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Von Fortschritten bei der Anerkennung von Gebärdensprachen hin zu einer Politik der vollständigen Inklusion

08.06.2023

Der Ständerat hat im Dezember 2022 die Motion des Nationalrats zur Anerkennung der drei Schweizer Gebärdensprachen (Französisch, Schweizerdeutsch und Italienisch) angenommen. Derzeit ist der Bundesrat damit beschäftigt, ein neues Bundesgesetz zu dieser Anerkennung vorzubereiten. Für die Gehörlosengemeinschaft ist eine gesetzliche Grundlage auf Bundesebene zwingend, um konkrete Massnahmen gegen die Hürden im Alltag von gehörlosen und schwerhörigen Menschen zu ergreifen. Diese Hürden betreffen alle Lebensbereiche: Arbeit, Ausbildung, Zugang zu medizinischer Versorgung, Kommunikation und Information. Die Anerkennung erfordert gleichzeitig eine Politik der vollständigen Inklusion. Die Stimme einer gehörlosen Person, die sich in Gebärdensprache ausdrückt, muss zählen!

Gastartikel von Christian Gremaud. Der Kommunikationsexperte ist seit seiner Geburt gehörlos. Um die Anliegen von Gehörlosen und allgemein Menschen mit Behinderungen voranzutreiben, kandidiert Gremaud für den Nationalrat.

Das 2004 in Kraft getretene Bundesgesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BehiG) feiert bald sein 20-jähriges Bestehen. Leider führte dieses Gesetz nicht zu grossen Fortschritten in Bezug auf die alltäglichen Bedürfnisse von gehörlosen und hörbehinderten Menschen. Darüber hinaus ist die Schweiz, die das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK) ratifiziert hat, in den letzten neun Jahren ihren Umsetzungsverpflichtungen in allen Bereichen, die gehörlose und hörgeschädigte Menschen betreffen, nicht ausreichend nachgekommen.

Noch immer hohe Hürden für Gehörlose trotz Gleichstellungsgesetz

Auf dem Arbeitsmarkt stossen die meisten Betroffenen nach wie vor auf Hindernisse bei der Kommunikation mit ihren Kolleg*innen, Partner*innen und Kund*innen. Obwohl die Konvention (UNO-BRK) von der Schweiz die Gewährleistung der Rechte dieser Menschen auf dem Arbeitsmarkt verlangt, bezahlt die Invalidenversicherung (IV) nur 10 Dolmetschstunden pro Monat. Oberhalb dieser Schwelle besteht das Problem für die meisten Arbeitgeber*innen darin, dass sie diese Kosten mangels eigener finanzieller Mittel nicht übernehmen können. Aus diesem Grund sind gehörlose und hörgeschädigte Menschen dreimal so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen.

Setzen wir die Situationen, mit denen diese Menschen konfrontiert sind, in die richtige Perspektive. Nehmen wir als Beispiel eine gehörlose ETH-Architektin, die als Arbeitgeberin in einem Architekturbüro tätig ist. In dieser Funktion muss sie für die erfolgreiche Umsetzung ihrer Projekte regelmässig mit ihren Kund*innen und zahlreichen Fachpersonen in Kontakt treten. Dank der Anwesenheit von Dolmetscher*innen bei diesen Treffen (auf Baustellen, mit Behörden, mit Bauherr*innen, bei Verhandlungen usw.) ist sie in ihrer Praxis als Architektin autonom. Das aktuelle Gesetz über die Kostenerstattung für Dolmetscher*innen ist jedoch nicht an die tatsächlichen und schwankenden Bedürfnisse angepasst, da es eine einkommensabhängige monatliche Obergrenze vorschreibt. Dies bedeutet eine erhebliche Einschränkung und hindert diese Fachkraft daran, ihre Arbeit im Vergleich zu ihren Kolleg*innen gleichberechtigt zu erledigen.

Dasselbe gilt für Behördengänge, unabhängig ob auf kommunaler, kantonaler oder eidgenössischer Ebene. Ein konkretes Beispiel ist eine RAV-Beraterin, die es vorzog, E-Mails auszutauschen, anstatt die gehörlose Person zu einem Betreuungsgespräch in Anwesenheit eines Gebärdensprachdolmetschers vorzuladen. Infolge eines Missverständnisses im Verfahren der Stellensuche wurde die gehörlose Person sanktioniert, was eine Kürzung ihrer Arbeitslosengelder zur Folge hatte.

Darüber hinaus absolvieren immer noch zu wenige gehörlose und schwerhörige Personen eine höhere Ausbildung an einer Hochschule oder Universität. Die Gründe für diese Zugangsbeschränkungen im Zusammenhang mit Gehörlosigkeit sind vielfältig, aber sie hängen auch mit den Dolmetschkosten zusammen. Die Frage der Dolmetschkosten ist ein zentrales Anliegen. Diese Problematik muss so schnell wie möglich neu diskutiert und bewertet werden, damit die betroffenen Bevölkerungsgruppen die gleichen Chancen erhalten und eine Gleichbehandlung erfahren.

Ich selber war in der obligatorischen Schule, auf dem Arbeitsmarkt und bei Behördengängen mehrfach Opfer von Diskriminierungen. Diese waren ausschliesslich auf meine Gehörlosigkeit zurückzuführen. An der Universität weigerte sich ein Professor, dass eine Dolmetscherin an meiner halbstündigen mündlichen Prüfung teilnahm, weil er Angst hatte, dass ich schummeln würde. Diese Prüfung wurde durch eine vierstündige schriftliche Prüfung ersetzt. An meiner ersten Arbeitsstelle wurde ich aufgrund meiner Gehörlosigkeit sehr schlecht bezahlt. Mein Vorgesetzter schlug mir deswegen vor, meine Eltern um finanzielle Unterstützung zu bitten, um den Verdienstausfall auszugleichen. Schliesslich entliess man mich bei einer der führenden Organisationen, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt, mit der einzigen Begründung, dass man keine Erfahrungen mit einer gehörlosen Person habe.

Es braucht eine gesetzliche Grundlage zur Anerkennung der Gebärdensprache

Um dies zu erreichen, muss in erster Linie eine Rechtsgrundlage für die Anerkennung von Gebärdensprachen geschaffen werden. Dadurch kann die Diskriminierung gehörloser Menschen beseitigt werden, die durch das Kommunikations- und Informationsproblem aufgrund der fehlenden "Brücke" zwischen der Gehörlosengemeinschaft und dem Rest der Welt entstehen. Diese Anerkennung ist Ausdruck ihrer Identität und Kultur, wodurch diese "Brücke" gebaut werden kann und sich die Chancen auf Zugang und Inklusion verbessern.

In diesem Sinne zwingt die Annahme der Motion 22.3373 «Anerkennung der Gebärdensprache durch ein Gebärdensprachengesetz» den Bundesrat, ein neues Gesetz über die Anerkennung von Gebärdensprachen zu prüfen und dabei die in der Motion angesprochenen Punkte zu berücksichtigen. In einem ersten Entscheid hatte der Bundesrat die Motion abgelehnt mit der Absicht, die Anerkennung von Gebärdensprachen in das bereits bestehende Gesetz aufzunehmen. Die Gehörlosengemeinschaft lehnt dies ab und fordert die Schaffung eines neuen Bundesgesetzes.

Auf kantonaler Ebene wird die Gebärdensprache in den Kantonen Genf und Zürich anerkannt. Vor kurzem wurde sie auch im Tessin angenommen. In anderen Kantonen ist diese Anerkennung in Diskussion oder steht kurz vor der Annahme. Leider wird im Fall von Bern im Postulatsbericht vorgeschlagen, sie auf kantonaler Ebene nicht anzuerkennen, da dies nicht notwendig sei. Die Gehörlosengemeinschaft übt derzeit Druck auf das Berner Parlament und die Regierung aus, die Gebärdensprache anzuerkennen.

Ohne Gebärdensprache keine politische Teilhabe und keine Inklusion

Etwa eine Million Menschen leben mit einer Hörbehinderung. Davon sind ungefähr 10'000 Personen von Geburt an gehörlos oder stark hörbehindert. Mindestens 20'000 Personen beherrschen eine der drei Gebärdensprachen. Derzeit gibt es in der Nationalversammlung nur einen Nationalrat mit einer Behinderung, was weniger als einem Prozent entspricht. Bisher wurde noch kein*e gehörlose*r Parlamentarier*in gewählt. Ich selbst bin seit meiner Geburt gehörlos und kandidiere bei den nächsten eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober 2023 für den Nationalrat.

Um meinen Wahlkampf erfolgreich und auf gleicher Basis wie die anderen Kandidatinnen und Kandidaten zu führen, muss ich an verschiedenen Aktionen teilnehmen, z. B. Flyer auf der Strasse verteilen, auf Wählerinnen und Wähler zugehen, an öffentlichen Debatten teilnehmen oder Interviews für die verschiedenen Medien geben. Für all diese Massnahmen ist es unerlässlich, dass ich über eine*n Gebärdensprachdolmetscher*in verfüge, um die Kommunikation mit den verschiedenen Gesprächspartner*innen zu erleichtern. Keine öffentliche Institution oder Einrichtung finanziert die Kosten für Dolmetscher*innen, was gegen Art. 29 der UNO-BRK über die Förderung der Beteiligung am politischen Leben verstösst. Ich führte eine Crowdfunding-Kampagne durch, um Geld für die Finanzierung dieses Dienstes zu sammeln. Dank der enormen Grosszügigkeit der Bevölkerung hatte ich das grosse Glück, die sehr schöne Summe von 14'370 CHF zu sammeln. Wenn die Gebärdensprache anerkannt würde, wäre ein solches Vorgehen nicht notwendig.

Erinnern wir die eidgenössischen und kantonalen Behörden daran, dass sie verpflichtet sind, die Anforderungen des Übereinkommens (UNO-BRK) zu erfüllen. Beispielsweise sind sie verpflichtet, Menschen mit Behinderungen, einschliesslich gehörloser Menschen, im Rahmen des Verfahrens zur Ausarbeitung eines neuen Gesetzes oder einer Gesetzesrevision sowie im Rahmen des Projekts und des Programms, das sie betrifft, zu konsultieren.

Der Bundesrat ist gemäss Art. 21e der UNO-BRK verpflichtet, die Anerkennung von Gebärdensprachen umzusetzen und die volle Inklusion von gehörlosen und hörbehinderten Menschen in die Gesellschaft generell voranzutreiben. An dem Tag, an dem die Gebärdensprachen anerkannt werden, werden sich die Rechte gehörloser Menschen wie die Rechte aller anderen Bürger*innen weiterentwickeln. Eine entsprechende Umsetzung des Übereinkommens hat zum Ziel, jegliche Diskriminierung am Arbeitsplatz zu beseitigen, indem beispielsweise die Zeit, die für das Dolmetschen in die Gebärdensprache aufgewendet wird, nicht mehr begrenzt wird, oder ganz allgemein auf dem Arbeitsmarkt, indem nicht mehr nach Behinderung unterschieden wird.

Neben dem Bundesrat nimmt auch das Parlament einen wichtigen Platz im Gesetzgebungsprozess ein. Nicht nur für mich, sondern auch für andere Menschen mit Behinderungen spielt die Teilnahme am politischen Leben eine zentrale Rolle bei der Verteidigung ihrer Interessen und der Gewährleistung ihrer Rechte gemäss UNO-BRK sowie bei der Beseitigung aller Formen von Diskriminierung aufgrund einer Behinderung jeglicher Art. Diese Beteiligung zielt darauf ab, unsere Gesellschaft integrativer zu gestalten. Die Stimme einer gehörlosen Person, die sich in der Gebärdensprache ausdrückt, muss zählen! Die Umsetzung einer Politik der vollständigen Inklusion beginnt mit einer Kampagne zur Sensibilisierung für Behinderungen und reicht bis zur vollständigen Beseitigung von Barrieren, indem konkrete Massnahmen zur Verbesserung der Zugänglichkeit in allen Bereichen ergriffen werden. Es werden mehrere Jahre nötig sein, um eine vollständige Barrierefreiheit zu schaffen.