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Menschen mit Geschlechtsvariationen

06.07.2016

Es gibt zwei Geschlechter: Frau und Mann – so lautet der gesellschaftliche Konsens, normativ und kulturell, aber auch amtlich-offiziell und juristisch. Bei der Geburt wird entweder das Attribut «männlich» oder «weiblich» in das Zivilstandsregister eingetragen. Dieser Eintrag hat weitreichende Folgen für das spätere Leben, etwa in Zusammenhang mit dem Recht auf Eheschliessung.

Doch nicht alle Menschen lassen sich bei der Geburt eindeutig in eine der zwei Geschlechterkategorien einteilen. Dieser Umstand führte zu einer medizinischen Praxis, nämlich der möglichst raschen chirurgischen «Vereindeutigung» des Geschlechts, was menschenrechtlich höchst problematisch ist und dennoch lange Zeit hingenommen wurde. Erst in jüngster Zeit beginnt sich dies dank engagierten Betroffenen, Ethikfachleuten und Empfehlungen von internationalen Menschenrechtsgremien zu ändern.

Die wegweisende Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission vom November 2012 wurde am 6. Juli 2016 vom Bundesrat zwar bestätigt, aber in wesentlichen Punkten nicht umgesetzt. So werden beispielsweise weiterhin aufschiebbare geschlechtsbestimmende Behandlungen mit irreversiblen Folgen durchgeführt, bevor die betroffene Person selbst darüber entscheiden kann (entgegen der Empfehlung Nr. 3). Dies, obwohl die Nationale Ethikkommission in Empfehlung Nr. 4 klar festhält, dass auch eine «psychosoziale Indikation [...] aufgrund ihrer Unsicherheiten und Unwägbarkeiten eine irreversible geschlechtsbestimmende Genitaloperation an einem urteilsunfähigen Kind allein nicht rechtfertigen [kann]».

Um welche Menschen handelt es sich? 

Bei rund einer von Tausend Geburten (die UNO schätzt die Zahl zwischen 0.05% und 1.7%) kann das Geschlecht des geborenen Kindes nicht den Kategorien «Mann» oder «Frau» zugeteilt werden. Dies ist der Fall, wenn die Kombination von chromosomalen, hormonellen und anatomischen Eigenschaften nicht dem breiten Verständnis von männlich oder weiblich entspricht.

Begrifflichkeit

Bezeichnet werden diese Menschen als Personen mit Variationen der Geschlechtsentwicklung oder als Menschen mit Geschlechtsvariationen. Betroffene bevorzugen diese Begriffe und möchten i.d.R. nicht als Intersexuelle, Zwischengeschlechtsmenschen, Hermaphroditen oder Zwitter bezeichnet werden, da diesen Bezeichnungen zum einen nach wie vor implizit die Grundeinteilung in Mann und Frau zugrunde liegt und da sie zum andern in der Medizin pathologisch und damit stigmatisierend verwendet werden. Die Weltgesundheitsorganisation führt ein «unbestimmtes Geschlecht» als Krankheit auf; der medizinische Fachbegriff lautet Sexualdifferenzierungsstörung (disorders of sex development DSD) – obwohl Menschen mit Geschlechtsvaritionen auch ohne medizinische Eingriffe vollkommen gesund sein können. Aus diesen Gründen ist eine korrekte soziale Begrifflichkeit entscheidend, um einen entsexualisierten, ungezwungenen Umgang mit Geschlechtsvariatonen zu erreichen.

Wichtig ist zudem eine weitere Klarstellung: Wer Menschen mit Geschlechtsvariationen der LGBT-Gemeinschaft (kurz für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transmenschen) gleichsetzt, macht es sich zu einfach, wenn nicht klare Unterscheidungen getroffen werden. Gewiss sind einige Problembereiche ähnlich (bspw. das Recht auf Ehe), aber es gibt Unterschiede grundsätzlicher Art: Die Anliegen der LGBT-Community sind häufig auf die Vielfalt der sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten ausgerichtet. Hinsichtlich der medizinisch-biologischen Merkmale werden LGBT-Menschen in der Regel eindeutig als Frau oder Mann geboren, jedoch entspricht ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität nicht den traditionellen Geschlechterbildern von Mann und Frau und steht somit im vermeintlichen Widerspruch zum angeborenen, biologischen Geschlecht. Bei Geschlechtsvariationen geht es darüber hinaus darum, dass es auch bei angeborenen Geschlechtern und biologischen Merkmalen - genauso wie bei der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität - eine viel grössere Vielfalt als nur die zwei traditionellen Geschlechterkategorien gibt.

Totgeschwiegenes Phänomen und medizinische Praxis zugleich

Bisher wurden Menschen mit Geschlechtsvaritionen in der Schweiz, in Europa und in den USA im frühen Kindesalter – gewöhnlich mit der nur ungenügend informierten Zustimmung der Eltern und ohne medizinisch-gesundheitliche Notwendigkeit – zwangsoperiert. Seit den 1960er Jahren werden bei Neugeborenen geschlechtsverändernde Operationen durchgeführt. Dabei wird zum Beispiel das Genital auf eine eindeutige Grösse reduziert (eine sogenannte Klitorisverkleinerung) und allfällige Hoden entfernt. Dies aus dem schlichten Grund, dass geschlechtsverändernde Operationen zur Weiblichkeit medizinisch einfacher durchzuführen sind als jene zum Mann. In anderen Fällen wird das Geschlecht hormonell-medikamentös verändert. Diese Praxis galt lange als Selbstverständlichkeit und kam in der Öffentlichkeit kaum zur Sprache. Das Thema wurde totgeschwiegen und die Operationen stillschweigend akzeptiert.

Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen

Seit einigen Jahren haben sich einige Betroffene organisiert und treten vehement für eine Praxisänderung ein. Unter anderem veröffentlichten sie 2008 einen umfassenden Forderungskatalog und drängten darauf, dass «die immer noch täglich begangenen Menschenrechtsverletzungen» ein Ende haben. Wichtige Unterstützung erhielten die Betroffenen 2013 als der UNO-Sonderberichterstatter über Folter die aus medizinischer Sicht unnötigen Operationen als unmenschliche Behandlung bezeichnete, die unter das Folter- und Misshandlungsverbot fällt. (Zu den Entwicklungen auf internationaler Ebene im Zusammenhang mit Menschen mit Geschlechtsvariationen siehe unseren separaten Artikel.)

Medizinisch unnötige Eingriffe im Kindesalter verletzen die körperliche und psychische Integrität. Sie sind häufig irreversibel und gehen mit einer massiven Einschränkung der Lebensqualität einher. Betroffene berichten unter anderem über Traumata, eingeschränkte Empfindungen an Geschlechtsteilen, Schmerzen sowie Folgeschäden durch die jahrelange Einnahme von Hormonen. Die Praxis hat zahlreiche Verletzungn von Menschen- und insbesondere auch Kinderrechten zur Folge: Häufig ist das Recht auf persönliche Freiheit sowie das Recht auf freie Entfaltung und Entwicklung betroffen, weil  ohne die Zustimmung der Betroffenen medizinisch nicht notwendige Operationen durchgeführt werden.

Diskriminierung aufgrund des Geschlechts am Beispiel des Rechts auf Ehe

Grundsätzlich laufen Menschen mit Geschlechtsvariationen Gefahr, aufgrund des Geschlechts stigmatisiert und diskriminiert zu werden. Die zweigeteilte Kategorisierung nach dem Geschlecht spielt sowohl gesellschaftlich als auch juristisch nach wie vor eine grosse Rolle. Zu erwähnen sind beispielsweise nach Geschlechtern getrennte Toiletten, das unterschiedliche Rentenalter oder die Wehrpflicht.

Auch das Menschenrecht auf Ehe ist implizit an das Geschlecht geknüpft. So spricht Artikel 12 (Recht auf Eheschliessung) der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK lediglich von «Männern und Frauen im heiratsfähigen Alter». Deshalb waren Menschen, die nicht in diese Geschlechterkategorien fallen, lange von diesem Recht ausgeschlossen. Das ging bis vor kurzem so weit, dass eine Ehe annulliert werden musste, damit eine Geschlechtsveränderung rechtlich anerkannt wurde. Diese Praxis besteht heute vielerorts nicht mehr. Doch nach wie vor gibt es keine gesetzliche Grundlage, welche diese Punkte grundrechtskonform regelt.

Das Beispiel zeigt, dass Menschen mit Geschlechtsvariationen und LGBT-Menschen ähnliche Erfahrungen mit Diskriminierung und Stigmatisierung machen. Sei es aufgrund der Geschlechteridentität, der sexuellen Orientierung oder der anatomischen Gegebenheiten, stets lautet die Forderung, die starre Zweigeschlechterkategorisierung sowie die einhergehende rechtliche Diskriminierung aufzubrechen. In diesem Sinne hat die LGBT-Gemeinschaft einen wichtigen Beitrag geleistet und den Weg für mehr Gehör gegenüber den Anliegen von Menschen mit Geschlechtsvariationen geebnet, indem sie bisher tabuisierte Fragen rund um die Geschlechterkategorien aufgeworfen hat.   

Entwicklungen in der Schweiz

Wegweisende Stellungnahme der Ethikkommission

Nach zwei parlamentarischen Interpellationen über den Umgang mit Geschlechtsvariationen war der Bundesrat im Jahre 2011 erstmals der Ansicht, die Thematik werfe grundlegende ethische Fragen auf. Deshalb beauftragte er die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK), sich mit dem Thema zu befassen. Diese veröffentlichte daraufhin im November 2012 eine wegweisende Stellungnahme und legte fest, dass Menschen mit Variationen der Geschlechtsentwicklung per sofort nicht mehr im Kindesalter operiert werden sollen, wenn dies nicht überlebensnotwendig ist. Die Details der Stellungnahme entnehmen Sie bitte unserem Artikel dazu.

Dissertation zur Rechtslage

Eine sehr umfassende Abhandlung zum Umgang mit Geschlechtsvariationen im Schweizer Recht bietet die Dissertation von Dr. iur. Mirjam Werlen:

Bestätigung vom Bundesrat

Als Reaktion auf die Stellungnahme der NEK hat der Bund im Februar 2014 eine Weisung zuhanden der Zivilstandsbehörden erlassen, wonach Einträge und Änderungen im Geburtenregister nachträglich in vereinfachter Weise möglich sein sollen. Im Falle der Geburt eines Kindes mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen können die Behörden den Eltern nun mehr Zeit einräumen. Anders als in Deutschland ist es aber in der Schweiz nicht so, dass bei diesen Kindern das Geschlecht im Zivilstandsregister offen gelassen oder die Kategorie «anders» ausgewählt werden kann.

Schliesslich hat der Bundesrat in einer Medienmitteilung vom 6. Juli 2016 die Einschätzungen und Neubewertungen der NEK-Stellungnahme weitgehend bestätigt. Er hält unmissverständlich fest, dass «frühe, vermeidbare Eingriffe gegen das geltende Recht auf körperliche Unversehrtheit» verstossen würden. «Wenn immer möglich muss mit irreversiblen Behandlungen zugewartet werden, bis das Kind alt genug ist und selbst darüber entscheiden kann.»

Die meisten an den Bund adressierten Empfehlungen der NEK seien inzwischen umgesetzt, mit Ausnahme eines kostenfreien Angebots einer psychosozialen Beratung, welche der Bundesrat «nicht für realisierbar hält». Dieser letzte Punkt erscheint als ausserordentlich knausrig und inkohärent, wird doch in derselben Medienmitteilung betont, dass die nicht gerechtfertigten Eingriffe in der Vergangenheit «in vielen Fällen erhebliche Folgeschäden und schweres Leid bei den Betroffenen verursacht» hätten.

Das Ende der Zwangsoperationen?

Leider ist damit die Thematik nicht vom Tisch. Es gibt Anzeichen, dass das geforderte Umdenken in den Spitälern nur schleichend ankommt (siehe Medienbeiträge unten). Ohne gesetzliche Grundlage, die klar regelt, wann und unter welchen Bedingungen ein medizinischer Eingriff notwendig und rechtens ist, ist es unwahrscheinlich, dass sich eine jahrzehntelange medizinische Praxis ändert. Aus diesem Grund kommt auch Kinderchirurg Blaise Meyrat zum Schluss: «Es ist schade, dass man die Bestimmungen vom Gesetzgeber diktieren lassen muss. Aber meines Erachtens ist es die einzige Lösung.»

Obwohl die Ärzteschaft zunehmend informiert ist und sich der menschenrechtlichen Unzulässigkeit von kosmetischen Operationen bewusst sein sollte, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich ihr Verhalten flächendeckend geändert hat. Denn es brauche eine gewisse Zeit, bis «das Pendel auf die andere Seite schlägt», so Meyrat. Ebenso wenig ist garantiert, dass Eltern die nötige Unterstützung erhalten, um dem sozialen Druck standzuhalten. Diesen Druck spüren gerade die Eltern sehr früh, wenn sie eine Geburt kommunizieren und dabei als erstes die Frage nach dem Geschlecht gestellt wird.

Empfehlungen von UNO-Gremien an die Schweiz

Im Jahre 2015 haben sich schliesslich erstmals zwei UNO-Ausschüsse mit den Anliegen von Menschen mit Geschlechtsvariationen in der Schweiz befasst. Der Ausschuss zur Verhütung von Folter und derjenige zum Schutz der Kinderrechte empfehlen mit eindeutigen Worten die Abkehr von der Praxis, Geschlechtsvariationen bereits im Kleinkindalter geschlechtsverändernd zu behandeln. Sie empfehlen der Schweiz, bessere Unterstützungsangebote für Betroffene und ihre Eltern aufzubauen sowie Massnahmen zu ergreifen, die den Zugang zum Rechtsschutz verbessern und Wiedergutmachung ermöglichen. Gleichzeitig ist das UNO-Fachgremium besorgt, dass die schädliche Praxis bislang nicht untersucht oder per Sanktionen unterbunden worden ist.

Dokumentation

Organisationen von Betroffenen

Medienberichte

Weiterführende Informationen