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Borer gegen die Schweiz: Anordnung der vorläufigen Verwahrung ohne rechtliche Grundlage

Urteil vom 10. Juni 2010 (Beschwerde Nr. 22393/06)
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit); rechtliche Grundlage der Haft im Nachverfahren
Urteil

Zusammenfassung des Bundesamtes für Justiz:

«Der Beschwerdeführer wurde 1997 in Basel-Stadt zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt; das Gericht ordnete zudem eine psychotherapeutische Massnahme nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB an. Kurz vor Ablauf der Strafe wandelte das zuständige Strafgericht die Massnahme in eine Verwahrung um. Da der Beschwerdeführer die Strafe während des Rechtsmittelverfahrens gegen den Umwandlungsentscheid verbüsst hätte und infolgedessen hätte entlassen werden müssen, ordnete die Präsidentin des Appellationsgerichts die vorläufige Verwahrung an. Sie stützte sich dabei auf Art. 198 der kantonalen Strafprozessordnung, der zur Ergreifung der zur Sicherstellung des Vollzugs eines nicht rechtskräftigen Urteils erforderlichen Massnahmen verpflichtet. Vor dem Gerichtshof machte der Beschwerdeführer geltend, für die angeordnete Haft während des Nachverfahrens fehle die rechtliche Grundlage (Art. 5 Abs. 1 EMRK).

Der Gerichtshof stellte fest, die angeführte Bestimmung der kantonalen Strafprozessordnung betreffe eine andere Konstellation der Freiheitsentziehung und könne nicht als Grundlage für einen neuen Hafttyp herangezogen werden. Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichts könne nicht als Surrogat für die fehlende gesetzliche Grundlage dienen, weil es zwar mehrere entsprechende Urteile gebe, diese aber verschiedene Kantone mit je unterschiedlichen Regelungen beträfen, so dass sie nicht als Präjudiz gelten könnten.
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).»

Quelle: Bundesamt für Justiz, Quartalsberichte über die Rechtsprechung des EGMR, 2. Quartal 2010 (pdf, 9 S.)