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Staatenlose Personen in der Schweiz

21.12.2018

Staatenlosigkeit ist in der Schweiz ein wenig bekanntes Phänomen. Nach den aktuellen Zahlen des Staatssekretariats für Migration (SEM) waren Ende 2016 471 Personen als staatenlos anerkannt. Die Zahl der effektiv staatenlosen Menschen in der Schweiz dürfte jedoch deutlich höher sein.

Das Büro des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge UNHCR in der Schweiz und Liechtenstein geht davon aus, dass unter den in der Schweiz registrierten Personen, deren Herkunftsstaat als unbekannt gilt, etliche staatenlos sind. Das Büro für hat im November 2018 eine umfassende Studie zu Staatenlosigkeit in der Schweiz veröffentlicht. Das rund 150-seitige Mapping ist die erste Studie, die Staatenlosigkeit in der Schweiz systematisch zu erfassen versucht, die Rechtslage staatenloser Personen darlegt und konkrete Empfehlungen an die Behörden macht.

Rechtlicher Schutz für Staatenlose

Personen, die von der Schweiz als staatenlos anerkannt werden, erhalten eine Aufenthaltsbewilligung und können ein Reisedokument beantragen, mit dem sie in der Schweiz und im Ausland reisen können. Mit diesem Aufenthaltsstatus können Staatenlose in der Schweiz bleiben und haben u.a. das Recht, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Damit eine Person als staatenlos anerkannt wird, muss sie beim Staatssekretariat für Migration (SEM) ein Gesuch zur Feststellung der Staatenlosigkeit stellen. Das SEM prüft dann, ob die Person tatsächlich von keinem Staat der Welt als sein Angehöriger betrachtet wird. Als Beschwerdeinstanz ist das Bundesverwaltungsgericht zuständig. Dessen Entscheide können an das Bundesgericht weitergezogen werden. Während des Feststellungsverfahrens haben die Betroffenen kein besonderes Aufenthaltsrecht.

Das Feststellungsverfahren

Anders als beispielsweise das Asylverfahren ist das Verfahren zur Anerkennung Staatenloser jedoch nicht gesetzlich festgelegt. So werden auf Gesetzesstufe oder mit Bundesbeschlüssen höchstens Teilaspekte geregelt, wie zum Beispiel der Aufenthaltsstatus für als staatenlos anerkannte Personen, Bereiche der Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sowie die erleichterte Einbürgerung für staatenlose Kinder. Die Behandlung von Gesuchen zur Anerkennung der Staatenlosigkeit hingegen beruht weitestgehend auf dem allgemeinen Verwaltungsverfahren und der zu den internationalen Abkommen entstandenen Jurisprudenz.

Ohne ein spezialgesetzliches Anerkennungsverfahren steigt das Risiko, dass Staatenlose nicht identifiziert werden und keinen Schutz erhalten können. Problematisch am heutigen Verfahren ist weiter, dass die Betroffenen ein rechtlich geschütztes Interesse an der Anerkennung nachweisen müssen. Das heisst: Sie müssen darlegen, dass sie als anerkannte Staatenlose rechtlich besser gestellt wären als ohne solche Anerkennung. Ausserdem sind insbesondere Beweisfragen im Anerkennungsverfahren ungeklärt. Es ist also nicht klar, ob die Gesuchstellenden beweisen müssen, dass sie staatenlos sind – mit anderen Worten das Fehlen einer Staatenangehörigkeit beweisen müssen –, oder ob sie dies wie im Asylverfahren lediglich glaubhaft machen müssen.

Enge Definition von Staatenlosigkeit

Der Begriff der Staatenlosigkeit ist im Schweizer Recht nicht definiert. Grundsätzlich gilt die Definition von Art. 1 des UN-Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954, wonach eine Person staatenlos ist, wenn sie von keinem Staat auf Grund seiner Gesetzgebung als sein Angehöriger betrachtet wird. Die schweizerischen Behörden wenden jedoch eine engere Definition an. Als staatenlos wird nur anerkannt, wer seine Staatsangehörigkeit ohne eigenes Verschulden verloren und keine Möglichkeit hat, sie wieder zu erlangen.

Ausserdem schliesst die Schweiz auch alle Personen vom Schutz des UN-Übereinkommens aus, die theoretisch die Möglichkeit hätten, den Schutz einer UN-Organisation zu geniessen. Daher werden Palästinenser/innen in der Schweiz in der Regel nicht als staatenlos anerkannt, da sie ja theoretisch in das Mandat der UNRWA fallen. Diese Schweizer Praxis steht im Widerspruch zu ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen. Ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Staatenlosigkeit verneint das SEM ausserdem auch, wenn eine Person bereits in einem anderen Land als staatenlos anerkannt wurde.

Rechtliche Bezugspunkte

Auch wenn es keine besondere gesetzliche Grundlage gibt, findet das Thema der Staatenlosigkeit in mehreren Rechtsquellen Erwähnung:

Artikel 31 AuG ist die massgebliche Regelung für den Aufenthalt Staatenloser in der Schweiz. In diesem heisst es, dass eine in der Schweiz als staatenlos anerkannte Person ein Recht auf eine Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B) hat. Eine Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) können Staatenlose wie andere Ausländerinnen und Ausländer nach zehn Jahren beantragen. Straffällige staatenlose Personen werden vorläufig aufgenommen (Ausweis F).

Darüber hinaus erleichtert der Bund laut Artikel 38 Abs. 3 BV die Einbürgerung staatenloser Kinder. Dies wird in Artikel 23 BüG umgesetzt, wo es heisst, dass ein staatenloses minderjähriges Kind ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung stellen kann, wenn es insgesamt 5 Jahre in der Schweiz gewohnt hat.

Auch aus weiteren Regelungen des BüG wird deutlich, dass die Schweiz sich um eine Verminderung der Staatenlosigkeit bemüht. So regelt Artikel 37 BüG, dass eine Entlassung aus den Bürgerrechten nur möglich ist, wenn die Person eine andere Staatsangehörigkeit besitzt oder eine solche zugesichert bekommen hat. In Artikel 3 BüG heisst es weiter, dass das Bürgerrecht in der Schweiz eingebürgerter Findelkinder nach Feststellung der Abstammung nur erlischt, wenn es dadurch nicht staatenlos wird.

Problematische Lücken im Schweizer Recht

Die genannten Bestimmungen zeigen, dass die Schweiz zwar gewillt ist, die Staatenlosigkeit im Land möglichst zu vermeiden. Die Leiterin des UNHCR-Büros Schweiz machte jedoch vor einigen Jahren in einem Interview deutlich, dass die Schweiz auch darauf hinarbeiten sollte, das das UN-Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 zu unterzeichnen und das Verfahren für Staatenlose klarer und vor allem gesetzlich zu regeln. Der Bundesrat hat zwei entsprechende Postulate aus den Jahren 2005 und 2015, welche die Ratifikation des Übereinkommens von 1961 verlangten, grundsätzlich unterstützt, da die Schweiz ein Interesse daran habe, wirksam gegen Staatenlosigkeit vorzugehen. Das Parlament war anderer Meinung und legte das erste Postulat nach einer zweijährigen Suspendierung ad acta, im September 2015 scheiterte auch der zweite Anlauf. In der Parlamentsdebatte zu diesem zweiten Postulat betonte Bundesrätin Sommaruga jedoch, dass sie einen Beitritt zur Konvention unabhängig vom Postulat überprüfen und allenfalls dem Parlament einen entsprechenden Antrag unterbreiten würde, was bisher nicht geschehen ist. Auch das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit von 1997, das Staatenlosen zusätzlichen Schutz bieten würde, hat die Schweiz bisher nicht ratifiziert.

Neben dem fehlenden spezialgesetzlichen Anerkennungsverfahren und der engen, völkerrechtswidrigen Definition von Staatenlosigkeit erscheint problematisch, dass staatenlose Kinder nicht automatisch, sondern nur auf Gesuch hin das Schweizer Bürgerrecht erwerben. So wird die Staatenlosigkeit von den Eltern an die Kinder vererbt (hier finden Sie unseren Artikel zu staatenlosen Kindern). Die spätere erleichterte Einbürgerung kann dies nicht verhindern.

Erwachsene Staatenlose haben gar keine Möglichkeit zur erleichterten Einbürgerung, sondern müssen das äusserst restriktive ordentliche Einbürgerungsverfahren durchlaufen. Schutzlücken bestehen auch in Bezug auf Personen, die nicht als staatenlos identifiziert oder anerkannt wurden und Gefahr laufen, (wiederholt) in Ausschaffungshaft zu geraten, solange ihre Staatsangehörigkeit nicht festgestellt werden kann. Da die Ausschaffung einer staatenlosen Person nicht möglich ist, ist eine solche Inhaftierung willkürlich und widerrechtlich. Ein erster, wichtiger Schritt zum Schutz von Staatenlosen wäre es, die statistische Erfassung und das Wissen über die Lebensrealitäten von Staatenlosen in der Schweiz zu verbessern. So besteht in der Schweiz beispielsweise bislang keine zuverlässige statistische Übersicht über die Anzahl staatenloser Kinder im Land. Dementsprechend hat sich auch der UNO-Kinderrechtsausschuss in seinem abschliessenden Bericht vom Februar 2015 zur Schweiz besorgt gezeigt, «dass es keine Garantie für den Erwerb der Staatsangehörigkeit für diejenigen Kinder gibt, die im Vertragsstaat geboren werden und denen sonst die Staatenlosigkeit droht».

humanrights.ch hat für die dritte UPR-Überprüfung der Schweiz im November 2017 zusammen mit anderen Organisationen einen Schattenbericht zu den Rechten von Staatenlosen in der Schweiz eingereicht und auf die problematischen Aspekte er schweizerischen Praxis hingewiesen. Der Bericht macht gezielte Empfehlungen zur Verbesserung der Rechtslage von Staatenlosen in der Schweiz. In Antwort auf eine von Ungarn vorgebrachte Empfehlung hat die Schweiz zugesichert, ein formelles Anerkennungsverfahren einzuführen und den von den Behörden verwendeten Begriff von Staatenlosigkeit vollständig an die völkerrechtliche Definition anzupassen. Eine Empfehlung von Panama zur Registrierung von Kindern, die bei Geburt staatenlos sind, hat die Schweiz abgelehnt.

UNHCR-Studie zu Staatenlosigkeit in der Schweiz

Das UNHCR Büro für die Schweiz und Liechtenstein hat im November 2018 eine umfangreiche Studie zu Staatenlosigkeit in der Schweiz veröffentlicht. Die Studie steht im Zusammenhang mit der Kampagne des UNHCR zur Beendigung der Staatenlosigkeit #IBelong campaign 2014-2024. Sie setzt sich ausführlich mit den verfügbaren statistischen Informationen zu Staatenlosigkeit auseinander und zeigt auf, dass die Mehrheit der Staatenlosen erwachsen und männlich ist, aus Drittstaaten in die Schweiz eingewandert ist und in den grösseren Städten lebt.

Gleichzeitig kritisiert die Analyse, dass die verwendete Definition von Staatenlosigkeit zu eng ist und nicht alle tatsächlich staatenlosen Personen erfasst. Das UNHCR regt deshalb an, dass die Schweizer Behörden ihre Definition von Staatenlosigkeit an die Vorgaben aus dem UN-Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 anpassen.

Des Weiteren kritisiert die Studie das Fehlen eines spezialgesetzlich geregelten Staatenlosenanerkennungsverfahrens, welches die besondere Verletzlichkeit staatenloser Personen und die verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten angemessen berücksichtigt. Zudem stehe  der eingeschränkte Zugang von staatenlosen Personen – insbesondere von Kindern – zum Schweizer Bürgerrecht im Widerspruch zu den völkerrechtlichen Vorgaben.

humanrights.ch begrüsst die Studie und teilt die von UNHCR vorgebrachte Kritik. Sie bekräftigt die von humanrights.ch unter anderem im Rahmen der Überprüfung der Schweiz im UN-Menschenrechtsrat gestellten Forderungen nach einer besseren statistischen Erfassung der Staatenlosigkeit, nach einer Anpassung der Definition an die völkerrechtlichen Vorgaben, nach einer Formalisierung des Anerkennungsverfahrens und nach einem verbesserten Zugang zum Bürgerrecht.

Rechtsprechung

In der schweizerischen Rechtsprechung ist die Thematik der Staatenlosigkeit selten zu finden. Im Mai 2014 hat das Bundesverwaltungsgericht erstmals einer Frau, die als Flüchtling vorläufig aufgenommen wurde, die Staatenlosigkeit zugesprochen. Dieses Urteil wird insbesondere für vorläufig Aufgenommene als wichtig erachtet, da diese ein besonderes Interesse an einem Status als Staatenlose haben. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass anerkannte Staatenlose im Unterschied zu anerkannten Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Personen nach altem Recht nach 5 Jahren einen Rechtsanspruch auf eine Niederlassungsbewilligung hatten. Nachdem der bisherige Artikel 31 Abs. 3 jedoch auf den 1. Januar 2018 aufgehoben wurde, ist unklar, ob das Rechtsschutzinteresse für die Anerkennung als Staatenlose weiter besteht. Es wird zu sehen sein, wie die Gerichte neue Fälle entscheiden werden.

Staatenlosigkeit in Kauf genommen

In einem anderen Fall von 2014 hat das Bundesgericht die Einbürgerung eines gebürtigen Montenegriner, der seit 10 Jahren in der Schweiz lebt und mit einer Schweizerin verheiratet ist, nichtig erklärt, nachdem ans Licht gekommen war, dass er unmittelbar vor der Heirat etliche Drogendelikte begangen und die Eheschliessung mit falschen Angaben bewerkstelligt hatte. Das Bundesgericht sah dabei aufgrund der Schwere der Taten die Verhältnismässigkeit gegeben und nahm die Staatenlosigkeit des  Mannes als Folge der Nichtigerklärung in Kauf.

Keine Anerkennung nach freiwilliger Ausbürgerung

Ausserdem hat das Bundesverwaltungsgericht im Jahre 2008 entschieden, dass Schweizer Behörden die Staatenlosigkeit einer Person nicht anerkennen, wenn sich die gesuchstellende Person freiwillig hat ausbürgern lassen.

Fehlende Registrierung ohne Anerkennung

Weiter hat das Bundesverwaltungsgericht im Jahre 2010 entschieden, dass eine tibetische Flüchtlingsfrau, die in Nepal geboren worden ist, in der Schweiz nicht als staatenlos anerkannt wird, auch wenn die nepalesischen Behörden sie weder als chinesische noch als nepalesische Staatsbürgerin anerkennen und auch keine Registrierung in China vorliegt. Vielmehr sei sie aufgrund ihrer Abstammung als chinesische Staatsangehörige anzusehen, denn das Fehlen von Ausweisen und Dokumenten oder auch die fehlende Registrierung führen nicht notwendig zu einer Anerkennung als Staatenlose. Argumentiert wurde zudem, dass Nepal weder die Flüchtlingskonvention noch das Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 unterzeichnet hat. Ergänzend wurde auch festgestellt, dass die Frau aufgrund der Tatsache, dass sie mit einem Schweizer Staatsbürger verheiratet ist, in Kürze die Möglichkeit auf eine erleichterte Einbürgerung haben würde.

Dokumentation