleibt die Beschwerde aufgrund fehlender aufschiebender Wirkung in vielen Fällen wirkungslos. Das Überprüfungsverfahren dauert in der Regel mehrere Monate. In dieser Phase dauert der mutmasslich rechtswidrige Zustand an und ist im Urteilszeitpunkt teilweise bereits wieder vorüber. Gegen Ende des Vollzugs einer Freiheitsstrafe kommt es oftmals vor, dass eine inhaftierte Person, die sich gegen die Verweigerung einer bedingten Entlassung wehrt, ihre Strafe bereits voll verbüsst hat, wenn das Verfahren endlich abgeschlossen ist.

…und für Anwälte/-innen

Kompliziert ist das Feld des Freiheitsentzugs nicht nur für die inhaftierten Personen, sondern auch für Anwälte/-innen. Diese nehmen die Fälle häufig gar nicht erst an, da man in diesem Tätigkeitsbereich (wirtschaftlich) fast nur verlieren kann: Besuche in Hafteinrichtungen sind zeitaufwändig und die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (URP) ist ungewiss. Als Ablehnungsgründe für die URP im Straf- und Massnahmenvollzug werden etwa aufgeführt, dass im Vollzugsverfahren der Untersuchungsgrundsatz gelte, die Eingriffsschwere von Vollzugsentscheiden nicht besonders stark sei und sich keine besonders schwierigen Rechtsfragen stellten. Die restriktive Handhabung der URP steht im krassen Gegensatz zu den umfassenden Auswirkungen der Freiheitsstrafe auf praktisch alle Lebensbereiche und zum besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat, in dem sich inhaftierte Personen befinden. Ganz im Gegensatz zur heutigen Praxis wäre es dringend notwendig, grundsätzlich allen Personen, die sich (über längere Zeit) im Freiheitentzug befinden, unentgeltlichen Rechtsbeistand zu gewähren.

Weil nur wenige Anwälte/-innen auf Vollzugsfragen spezialisiert sind und die Gefangenen kaum Möglichkeiten haben, sich eine Rechtsvertretung zu organisieren, bleiben Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege bei zahlreichen einschneidenden Vollzugsentscheiden oftmals einfach gänzlich aus. Dies auch in Fällen, bei welchen die Voraussetzungen für die unentgeltliche Rechtsvertretung klar erfüllt wären.

Übermächtige Behörden und Vollzugseinrichtungen

Doch warum braucht es überhaupt Anwälte/-innen im Straf- und Massnahmenvollzug, wenn doch einzig richterliche Urteile «vollzogen» werden?

Der Begriff täuscht darüber hinweg, dass sich die Grundrechtseinschränkungen eben nicht in der blossen Umsetzung der gerichtlich angeordneten Sanktion erschöpfen, sondern weit darüber hinausgehen. Den Vollzugsalltag prägen Regeln und Kontrollen, von denen die meisten grundrechtlich bedeutsam sind: Etwa Beschränkungen der Besuche, Überwachung des Post- und Telefonverkehrs, eingeschränkte medizinische Versorgung oder Arbeitspflicht. Verlangt wird absoluter Gehorsam gegenüber den Regeln der Institution.

Wenn sich Gefangene nicht normgemäss verhalten, müssen sie damit rechnen, dass sie diszipliniert und bestraft werden: Sei es durch Arrest, Verweigerung des Urlaubs, Einschränkungen der Besuchsmodalitäten, Verweigerung der bedingten Entlassung oder Verlängerung einer stationären Massnahme, Entzug des Fernsehgerätes oder der abonnierten Zeitung. Die Definitionsmacht, wie «normgemässes Verhalten» aussieht, beziehungsweise ob eine Norm verletzt wurde und welche Konsequenzen das hat, liegt zum grossen Teil in der Hand der Justizvollzugseinrichtungen und -behörden.

«Für diesen Verstoss gegen die Hausordnung werden Sie als Disziplinarmassnahme für zwei Wochen mit Zimmereinschluss belegt. So können Sie über Ihr Fehlverhalten nachdenken», steht es dann beispielsweise in einer Verfügung der Anstaltsdirektion, wenn sich eine Person «respektlos» gegenüber dem Personal verhalten hat. Die Durchsetzung von Zucht und Ordnung mit dem Ziel, auf die Gefangenen einzuwirken, sie gefügig und folgsam zu machen und damit auch die Arbeit der Vollzugsmitarbeitenden zu erleichtern, ist auch heute noch ein zentrales Element des schweizerischen Justizvollzugs. Die repressive Vollzugsrealität wird von den Betroffenen häufig als weitaus gravierender empfunden als der Entzug der (Bewegungs-) Freiheit an sich.

Auch unterhalb der Schwelle von formell verfügten Vollzugsentscheiden bestehen Mittel, um Gefangene zu disziplinieren und unter Druck zu setzen. Hierzu gehören gemäss einer etwas älteren aber in dieser Hinsicht nach wie vor aktuellen Studie des Ethnologen Christoph Mäder beispielsweise das «Vergessen» (einer Abmachung, eines Versprechens, eines Medikaments), das «Wartenlassen» (in der Zelle, auf eine Antwort, in einem bestimmten Haftsetting), das «genaue Hinsehen» (filzen oder Razzien in der Zelle), das «Anzünden» (etwa durch Anspielung auf verbleibende Zeit in Haft oder der Frage, was wohl die Partnerin draussen so alles unternimmt), das «Im-Ungewissen-lassen» (durch fehlende Information bezüglich wichtiger Sachverhalte) oder das «Verlegen» (in eine Sicherheitsabteilung oder zu ungemütlichen Zellennachbarn/-innen oder in eine andere Anstalt). Ob diese Mittel des Machtmissbrauchs vom Personal genutzt werden oder nicht, hängt stark von der jeweiligen Institutionskultur und den Führungspersonen ab. Ausserdem dürfte sich die Gefahr des Machtmissbrauchs in den vergangenen Jahren dank einer Professionalisierung der Ausbildung verringert haben.

Bei all diesen Praktiken kommt den Gerichtsinstanzen oftmals keine unmittelbare Autorität zu, da schon die Festlegung der Sachverhalte zu grossen Teilen in den Händen der Vollzugsbehörden und Institutionen liegt. Wenn beispielsweise in einem Ereignisbericht festgehalten wird, dass Herr X den vor ihm stehenden Stuhl in einer bestimmten Situation «mit erheblicher Kraftanwendung mehrmals auf den Boden geschlagen hat», fliesst diese Darstellung in die Vollzugsakten ein –  auch wenn der Betroffene die Situation ganz anders erlebt hat. Beweise für den Sachverhalt – wie zum Beispiel der beschädigte Stuhl – müssen keinen Richter/innen vorgelegt werden. Oftmals bekommen die Betroffenen selbst die Ereignis- oder Vollzugsberichte nicht einmal zu Gesicht, obwohl sich daraus gravierende Konsequenzen ergeben können, wie etwa eine Verlängerung der Haftzeit oder die Verlegung in eine Sicherheitsabteilung.

Neben der Unschuldsvermutung und des rechtlichen Gehörs werden auch andere (strafrechtliche) Verfahrensrechte wie beispielsweise der Grundsatz, sich nicht selber belasten zu müssen, im (verwaltungsrechtlichen) Vollzugsverfahren ausgehebelt. So etwa im Rahmen einer Psychotherapie, bei der niemand die Betroffenen darauf hinweist, dass sie sich nicht selber belasten müssen. Im Gegenteil: Sinn und Zweck der Therapie ist es ja gerade, in den Tiefen der Persönlichkeit nach deliktischen Motiven und problematischen Mustern zu forschen. Wenn die Betroffenen den Therapeut/innen also Mordfantasien schildern, kann dies im Haftprüfungs- und im Verlängerungsverfahren einer stationären Massnahme oder beim Entscheid über die bedingte Entlassung gegen sie verwendet werden. Im Straf- und Massnahmenvollzug werden also laufend «Beweise» geschaffen, welche in Anwendung von Art. 141 der Strafprozessordnung (StPO) eigentlich einem Verwertungsverbot unterliegen müssten.

Strukturell rechtswidrige Zustände

Neben den beschriebenen Mechanismen und Praktiken, welche das Machtungleichgewicht zwischen staatlichen Vollzugsbehörden und -einrichtungen einerseits und den Gefangenen andererseits zum Teil auf subtile Weise prägen und fördern, gibt es im schweizerischen Justizvollzug auch zahlreiche offensichtliche und rechtlich unhaltbare Missstände.

Zu den gravierendsten Problemen gehört die nicht-sachgemässe Unterbringung von psychisch kranken Menschen. Die zunehmende Verlagerung vom Straf- zum Massnahmenrecht führt dazu, dass die Population an Behandlungsgefangenen stetig zunimmt, ohne dass dafür genügend geeignete Haft- und Therapieplätze verfügbar wären. Personen, die zu einer stationären Massnahme nach Art. 59 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB; sogenannte «kleine Verwahrung») verurteilt werden, müssen zum Teil monate- oder sogar jahrelang in Regional- beziehungsweise Untersuchungsgefängnissen warten, bis eine geeignete Einrichtung gefunden wird. Gemäss einem Bericht der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeitdirektoren (KKJPD) warteten 2016 mindestens 300 Personen (!) auf einen geeigneten Massnahmenplatz. Diese Situation hat sich bis heute kaum verbessert.

Konkret bedeuten diese «Vollzugsverzögerungen» für die Betroffenen, dass sie die Therapie nicht erhalten, zu der sie verurteilt worden sind und die für sie dringend notwendig ist. Dass psychisch kranke Menschen zum Teil jahrelang in einem Untersuchungs- oder Regionalgefängnis auf die Verlegung in eine geeignete Einrichtung warten, ist mit rechtsstaatlichen und medizinisch-psychiatrischen Grundsätzen unvereinbar. Für die Betroffenen kann diese unrechtmässige Inhaftierung zu körperlichen und psychischen Schäden führen, welche die vorbestehenden psychischen Störungen noch verstärken oder verfestigen und im Extremfall zu einer Unbehandelbarkeit führen.

Im Umgang mit der «kleinen Verwahrung» zeigen sich neben den fehlenden Haftplätzen zahlreiche weitere rechtliche Probleme. In seinen Empfehlungen vom Juli 2017 wies der UNO-Menschenrechtsausschuss darauf hin, dass die stationäre Platzierung von psychisch Kranken nur als letztes Mittel angewendet werden darf und dass Alternativen zum institutionellen Freiheitsentzug gefunden und angewendet werden müssen. Der Ausschuss empfiehlt der Schweiz, die gesetzlichen Bestimmungen anzupassen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen. Am 9. Januar 2017 hat zudem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz in einem wegweisenden Entscheid (Kadusic gegen die Schweiz) wegen der nachträglichen Anordnung einer therapeutischen Massnahme nach Art. 59 verurteilt. Aktuell sind in Strassburg weitere Beschwerdeverfahren gegen die Schweiz bezüglich Art. 59 StGB hängig – so etwa im Fall von «Igor L.». Dieser wurde insgesamt fünf Jahre lang in verschiedenen Regionalgefängnissen sowie in der Hochsicherheitsabteilung einer Strafvollzugsanstalt untergebracht, bevor er die für seine Erkrankung indizierte Therapie in einer geeigneten Einrichtung überhaupt beginnen konnte.

Es fehlen in der Schweiz nicht nur Massnahmenplätze, sondern auch Strafvollzugsplätze. Gemäss Art. 76 StGB müssten Freiheitsstrafen ab sechs Monaten in einer offenen oder geschlossenen Strafanstalt – das heisst, in einer für eine längere Aufenthaltsdauer geeignete Institution – vollzogen werden. Auch hier ist es so, dass die Inhaftierten nach dem rechtskräftigen Urteil bisweilen noch lange in einem Regional- oder Untersuchungsgefängnis ausharren müssen, bevor sie in die gesetzlich vorgesehene Strafanstalt übertreten können. Rückverlegungen aus psychiatrischen Kliniken und spezialisierten Massnahmeeinrichtungen in Regional- und Untersuchungsgefägnisnisse infolge angeblicher Untragbarkeit gehören ebenfalls zur Tagesordnung.

Besonders belastend ist der Aufenthalt für die Menschen im «Wartesaal Untersuchungsgefängnis», insbesondere deshalb, weil sie kaum je darüber orientiert werden, wann eine Verlegung stattfinden wird. Die Vollzugsbehörden stellen sich regelmässig auf den Standpunkt, die Bestimmung des Eintrittstermins in eine Massnahmeneinrichtung oder in eine Vollzugsanstalt liege nicht in ihrem Kompetenzbereich. Vielmehr werde der Verlegungstermin durch die aufnehmende Institution entsprechend den frei werdenden Plätzen bestimmt. Die aufnehmenden Einrichtungen ihrerseits berichten, dass sie «Wartelisten» für angemeldete Personen führen, wobei unklar ist, nach welchen Kriterien die angemeldeten Personen berücksichtigt werden.

So kommt es vor, dass Gefangene, die schon sehr lange im Regional- oder Untersuchungsgefängnis auf einen geeigneten Platz warten, mitansehen müssen, wie neueingewiesene Zellennachbarn/-innen im Gegensatz zu ihnen schon nach kurzer Zeit in ein angemessenes Setting verlegt werden. Die fehlende Transparenz führt zu Frustration bei den Betroffenen und schwächt ihr Vertrauen in den Rechtsstaat massiv. Ein «Case Management» im Sinne einer durchgehenden, persönlichen Begleitung eines Menschen gibt es kaum. Die betroffenen Personen werden im Labyrinth des Straf- und Massnahmenvollzugs scheinbar willkürlich hin und her geschoben. In vielen Fällen fehlt es hierbei auch gänzlich an den gesetzlich an sich vorgeschriebenen individuellen Vollzugsplänen. Solche müssten nach Antritt der Freiheitsstrafe oder der Massnahme zwingend zusammen mit der verurteilten Person erstellt werden. Mit dem individuellen Vollzugsplan werden zu erreichende Zwischenziele definiert und gleichzeitig eine Zukunftsperspektive aufgezeigt.

Eine weitere rechtlich problematische Tendenz der Justizbehörden besteht darin, immer weniger von Lockerungen wie etwa Ausgang, Freigang, bedingte Entlassung Gebrauch zu machen, obwohl ein grundrechtlicher Anspruch auf die Gewährung von Vollzugsprogressionen besteht und die Nichtgewährung auch dem Normalisierungsgrundsatz diametral entgegensteht. Ein wesentlicher Zweck des Strafvollzugs besteht nämlich gemäss Art. 75 StGB darin, den Gefangenen möglichst viel Selbstverantwortung und Autonomie zu belassen oder zu gewähren, damit sie während des Vollzuges nicht verlernen, ein realitätsbezogenes Leben zu gestalten und zu führen. Das gesteigerte gesellschaftliche Sicherheitsbedürfnis führt stattdessen zu einer Politik der Nulltoleranz und der Ausrichtung aller Entscheide auf maximale Sicherheit. Dies betrifft etwa die bedingte Entlassung nach zwei Dritteln der Strafe, welche gemäss Art. 86 StGB die Regel darstellen sollte, aber heute immer öfter wegen abstrakten Sicherheitsüberlegungen verweigert wird.

Das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsschutz

Mit dem Abschluss des Strafverfahrens sind keinesfalls alle für die Beschuldigten rechtlich relevanten Fragen geklärt. Im Gegenteil: Mit dem rechtskräftigen Urteil beginnt für die Gefangenen häufig eine Odyssee, auf der sie, durch die widrigen Winde der übermächtigen Justiz- und Vollzugsbehörden gelenkt, orientierungslos umherirren und von der sie nach vielen Jahren oftmals als gebrochene Menschen in die Gesellschaft entlassen werden. Häufig haben sie sowohl subtile Formen von Unterdrückung wie auch offensichtliche Rechtsverletzungen in Kauf nehmen müssen.

Gerade weil die Menschen im Freiheitsentzug dem Staat so umfassend ausgeliefert sind, ist ein wirksamer Rechtsschutz zentral. Dieser ergibt sich sowohl aus der verfassungsmässigen Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) wie auch aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäss Europäischer Menschenrechtskonvention (Art. 6 EMRK). Er erschöpft sich nicht in der theoretischen Möglichkeit, sich bei einem Gericht zu beschweren, sondern muss auch die faktische Möglichkeit zur Durchsetzung von Rechten beinhalten – denn individuelle Rechte nützen nichts, wenn sie nicht angerufen und durchgesetzt werden können.

Hierfür ist entscheidend, dass die Betroffenen sich überhaupt informieren können, welches ihre Rechte sind. Die gute Information der Gefangenen über ihre rechtliche Situation und mögliche Handlungsoptionen gehört demnach zu den Mindestanforderungen an einen menschenwürdigen Freiheitsentzug.

Spezifiziert wird dieser Anspruch in zwei menschenrechtlichen Richtlinien: Gemäss den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen haben alle Gefangenen Anspruch auf Rechtsberatung, und die Vollzugsbehörden haben ihnen hierzu in angemessener Weise den Zugang zu ermöglichen (Ziff. 23.1). Auch die UNO-Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen («Nelson Mandela Rules») halten in der Regel 61 fest: «Den Gefangenen sind ausreichende Gelegenheit, Zeit und Möglichkeiten zu geben, damit sie von einem Rechtsberater ihrer Wahl oder einem Anbieter rechtlicher Unterstützung aufgesucht werden, mit diesem verkehren und sich von ihm beraten lassen können».

Unabhängige Beratungsstelle für Menschen im Freiheitsentzug

Diesem menschenrechtlichen Anspruch möchte die Organisation humanrights.ch Geltung verschaffen. Seit Februar 2017 betreibt die Menschenrechtsorganisation eine «unabhängige Beratungsstelle für Menschen im Freiheitsentzug» mit Schwerpunkt im Kanton Bern. Als strategische Partnerorganisationen unterstützen die Demokratischen Jurist/innen und die Aktion zur Abschaffung der Folter (ACAT) das Projekt. Finanziell unterstützt wird das Projekt von den Kirchen und privaten Stiftungen.

Die Beratungsstelle hört die Betroffenen an, trifft erste Abklärungen, sieht die Akten ein, unterstützt sie dabei, ihre Situation zu verstehen, zeigt mögliche Handlungsoptionen auf und verfasst Briefe sowie formelle Rechtsbeschwerden an die Behörden. In komplexen Fällen vermittelt die Beratungsstelle spezialisierte Anwälte/-innen.

Hierzu hat die Beratungsstelle eine Fachgruppe an kompetenten und motivierten Anwälten/-innen aufgebaut und finanziert jährlich eine begrenzte Anzahl an Rechtsvertretungen. Das Ziel ist es, die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch zwischen Anwälten/-innen zu fördern und Kompetenzen aufzubauen. Aktuell könne man die wenigen Anwälte/-innen überspitzt gesagt «als einen Haufen Barbaren bezeichnen, die einem gut organisierten römischen Vollzugsbehördenheer gegenüberstehen», so ein Anwalt aus der Fachgruppe. Nur durch Kooperation sei es möglich, das grosse Wissens- und Kompetenzdefizit seitens der Rechtsanwälte/-innen gegenüber den Vollzugsbehörden auszugleichen.

Durch einen Zufall hat auch Tarek Rosiqi vom Angebot von humanrights.ch erfahren. Nach einer ersten telefonischen Beratung entschied sich humanrights.ch, gemeinsam mit einem Rechtsanwalt und mit Unterstützung eines Studenten der Law Clinic der Universität Bern eine Beschwerde beim zuständigen Regierungsrat einzureichen.

Drei Monate nach Einreichen der Beschwerde gab die Sicherheitsdirektion Herrn Rosiqi teilweise recht und hob die Verfügung mit der Begründung auf, dass sie «mangelhaft begründet war» und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorlag.

In derselben Verfügung begründete die Vollzugsbehörde ausführlich, warum Herr Rosiqi trotzdem in der Sicherheitsabteilung verbleiben muss. Es soll hier nicht näher darauf eingegangen werden, ob die neu aufgeführten Gründe aus rechtlicher Sicht genügend stichhaltig waren, um die sechsmonatige Unterbringung in der Sicherheitsabteilung zu rechtfertigen. Der Fall zeigt aber beispielhaft, dass die Vollzugsbehörden zurzeit nichts zu befürchten haben, wenn sie ihre Entscheide ungenügend begründen. Denn nur die wenigsten Gefangenen können sich – wie Tarek Rosiqi – mit rechtlicher Unterstützung dagegen zur Wehr setzen.

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