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Zwangsernährung: Staatliche Fürsorgepflicht gegen Selbstbestimmungsrecht

23.02.2011

Das Bundesgericht hat die Beschwerde des Arztes, welcher zur Zwangsernährung von Bernard Rappaz per Walliser Gerichtsentscheid verpflichtet gewesen wäre, abgeschrieben. Die aufgeworfene Frage, ob ein Arzt unter Strafandrohung zur Zwangsernährung eines Häftlings im Hungerstreik verpflichtet werden könne, sei zwar von grundsätzlicher Bedeutung und öffentlichem Interesse. Nachdem Rappaz den Hungerstreik beendet habe, fehle es allerdings an einem aktuellen und praktischen juristischen Interesse zur richterlichen Klärung. Es gebe keinen Grund zur Annahme, dass die Frage nicht rechtzeitig von einem Gericht beantwortet werden könnte, falls sie sich in Zukunft wieder einmal stellen sollte, halten die Bundesrichter/innen fest.

Humanrights.ch ist der Meinung, dass eine gerichtliche Klärung der menschenrechtlichen Fragen wichtig gewesen wäre. Ein Richterspruch hätte der Ärzteschaft Rechtssicherheit gegeben. Es ist schade, dass das Bundesgericht sich mit der Frage, ob die Fürsorgepflicht des Staates, einen Strafgefangenen am Leben zu erhalten, stärker zu gewichten ist als das Selbstbestimmungsrecht der Beteiligten, nicht auseinandergesetzt hat. Die Beschwerde des Arztes gegen die Verfügung der Walliser Behörden wäre eine Gelegenheit gewesen dazu.

Strassburg: keine Verletzung der EMRK

Bereits zuvor hatte das Bundesgericht die Forderung von Rappaz nach einem Haftunterbruch wegen des Hungerstreiks abschlägig beurteilt. Rappaz zog diesen Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiter. Dieser erklärt den Rekurs von Rappaz in seinem am 13. April 2013 veröffentlichten Entscheid für unzulässig.

Rappaz hatte geltend gemacht, dass die Behörden sein Leben gefährdet hätten, weil sie sich trotz seines Hungerstreiks geweigert hatten, ihn freizulassen. Dies sei als unmenschliches und entwürdigendes Behandeln zu bewerten.

Der Gerichtshof äusserte sich trotz der Unzulässigerklärung ziemlich ausführlich zum Fall. Er hielt fest, die angedrohte Zwangsernährung habe einer medizinischen Notwendigkeit entsprochen und die Behörden seien mit der Situation gebührend umgegangen. Wichtig war für den EGMR mitunter, dass die Garantie der Verfahrensrechte von Rappaz gewahrt worden war. Nach Ansicht des Gerichts wäre eine Zwangsernährung, sofern sie hätte erfolgen müssen, nicht im Widerspruch zur Konvention gestanden. Die Beschwerde könne daher weder betreffend einer Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) noch betreffend Art. 3 EMRK (Folterverbot und Verbot von unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung) angenommen werden.

Rappaz beendet Hungerstreik vor Weihnachten 2010

Auf Anraten des Europ. Gerichtshofs für Menschenrechte hatte Bernard Rappaz am 23. Dezember 2010 seinen Hungerstreik beendet und konnte am 10. Januar 2011 das Genfer Universitätsspital verlassen. Er befindet sich nun wieder in einer Haftanstalt im Kanton Wallis, wo er seine reguläre Haft absitzt. Damit sind die mit dem Hungerstreik von Rappaz unmittelbar zusammenhängenden Probleme in der Tat vorerst entschärft. Allerdings harren die menschenrechtlichen Fragen, welche der Fall aufgeworfenen hat, weiterhin einer Lösung durch die Behörden. Betroffen im Fall Rappaz sind die Grundrechte des Häftlings und des behandelnden Arztes (u.a. Recht auf persönliche Freiheit, Folterverbot) sowie die Pflicht des Staates, das Leben von Menschen zu schützen, insbesondere, wenn sich die betroffene Person in staatlichem Gewahrsam befindet.

Rappaz Hungerstreik gipfelte in einem bis auf weiteres ungelösten Konflikt zwischen Ärzteschaft und Vollzugsbehörden: Ein Walliser Gericht hatte im November 2010 angeordnet, den hungerstreikenden Häftling zwangsweise zu ernähren, «falls dies die einzige Möglichkeit sei, ihn am Leben zu erhalten.» Laut seinen Ärzten befand sich Rappaz derweil in besorgniserregendem Zustand. Dennoch schloss der behandelnde Arzt im Universitätsspital Genf bis zuletzt eine Zwangsernährung aus. Das Spital berief sich dabei auf die Patientenverfügung von Rappaz sowie auf die Standesregeln der Ärztevereinigung FMH und der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften. Der behandelnde Arzt rekurrierte gegen den Entscheid des Walliser Gerichts vor Bundesgericht, welches die Beschwerde Ende Februar 2011 abschrieb.

Das Dilemma

Die für zuständig erklärte strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hatte sich seit August 2010 bereits drei Mal zum Fall Rappaz geäussert und einen Haftunterbruch aufgrund des schlechten Gesundheitszustands des Hungerstreikenden ablehnt. Mit Hinweis auf die polizeiliche Generalklausel (Art 36 Abs 1 BV) hielt das Gericht zudem fest, dass im Fall Rappaz eine Zwangsernährung erfolgen darf. Die fundamentalen Antworten auf die Fragen, welche der Fall Rappaz aufgeworfen hat, bleiben die Bundesrichtern/-innen jedoch bis dato schuldig.

Sie hielten in den ergangenen Urteilen zwar fest, dass die Ärzteschaft ungeachtet ihrer eigenen Richtlinien zur Zwangsernährung verpflichtet seien. Sie gingen aber nicht näher darauf ein, dass eine Patientenverfügung vorlag, welche gerade dies den Ärzten untersagte. Zudem setzten sie sich kaum mit der Konfliktsituation auseinander, in der sich der behandelnde Arzt befand: Zum einen untersagten ihm die national und international anerkannten medizinisch-ethischen Richtlinien eine Zwangsernährung, d.h. bei Zuwiderhandlung drohte im eine Strafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung (Art. 122 StGB). Zum andern lief er Gefahr, sich wegen Unterlassung der Nothilfe (Art. 128 StGB) oder gar fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) ebenfalls strafbar zu machen (vgl. Fall Gross/Würmli, Schweizerische Ärztezeitung).

Die Urteilssprechung des Bundesgerichts im Fall Rappaz stiess deshalb insbesondere im Kreis der Ärzteschaft auf heftige Kritik. Auch Rechtsexperten/-innen aus dem Gesundheitsbereich sowie Grundrechtsexperten/-innen hatten für die Urteilsbegründung wenig Verständnis (siehe weiter unten).

Patientenerklärung nicht absolut verbindlich

Das Dilemma der Ärzteschaft löst sich nach Ansicht gewisser Rechtsexperten im übrigen selbst dann nicht, wenn der Häftling eine schriftliche Erklärung mit Anordnungen gegen eine Zwangsernährung ablegt. Die Richtlinien zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen der SAMW besagen hierzu zwar: «Fällt die Person im Hungerstreik in ein Koma, geht der Arzt nach seinem Gewissen und seiner Berufsethik vor, es sei denn, die betreffende Person habe ausdrückliche Anordnungen für den Fall eines Bewusstseinsverlustes hinterlegt, auch wenn diese den Tod zur Folge haben können».

Der Strafvollzugsexperte Peter Aebersold von der Universität Bern betonte aber gegenüber NZZOnline, dass selbst eine schriftliche Erklärung im Hinblick auf eine mögliche Urteilsunfähigkeit nicht absolut verbindlich sei: «Die Fachpersonen müssen im Fall des Eintritts der Urteilsunfähigkeit analysieren, ob sich der Häftling immer noch gleich entschiede.» Diese Abwägung hat sich bei der Beurteilung von Rappaz’ Absichten als besonders schwierig erwiesen. Obwohl der Verurteilte eine schriftliche Erklärung gegen eine Zwangsernährung verfasst hatte, betonte er doch wiederholt, dass er gerne leben wolle.

Hungerstreik muss medizinisch respektiert werden (Zusatz 14. Jan. 2016)

In den Richtlinien der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW) heisst es: «Nachdem die volle Urteilsfähigkeit der betreffenden Person von einem ausserhalb der Anstalt tätigen Arzt bestätigt wurde muss der Entscheid zum Hungerstreik, auch im Falle eines beträchtlichen Gesundheitsrisikos, medizinisch respektiert werden.»

Weiter heisst es für den Fall, dass die Person aufgrund des Hungerstreiks in ein Koma fällt: «…der Arzt geht nach seinem Gewissen und seiner Berufsethik vor, es sei denn, die betreffende Person habe ausdrückliche Anordnungen für den Fall eines Bewusstseinsverlustes hinterlegt, auch wenn diese den Tod zur Folge haben können.» Schliesslich sind Ärztinnen und Ärzte angehalten, eine streng neutrale Haltung zu wahren und sich zu vergewissern, dass der im Hungerstreik stehenden Person täglich Nahrung angeboten wird.

Künstliche Ernährung ist medizinisch gemäss den Richtlinien nur dann vorgesehen, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: «Die inhaftierte Person ist urteilsunfähig (als Folge des Hungerstreiks oder aus anderen Gründen), es liegt keine gültige Patientenverfügung vor, die eine künstliche Ernährung in dieser Situation ablehnt, und der Verzicht auf künstliche Ernährung bedeutet unmittelbare Lebensgefahr.»

Zwangsernährung als Foltermethode in Guantánamo

Die Frage nach der Rechtsmässigkeit der Zwangsernährung von Inhaftierten erhielt bereits im Jahr 2006 in Zusammenhang mit dem amerikanischen Militärgefängnis Guantánamo internationale Medienpräsenz. Rund 85 Gefangene traten damals in kollektiven Hungerstreik, worauf die Bush-Regierung die Zwangsernährung der Streikenden anordnete. Dieser Entscheid stiess weltweit auf starke Kritik und wurde klar als Form der Folter betrachtet, da in der Ausführung veraltete und unnötige Methoden verwendet wurden.

Nicht nur das Bundesgericht weigert sich die Rechtslage für die Ärzteschaft zu klären - auch der Gesetzgeber hat sich bisher leider geweigert, in der Sache Klarheit zu schaffen. Der Fall Rappaz hat nun aber gezeigt, dass eine rechtliche Konkretisierung hier Not tut. Eine Präzisierung der gesetzlichen Grundlagen bezüglich der Rechtmässigkeit einer Zwangsernährung erscheint aus Sicht der Menschenrechte angezeigt. Die Abstützung der Zwangsernährung auf die polizeiliche Generalklausel kann aus menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Sicht keine langfristige Lösung sein.

Dokumentation

Medienberichte

Fachpublikationen

Medizinisch-ethische Richtlinien

Dokumente auf der Website des Bundes

      Reaktionen auf den ersten Bundesgerichtsentscheid

      Ende August 2010 hatte das Bundesgericht entschieden, dass Hanfbauer Bernard Rappaz wegen seines Hungerstreiks keinen Haftunterbruch erhält. Falls sein Tod oder eine bleibende Schädigung nicht anders abzuwenden sei, müsse er zwangsweise ernährt werden. Die Ärzteschaft reagierte vehement auf das Verdikt. In der schriftlichen Begründung des Entscheides halten die Richter in Lausanne fest, dass sich die Ärzte bei einem Konflikt zwischen dem Recht und der medizinischen Ethik nicht auf letztere berufen können, um sich ihren Pflichten zu entziehen. Die medizinische Ethik, wie sie in den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) festgehalten sei, könne weder die Behörden daran hindern, eine Zwangsernährung anzuordnen, noch die Ärzte davon dispensieren, diese auszuführen.

      Das Urteil des Bundesgericht löste teilweise heftige Reaktionen aus. Für den Präsidenten der Verbindung Schweizer Ärztinnen und Ärzte, Jacques de Haller, ist das Urteil schlecht, weil es die Medizin instrumentalisiere. Gegenüber dem Schweizer Fernsehen forderte er, man dürfe nicht polizeiliche Aufgaben an Ärzte abgeben. Ärztevereinigungen schlossen sich der Kritik später an und hielten fest, dass die «Medizin nicht für Zwecke missbraucht werden (dürfe), die gegen die Interessen der Patienten verstossen.» Das Urteil gewichte die Grundrechte der ausführenden Ärzteschaft zu wenig, kritisierten am 8. November 2010 auch die Neuenburger Rechtsprofessoren und Leitenden des Instituts für das Recht auf Gesundheit, Prof. Dr. Olivier Guillod und Prof. Dr. Dominique Sprumont im Jusletter. Die Urteilsbegründung des Bundesgerichts sei enttäuschend.

      Dokumentation

      Haftunterbruch gewährt, um Rappaz' Leben zu schützen

      Der Hanfbauer Bernard Rappaz war im Frühjahr 2010 eine Haftstrafe von 5 Jahren und 8 Monaten unter anderem wegen Betäubungsmitteldelikten angetreten. Seither protestierte er mit einem Hungerstreik gegen seine Strafe. Er wollte damit unter anderem erreichen, dass er seine Strafe zuhause absitzen kann. Im Kanton Wallis fehlen allerdings die gesetzlichen Grundlagen dafür.

      Nach einem rund zweimonatigen Hungerstreik war Rappaz im Juli 2010 in den Hausarrest entlassen worden. Die Walliser Sicherheitsdirektorin Esther Waeber-Kalbermatten war den Forderungen des Hanfbauers entgegen gekommen und hatte sich gegen die zuvor diskutierte Zwangsernährung entschieden. Laut Medienberichten hatten die behandelnden Ärzte/-innen des Inselspitals Bern bereits zuvor eine Zwangsernährung von Rappaz abgelehnt.

      Die Anordnung der Sicherheitsdirektorin Waeber-Kalbermatten spaltete die Gemüter. Nach der Entlassung Rappaz' in den Hausarrest wurden Stimmen laut, der Staat habe sich erpressen lassen. Ruth Baumann-Hölzle, Mitglied der nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK), erläuterte gegenüber swissinfo: «Hungerstreik ist eine Form des zivilen Ungehorsams, mit der man sich tatsächlich einer Strafe entziehen oder auch auf ungerechte Situationen aufmerksam machen kann. Der Entscheid, ob Strafmassnahmen angemessen sind oder nicht, muss aber vom Hungerstreik unbeeinflusst getroffen werden. Umgekehrt lautet die Frage, ob der Staat einen Menschen zwingen kann, seine Strafe abzusitzen. Da kommt die Frage ins Spiel, ob Strafe das Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung ist oder ob sie einen Racheaspekt hat. Der Staat soll aber nicht Rache nehmen können, er ist nur zuständig für die öffentliche Ordnung.»

      Rappaz musste im August 2010 nach dem Entscheid des Bundesgerichts den Hausarrest, den ihm die Walliser Regierung mit Rücksicht auf seine Gesundheit gewährt hatte, abbrechen und wieder ins Gefängnis eintreten. Hier trat er sofort wieder in den Hungerstreik.

      Dokumentation