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Hungerstreik im Strafvollzug: Debatte neu lanciert

19.08.2013

Wie sollen die Behörden mit Häftlingen umgehen, die ihre Freilassung durch einen Hungerstreik erzwingen wollen? Vor einigen Jahren führte der Fall Bernard Rappaz das Dilemma, welches mit dieser Frage verbunden ist, vor Augen: Nimmt der Staat seine Fürsorgepflicht wahr, übergeht er das Selbstbestimmungsrecht des Häftlings. Tut er hingegen nichts, stirbt ein zuvor gesunder Mensch in seiner Obhut, was den Schutzpflichten des Staates in Bezug auf das Recht auf Leben zuwiderläuft. Die Meinungen von Fachleuten sind geteilt.

Debatte über Zwangsernährung lanciert

Der Kanton Wallis entschied sich 2010 im Fall Rappaz für eine Zwangsernährung. Ein Todesfall im Kanton Zug zeigte im Frühjahr 2013, dass sich die Praxis diesbezüglich in einigen Kantonen geändert hat: Am 17. April 2013 wurde bekannt, dass im Zuger Kantonsspital ein 32-jähriger Häftling verstorben war, der seit Ende Januar die Nahrungsaufnahme verweigert hatte, um seine Freilassung zu erreichen. Vorher hatte er bei vollem Bewusstsein eine Verfügung unterschrieben, welche ihn über die möglichen Folgen des Hungerstreiks aufklärte und mit welcher er festhielt, dass er unter keinen Umständen künstlich ernährt werden wolle.

In der Zwischenzeit haben sich mindestens zwei Fachpersonen zur Handhabung der Zwangsernährung bei Gefangenen geäussert. Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle sagte in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger am 20. August 2013, dass der Staat den Tod des Gefangenen in Kauf nehmen müsse. Die Freiheit zur Selbstschädigung müsse für alle Menschen gelten – auch wenn sie im Gefängnis sässen.

Eine gegenteilige Meinung äusserte im Juni 2013 der Berner Rechtsprofessor Markus Müller in seinem Beitrag für eine juristische Fachzeitschrift. Es gehe beim Dilemma Hungerstreik nicht um die Frage, ob der «Sterbewunsch» des Gefangenen zu respektieren oder aus Gründen staatlicher Fürsorge auszuschlagen sei. Nach Ansicht Müllers steht ein Todeswille nie im Vordergrund. Der streikende Häftling wolle nicht sterben, sondern unter verbesserten Bedingungen weiterleben. Eine Patienten- oder Gefangenenverfügung, die etwas anderes besagt, müsse als Druckmittel interpretiert und auch als das behandelt werden. Müller ist der Meinung, dass vor diesem Hintergrund nicht vom «freien Willen» eines hungerstreikenden Häftlings auf Verhungern ausgegangen werden darf.

Der Kanton Zug handelte gemäss geltendem kantonalem Recht

«Immer mehr Kantone sehen von einer Zwangsernährung ab», schrieb die NZZ am 19. April 2013. Gemäss Recherchen der NZZ sind mehrere Kantone derzeit dabei, ihre diesbezüglichen Regeln im Justizvollzugsgesetz zu ändern. Abgeschlossen sind die Revisionen gemäss Presseberichten in den Kantonen Zug, St. Gallen und Solothurn. Gesetzesrevisionen laufen derzeit in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden und Luzern. 

Aufschluss über die genauen Bestimmungen in Kantonen, welche hungerstreikende Häftlinge künftig sterben lassen werden, geben etwa die Vernehmlassungsunterlagen im Kanton Luzern. Die Revision sieht eine Gefangenenverfügung vor, welche die Inhaftierten über die Folgen eines Hungerstreiks aufklärt. Sie können im gegebenen Fall ankreuzen, ob sie eine künstliche Ernährung, eine Wiederbelebung oder Medikamente ablehnen.

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