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Behindertengleichstellung in vielen Bereichen mangelhaft

27.02.2017

Auch 13 Jahre nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) können Menschen, die beeinträchtigt sind, in vielen Lebensbereichen nicht gleichberechtigt teilnehmen. Nachteile gibt es etwa auf dem Arbeitsmarkt, bei der Bildung oder beim Wohnen, wie neuere Berichte zeigen. Der Bund hat dies zur Kenntnis genommen und nun die Schwerpunkte für die künftige Gleichstellungspolitik gesetzt. Sie überzeugen nicht durchwegs.

Externe Evaluation 2015

1,6 Millionen Menschen in der Schweiz haben eine Behinderung. Sie geniessen mit dem Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das seit 2004 in Kraft ist, einen besonderen rechtlichen Schutz. Eine vom Bund in Auftrag gegebene Evaluation zeigte 2015, dass seither insbesondere dort Fortschritte erzielt wurden, wo das Gesetz klare Vorgaben macht oder klare Zuständigkeiten vorsieht.

Kritisch beurteilte die Evaluation, welche das Büro BASS und die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW im Auftrag des Bundes erarbeitet haben, die «mangelnde Einbettung der Behindertengleichstellung in den Gesamtkontext der Politik zugunsten von Menschen mit Behinderungen». Das Gesetz habe nur beschränkt dazu beitragen können, den verfassungsrechtlichen Auftrag zur Förderung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen umzusetzen.

Die externe Evaluation enthält darüber hinaus zahlreiche konkrete Vorschläge für Verbesserungen, etwa für mehr hindernisfrei zugänglichen Wohnraum, die Schaffung von Anlaufstellen oder einen vereinfachten Rechtszugang.

Fokus auf den Bereich Arbeit

Der Bundesrat beschloss 2015, als die Evaluation vorlag, dass das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) innert Jahresfrist aufzeigen soll, welche Massnahmen der Bund zur weiteren Verbesserung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in den nächsten Jahren verfolgen will. Anfang 2017 hat der Bundesrat diesen Bericht verabschiedet und gleichzeitig die Schwerpunkte der künftigen Behindertenpolitik gesetzt.

Der Bericht des Bundes hält Ziele und Massnahmen fest, um Gleichstellung, Vernetzung, Steuerung und Transparenz in der Behindertenpolitik zu verbessern. Als wichtigstes Ziel definiert er die Förderung der beruflichen Integration. Mit einem nationalen Programm sollen Projekte unterstützt werden, die dazu beitragen, Benachteiligungen in der Arbeitswelt abzubauen. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (EBGB) wird sich demnach in den nächsten Jahren auf die Durchführung und Unterstützung von Projekten sowie auf die Bekanntmachung von vorbildlichen Praktiken in diesem Bereich fokussieren.

Mit weiteren Massnahmen will der Bund dafür sorgen, dass die Behindertengleichstellung zu einer Querschnittsaufgabe auf allen föderalen Ebenen wird. Die Zusammenarbeit mit und unter den Kantonen soll gefördert und die Vernetzung der verschiedenen Akteure im Behindertenbereich verbessert werden. Gemeinsam mit den Kantonen und den Verbänden will der Bund die Massnahmen diskutieren und bis Ende 2017 einen neuen Bericht vorlegen.

Weitere wichtige Themen für mehr Gleichstellung spricht der Bericht des Bundes zwar an, etwa die Themen Bildung und selbstbestimmte Lebensführung. Doch will der Bundesrat diese Fragen vorerst nicht angehen.

Prioritäten der Zivilgesellschaft

Der Bericht des Bundesrates geht zurück auf ein Postulat von Nationalrat Christian Lohr aus dem Jahr 2013, das vom Bundesrat eine kohärente Behindertenpolitik forderte. Der Handlungsbedarf ist nach Ansicht von Betroffenen und ihren Verbänden gross. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sei erschwert, viele Gebäude und Wohnungen seien nicht hindernisfrei zugänglich oder die finanzielle Situation erlaube häufig kein selbständiges Leben, schreibt der Dachverband Inclusion Handicap als Reaktion auf den Bericht des Bundesrats. Dass dieser im Moment lediglich im Bereich Arbeit erste Lösungsansätze vorsieht, vermag den Verband nicht zu überzeugen.

Eine echte Behindertenpolitik brauche mehr Engagement vom Gesamtbundesrat und den Kantonen, schreibt Inclusion Handicap und erinnert daran, dass die UNO-Behindertenrechtskonvention bereits 2014 ratifiziert wurde und die Problembereiche seit der Evaluation im Dezember 2015 bekannt seien. «Nun braucht es verbindliche Ziele und konkrete Massnahmen und zwar in allen Lebensbereichen.» 

Inclusion Handicap hat 2016 übrigens den Stand der Gleichstellungspolitik für Behinderte ebenfalls evaluiert. Der Bericht des Verbands basiert auf Umfragen bei Rechtsberaterinnen und Rechtsberatern sowie andern Fachpersonen und trägt auch die Anliegen von Menschen mit Behinderungen zusammen. Deren Meinung hat Inclusion Handicap mit Hilfe einer Online-Plattform erfragt. Die Bestandesaufnahme des Verbands zeigt nochmals andere Facetten der Gleichstellungsfrage auf. Unter anderem fordert Inclusion Handicap auf der Basis der eigenen Erhebungen unter dem Stichwort selbstbestimmtes Leben, dass künftig nicht die Strukturen, die für behinderte Menschen bestehen, finanziert werden, sondern die Menschen selber.

UNO-Überprüfung folgt

Vor drei Jahren erhielt die Behindertenpolitik durch die Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention neuen Schwung. Betroffene und Menschenrechtskreise hatten sich vor diesem Hintergrund Hoffnungen gemacht auf mutige nächste Zielsetzungen. Gute Beispiele und Ideen bestehen in einzelnen Bereichen in einigen Kantonen. So können etwa im Kanton Bern Behinderte über ihre Betreuung weitgehend selber bestimmen, wie Medien im Sommer 2016 berichteten.

Als Vertragsstaat der Behindertenrechtskonvention wird die Schweiz vermutlich 2018 von der UNO überprüft werden. Den Initialbericht zuhanden des UNO-Ausschuss für die Rechte von Personen mit Behinderungen hat die Schweiz 2016 eingereicht. Inclusion Handicap wird auf der Basis ihrer Bestandesaufnahme einen Schattenbericht einreichen. Darin sollen die Missstände und Lösungsansätze aus Sicht der Betroffenen dargestellt werden.

Dokumentation

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