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Rechte von Minderheiten und indigenen Völkern - Begriffliche Fragen

26.07.2016

Im Folgenden werden die wichtigsten Typen von Minderheiten definiert, welche durch Minderheitenrechte geschützt werden. Dabei werden einige grundsätzliche Problematiken angetippt.

Minderheitenrechte, Ethnisierung, Identitätspolitik

Die These ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein rechtlicher Minderheitenschutz die Nebenwirkung hat, Ethnizität politisch aufzuladen. Es wird befürchtet, dass Minderheitenrechte diejenigen Handlungsoptionen stärken, welche sich an einer kollektiven Identitätsplitik ausrichten, mit erhöhtem Risiko, den Akzent der Politik auf Gemeinschaftsgefühle und kollektive Ab- und Ausgrenzungen zu setzen. Deshalb seien Minderheitenrechte kontraproduktiv oder gar als gefährlich einzustufen und aus gesellschaftspolitischen Gründen abzulehnen.

Dem ist entgegen zu halten: Minderheitenrechte sind als Schutz für gesellschaftlich unterdrückte ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten vor einer Zwangsassimilation an die Mehrheitsgesellschaft konzipiert.  Wenn eine Minderheit unterdrückt wird, so ist davon auszugehen, dass das Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit bereits stark ethnisiert ist und die Einführung von Minderheitenrechten diesbezüglich nicht viel Schaden anrichten kann.

Rechtstheoretisch wird den obigen Befürchtungen der Wind aus den Segeln genommen, wenn Minderheitenrechte konzeptuell nicht mehr auf der Idee der kulturellen Identität einer Minderheitengruppe aufbauen, sondern auf der Idee eines gerechten Ausgleichs von kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Nachteilen, welche die Angehörigen von Minderheitengruppen erleiden. Letztere kommt ohne den Fetisch der kollektiven Identität aus; sie orientiert sich vielmehr am Ideal einer Verteilungsgerechtigkeit von Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten.


Was ist eine «nationale Minderheit»?

Sowohl im Rahmen des Europarates als auch der OSZE wird der Begriff der «nationalen Minderheit» verwendet. Allerdings gibt es keine allseits akzeptierte Definition dieses Begriffs.

Kriterien des Europarats

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates wagte 1993 einen Definitionsversuch. In einem Entwurf für ein Zusatzprotokoll zur EMRK betreffend den Schutz nationaler Minderheiten (das nicht zustande kam) wird als nationale Minderheit eine Gruppe von Personen bezeichnet, welche

  • im Hoheitsgebiet eines Staates ansässig und dessen Staatsbürger/innen sind,
  • langjährige, feste und dauerhafte Bindungen zu diesem Staat haben,  
  • besondere ethnische, kulturelle, religiöse oder sprachliche Merkmale aufweisen, 
  • ausreichend repräsentativ sind, obwohl ihre Zahl geringer ist als die der übrigen Bevölkerung dieses Staates oder einer Region dieses Staates, 
  • den Willen haben, die für ihre Identität charakteristischen Merkmale gemeinsam zu erhalten.

Die Erfordernisse der Staatsangehörigkeit und der dauerhaften Bindungen sind umstritten. Der Beratende Ausschuss des Europarates, das Überwachungsorgan des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, forderte die Vertragsstaaten mehrmals dazu auf, den Anwendungsbereich des Rahmenabkommens auf neue, bisher nicht geschützte Minderheiten auszuweiten.

Die meisten Staaten halten demgegenüber am Erfordernis der Staatsangehörigkeit fest. So etwa die Schweiz, die anlässlich der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten die Erklärung abgab, wonach sie nur diejenigen Gruppen als «nationale Minderheiten» anerkenne, deren Angehörige die schweizerische Staatsbürgerschaft besitzen und alte, solide und dauerhafte Bindungen zur Schweiz unterhalten

Fehlende Minderheitendefinition in der OSZE

Im Rahmen der OSZE ist der Begriff der «nationalen Minderheit» gebräuchlich. Dieser wird in der Regel als Oberbegriff für religiöse, sprachliche, ethnische und kulturelle Minderheiten verwendet. Allerdings fehlt auch auf der Ebene der OSZE eine allgemein anerkannte und verbindliche Definition des Begriffs der nationalen Minderheit. Die OSZE-Staaten haben sich aber immerhin darauf geeinigt, dass nicht mehr die Staaten definieren, welche Minderheiten auf seinem Territorium leben und wer ihr angehört. Es liegt vielmehr in der Entscheidung des Einzelnen, sich als Angehörigen einer Minderheit zu deklarieren oder nicht. In diesem Sinne hält das Schlussdokument des Kopenhagener Treffens über die menschliche Dimension von 1990 im Artikel 32 fest: «Die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit ist Angelegenheit der persönlichen Entscheidung eines Menschen und darf als solche für ihn keinen Nachteil mit sich bringen.»

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Was sind «indigene Völker»?

Die Bezeichnung «indigenus» stammt aus dem Lateinischen und bedeutet «eingeboren» oder «einheimisch». Eine völkerrechtliche Definition des Begriffs «Indigene Gruppen» wurde mit der Errichtung der United Nations Working Group on Indigenous Populations im Jahre 1982 entwickelt, um bestimmen zu können, wer überhaupt an dieser Arbeitsgruppe teilnehmen und in ihr mitreden sollte.

Elemente einer Definition

Bereits 1982 wurde von der «UNO-Arbeitsgruppe zu den indigenen Bevölkerungsgruppen» eine Arbeitsdefinition entwickelt: «Indigene Populationen bilden sich aus den heutigen Nachfahren der Völker, die das gegenwärtige Territorium eines Landes ganz oder teilweise bewohnten zur Zeit, als Menschen einer anderen Kultur oder ethnischen Herkunft aus anderen Teilen der Welt dort ankamen, und die ansässigen Völker unterwarfen und durch Eroberung, Besiedlung oder anderen Mitteln in eine untergeordnete oder koloniale Situation versetzten; die heute mehr in Übereinstimmung mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bräuchen und Traditionen leben als mit den Institutionen des Landes, von dem sie nun Teil sind, unter einer staatlichen Struktur, die hauptsächlich die nationalen, sozialen und kulturellen Merkmale anderer Bevölkerungssegmente verkörpert, die vorherrschend sind.» (vgl. E/CN.4/Sub.2/L.566, Chapter 11)

Aus der U.N. Working Definition of Indigenous Populations von 1982 sind die folgenden vier Hauptkriterien der Indigenität hervorzuheben:

  • Historische Kontinuität: Indigene Gruppen behaupten eine historische Kontinuität mit den Ureinwohnern eines bestimmten Gebietes vor dessen Eroberung oder Besiedlung von aussen. Daraus erklären sie sich ihre enge Bindung zum Territorium, in welchem sie leben.
  • Marginalität: Aufgrund einer Geschichte von Besiedlung und Eroberung von aussen nehmen indigene Gruppen heute eine gesellschaftliche Randstellung innerhalb des Staates ein, in welchem sie leben.
  • Kulturelle Distanzierung: Indigene Gruppen markieren eine starke Distanz zur Kultur der dominanten Gesellschaft des Staates, in dem sie leben. Sie beharren auf ihren tradierten kulturellen Eigenheiten und soziopolitischen Organisationsformen.
  • Selbstidentifikation als Volk: Das Bewusstsein, Teil einer abgeschlossenen eigenständigen Gemeinschaft zu sein, ist bei den Mitgliedern indigener Gruppen verbreitet und prägend..

Indigenes Volk oder ethnische Minderheit?

Im Anfangsstadium der internationalen indigenen Bewegung im Rahmen der UNO galten hauptsächlich jene Gruppen als indigen, welche sich als Nachfahren der Ureinwohner/innen der ehemaligen europäischen Siedlerkolonien Amerikas, Australiens und der Pazifikregion verstanden.

Umstritten ist die Verwendung des Begriffs der indigenen Gruppe in vielen Kontexten in Asien und Afrika, wo im Zuge der Dekolonialisierung bestimmte einheimische Eliten die Macht übernommen haben, sowie in Europa, wo die Ausbreitung der modernen Nationalstaaten viele ethnische Gruppen in zweitrangige Randgruppen verwandelte. In diesen Kontexten wird auch von «internem Kolonialismus» gesprochen, um auf die Marginalisierung bestimmter ethnischer Gruppen aufmerksam zu machen, die sich selbst als die Nachfahren der Ureinwohner/innen bestimmter Gebiete verstehen. Die Situation solcher Minderheiten ähnelt jener indigener Völker in anderen Teilen der Welt. Die Regierungen der betreffenden Staaten akzeptieren jedoch die Bezeichnung «indigen» für solche ethnischen Minderheiten oft nicht, mit der Begründung, dass andere Bevölkerungsgruppen und auch die jeweilige Mehrheitsbevölkerung das heutige Staatsterritorium ebenfalls bereits seit langer Zeit besiedeln würden. Oft sei nicht schlüssig belegt, welche Gruppe zuerst in einer bestimmten Region ansässig war.

Weil die Abgrenzung von «ethnisch» und «indigen» an unterschiedliche Rechtsansprüche gekoppelt ist, handelt es sich nicht nur um eine akademische, sondern auch um eine rechtspolitische Definitionsfrage. Die rechtliche Stellung von ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten ist im Rahmen des UNO-Menschenrechtsschutzes relativ schwach ausgebildet. Gleichzeitig haben Vertreter/innen von indigenen Gruppen mit der Deklaration der Rechte indigener Völker im Rahmen der UNO ein eigenes Rechtsinstrument mit relativ starken Autonomiegarantien erlangt. Die Tendenz geht dahin, dass viele Gruppen, die bislang als «ethnische Minderheiten» klassifiziert wurden, für sich den Status von «indigenen Gruppen» reklamieren, was ihnen von Seiten der Staaten gewöhnlich nicht zugestanden wird.

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Ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten

Der breiteste Begriff von Minderheiten im internationalen Recht entstammt der UNO-Deklaration zu den Minderheitenrechten von 1992 und umfasst kulturelle, ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten. Die drei letztgenannten Adjektive finden sich dann auch im bedeutsamen Art. 27 von UNO Pakt II.

Weitgehende Anerkennung hat die Definition gefunden, die von Francesco Capotorti 1979 als UNO-Sonderberichterstatter der Minderheiten-Unterkommission vorgelegt und 1985 von Jules Deschênes auf Ersuchen der Unterkommission geringfügig modifiziert worden ist. Gemäss den Definitionen von Capotorti und Deschênes zeichnet sich eine Minderheit durch folgende Elemente aus:

  • numerische Unterlegenheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung; 
  • nicht-dominante Stellung im Staat;
  • ethnische, religiöse oder sprachliche Unterschiede gegenüber der Mehrheitsgesellschaft;
  • Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates.

Zu diesen objektiven Elementen kommt auf subjektiver Seite nebst dem Solidaritäts- oder Identitätsgefühl auch der Wille dazu, die Gruppenidentität aufrecht zu erhalten.

Die Zugehörigkeit einer Person zu einer Minderheit hängt zum einen vom individuellen Willen ab, zugehörig zu sein, und zum andern von der Bereitschaft anderer Gruppenmitglieder, diese Zugehörigkeit anzuerkennen.

Ein wichtiges objektives Kriterium ist die untergeordnete Stellung der Minderheitengruppe im Staat. Das Machtdefizit bedeutet, dass die Angehörigen einer solcher Minderheit einem höheren Risiko ausgesetzt sind, diskriminiert zu werden. So gehören denn auch «Ethnie» und «Religion» zu den Merkmalen, die von den Diskriminierungsverboten häufig geschützt werden.

Lange Zeit war umstritten, ob die Staatsangehörigkeit der Mitglieder einer Minderheit zum Aufenthaltsstaat ein unerlässliches Element des rechtlichen Minderheitenbegriffs darstellt. Falls ja, hätte dies zur Folge, dass ausländische Personen keinen Anspruch auf Minderheitenrechte geltend machen könnten. Der UNO-Menschenrechtsausschuss hat das Erfordernis der Staatsangehörigkeit in einem «General Comment» von 1994 verneint und ausländische Personen ausdrücklich in den Minderheitenbegriff einbezogen.

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