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Coronavirus: Das Leben von Gefangenen steht über Sicherheitsinteressen

23.03.2020

humanrights.ch ist besorgt über die Situation von Gefangenen und ruft die Behörden dazu auf, die Grundrechte der Gefangenen auch während der Corona-Pandemie zu wahren. Das Recht auf Leben und das Recht auf Gesundheit sind aufgrund der besonderen Verletzlichkeit von Gefangenen höher zu gewichten als Sicherheitsinteressen. humanrights.ch ruft die Behörden dazu auf, in den Einrichtungen mehr Platz zu schaffen und damit auch die Mitarbeitenden zu entlasten.

Medienmitteilung vom 20. März 2020

Gefängnisse sind Epizentren für Infektionskrankheiten. Die Inhaftierten leben und arbeiten auf engstem Raum, teilen sich Duschen und Zellen. Überfüllte und schlecht belüftete Räume erhöhen die Ansteckungsgefahr zusätzlich. Die Möglichkeiten für die Gefangenen, ihre Hände zu waschen oder zu desinfizieren, sind teilweise eingeschränkt.

Der Ausbruch einer übertragbaren Krankheit wie COVID-19 birgt für die Gefängnispopulation besondere Risiken: Beinahe jeder fünfte Gefangene ist über 50 Jahre alt. Auch jüngere Gefangene gehören häufig zur Gruppe der besonders gefährdeten Personen, da ihr Gesundheitszustand im Durchschnitt schlechter ist als jener der vergleichbaren Altersgruppe ausserhalb der Gefängnisse.

Die medizinischen Dienste innerhalb der Einrichtungen des Freiheitsentzugs verfügen nur über beschränkte Ressourcen. Es ist nicht auszuschliessen, dass schwer erkrankte Gefangene aufgrund fehlender Betten gar nicht in ein öffentliches Krankenhaus transferiert werden können und ein hohes Risiko besteht, dass sie in den Einrichtungen sterben.  Gemäss dem Äquivalenzprinzip hat aber jede inhaftierte Person Anspruch auf einen gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Im Rahmen der staatlichen Fürsorgepflicht müssen die Behörden auch unkonventionelle Massnahmen treffen, um Gefangene in dieser besonderen Situation zu schützen und das Gefängnispersonal zu entlasten. Insbesondere muss das Recht auf Leben und Gesundheit der Gefangenen und der Mitarbeitenden höhergestellt werden, als abstrakte Sicherheitsinteressen.

Problematisch ist ausserdem die Tatsache, dass Personen, sobald sie innerhalb eines Gefängnisses infiziert sind, isoliert werden müssen. Dies könnte schnell zu einem Platzmangel innerhalb der Einrichtungen führen. Ausserdem befeuern Besuchsverbote sowie drastische Einschränkungen der Freiheiten nach innen – etwa die Streichung des einstündigen Spaziergangs oder 24-stündige Zelleneinschlüsse – Spannungen unter den Gefangenen sowie zwischen Gefangenen und dem Personal. humanrights.ch ruft die Behörden auf, kompensatorische Massnahmen – wie etwa die Gewährung von Skype-Gesprächen – zu ergreifen, um die Grundrechte der Gefangenen auch in dieser Krisensituation zu wahren, psychischen Dekompensationen vorzubeugen und das Personal dadurch zu unterstützen.

Wir fordern, dass die Grundrechte der Gefangenen auch in der aktuellen Krise geschützt werden, insbesondere

  • muss die Verhältnismässigkeit von Grundrechtseinschränkungen in jedem Fall gewahrt sein;
  • müssen die Gefangenen aufgrund des Besuchsverbots kompensatorisch alternative Möglichkeiten des Kontakts zur Aussenwelt erhalten (z.B. Skype);
  • müssen an COVID-19 erkrankte Gefangene die gleichen Chancen auf eine medizinische Intensivbehandlung erhalten wie die Allgemeinbevölkerung in Freiheit.

Wir fordern die Anzahl Gefangener in den Einrichtungen zu reduzieren, indem

  • die Untersuchungshaft zurückhaltender angeordnet wird, bei der Verhältnismässigkeitsprüfung ist das erhöhte Ansteckungsrisiko in einer Institution des Freiheitsentzugs zu berücksichtigen;
  • auf Zweier- und Mehrbettzellen in der Untersuchungshaft bis auf Weiteres verzichtet wird;
  • Gefangene in derzeit weniger stark ausgelastete offene Einrichtungen verlegt werden, um geschlossene Anstalten zu entlasten;
  • die bedingte Entlassung früher gewährt wird; der in Art. 86 Abs. 4 StGB zur bedingten Entlassung aufgeführte Grund «ausserordentliche, in der Person des Gefangenen liegende Umstände» soll als besondere Notwendigkeit des Schutzes der Gesundheit bei besonders gefährdeten Personen ausgelegt werden.
  • die bedingte Entlassung nach 2/3 der Strafe grosszügiger gewährt wird; der Resozialisierungsauftrag kann bei den vorherrschenden restriktiven Haftbedingungen und der Streichung von Vollzugsöffnungen (Urlaube, Ausgänge, Halbgefangenschaft, Arbeitsexternat) und Bildungsangeboten nicht mehr erfüllt werden. 

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