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Rückzahlung der Sozialhilfe mit Pensionskassenguthaben – das Bundesgericht stützt umstrittene Aargauer Praxis

27.01.2022

In verschiedenen Aargauer Gemeinden ist es Praxis, dass von Armut betroffene Menschen kurz vor der Pensionierung rechtmässig bezogene Sozialhilfeleistungen mit ihrem Altersguthaben zurückerstatten müssen. Das Bundesgericht erachtet die Vorgehensweise als zulässig. Die Aargauer Politik ist dem einen Schritt voraus und will die stossende Praxis abschaffen.

In einem Urteil vom 24. November 2021 kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die ausbezahlten Freizügigkeitsguthaben der Pensionskasse verwendet werden können, um Sozialhilfeleistungen zurückzuzahlen. Die entsprechende Praxis in verschiedenen Aargauer Gemeinden verstosse nicht gegen Bundesrecht.

Die Beschwerdeführerin, eine heute 63-jährige Frau, bezog während mehreren Jahren wirtschaftliche Sozialhilfe von der Gemeinde Oberentfelden im Kanton Aargau. Aufgrund ihrer bevorstehenden Pensionierung verzichtete die Gemeinde im Jahr 2019 darauf, die Betroffene zur Stellensuche aufzufordern. Es wurde jedoch erwartet, dass sie einige Stunden Freiwilligenarbeit pro Tag leistet oder alternativ ihr Pensionskassenguthaben bezieht und damit einen Teil der bezogenen Sozialhilfe zurückerstattet. Nach einer rechtlichen Beratung versagte die Beschwerdeführerin die Zustimmung zur erarbeiteten Rückerstattungsvereinbarung. Gemäss eigener Aussagen hat sie ihre Bereitschaft zur Freiwilligenarbeit ausdrücklich bestätigt. Im Juli 2019 erhielt sie ihr Pensionskassenguthaben, 132‘142 Schweizer Franken, ausbezahlt. Im Oktober desselben Jahres forderte der Gemeinderat Oberentfelden die Beschwerdeführerin dazu auf, einen Teil ihrer bezogenen wirtschaftlichen Sozialhilfe – 66‘565 von insgesamt 162‘232 Schweizer Franken – zurückzuerstatten.

Die Betroffene wehrte sich mit Unterstützung der Unabhängigen Fachstelle für Sozialrecht (UFS) gegen diesen Entscheid und zog bis vor Bundesgericht. Dieses erachtet die Aargauer Praxis jedoch als zulässig: Zur Rückerstattung von Sozialhilfeleistungen bei verbesserten wirtschaftlichen Verhältnissen (Art. 20 SPG) könne das Freizügigkeitsguthaben herangezogen werden.

Im Widerspruch zur Verfassung

Nach Ansicht der Beschwerdeführerin widerspricht die Aargauer Praxis dem in Artikel 113 der Bundesverfassung festgehaltenen Zweck von Pensionskassenguthaben. Diese sollen – gemeinsam mit der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) – die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise sicherstellen, also dem Lebensunterhalt im Alter dienen. Wenn die Altersgelder jedoch der Gemeinde zurückerstattet werden müssten, um Sozialhilfebezüge zu begleichen, werde dieser Zweck vereitelt. Indem die kantonalen Bestimmungen nicht bundesrechtskonform ausgelegt wurden, sei der durch Artikel 49 Absatz 1 der Bundesverfassung garantierte Vorrang des Bundesrechts verletzt worden. Schliesslich würden auch die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) vorschreiben, dass aus Pensionskassenguthaben grundsätzlich keine Rückzahlung von Sozialhilfeleistungen erfolgen können.

Kein besonderer Schutz für Freizügigkeitsguthaben

Das Bundesgericht kommt in seinem Urteil zum Schluss, dass Artikel 113 der Bundesverfassung keinen individualrechtlichen Gehalt aufweist und deshalb nicht gerügt werden kann. Es sei zudem nicht ersichtlich, inwiefern die kantonalen Erlasse «gegen den Sinn und Geist des Bundesrechts verstossen und dessen Zweck beeinträchtigen oder vereiteln würden».

Personen mit Pensionskassenguthaben können bei ihrer Pensionierung entscheiden, ob sie sich das Guthaben ausbezahlen lassen oder eine monatliche Rente beziehen wollen. Indem die Beschwerdeführerin das Pensionskassenguthaben bezogen hat, steht ihr das Geld gemäss Bundesgericht frei zur Verfügung – wodurch auch Gläubiger*innen darauf zugreifen können. Dazu gehöre die Möglichkeit, das Guthaben für die Rückzahlung der Sozialhilfe heranzuziehen. Anderweitig bestünden keine berufsvorsorglichen Bestimmungen, die einem bezogenen Freizügigkeitsguthaben besonderen Schutz vermitteln würden.

Beschränkte Pfändbarkeit

Gemäss Bundesgericht haben die kantonalen Vorinstanzen die Rechtslage jedoch nicht in allen Teilen korrekt erfasst. Das Gericht stellt klar, dass Pensionskassenguthaben, die im Rahmen einer vorzeitigen Pensionierung ausgezahlt werden (Art. 16 FZV), auch nach ihrer Auszahlung nur beschränkt gepfändet werden können (Art. 93 SchKG). Eine Pfändung ist nur möglich bis zur Höhe der jährlichen Rente. Damit werde dem vorsorgerechtlichen Zweck, wonach diese Mittel dem Lebensunterhalt im Alter dienen sollen, bundesrechtlich Rechnung getragen.

In Zukunft dürfte das bundesgerichtliche Urteil dazu führen, dass auch im Kanton Aargau die Kapitalzahlung in eine Rente umgerechnet und anschliessend die pfändbare Quote berechnet wird. So werden in den meisten Fällen keine oder nur sehr bescheidene Rückzahlungen von Sozialhilfeleistungen mit Pensionskassenguthaben nötig sein, was die betroffenen älteren Sozialhilfebeziehenden entlastet.

Die Politik reagiert

Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht begrüsst, dass das Bundesgericht die Aargauer Praxis mit der beschränkten Pfändbarkeit von ausbezahlten Freizügigkeitsguthaben zumindest teilweise korrigiert. Gleichzeitig bedauert sie, dass das Gericht die Rückerstattung von rechtmässig bezogenen Sozialhilfeleistungen mit Geldern aus der Altersvorsorge grundsätzlich als zulässig erachtet. Nach Meinung der Fachstelle widerspricht dies dem vorgesehenen Zweck der Altersvorsorge.

Auch bei anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen stiess die Praxis der Gemeinden auf wenig Verständnis. Die Allianz «Austausch Armut» kritisierte die Vorgehensweise der Behörden in einem Positionspapier vom März 2021 aufs schärfste. Die Sozialhilfe entspeche dem Bedarfs- und nicht einem Schuldprinzip. Es stelle damit auch keine Schuld dar, wenn keine Hilfe mehr benötigt werde. Vielmehr brauche eine tatsächliche Chance zu einem Neustart ohne Schulden.

Die vom kantonalen Verwaltungsgericht und vom Bundesgericht geduldete Praxis einzelner Gemeinden führt zu stossenden Ergebnissen: Während Betroffene eines Gemeinwesens fast ihr gesamtes Freizügigkeitsguthaben abgeben müssen, bleiben die Pensionär*innen der Nachbargemeinde verschont. Darüber hinaus verletzt ein Zwang, das Vorsorgeguthaben für die Rückzahlungen von Sozialhilfeschulden zu verwenden, die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS. Danach gehören «ausgelöste Guthaben der Altersvorsorge (…) zum anrechenbaren Vermögen und sind für den aktuellen und zukünftigen Lebensunterhalt zu verwenden» (D.3.3. Altersvorsorge). Diese Meinung vertritt nicht zuletzt auch der Bundesrat, was er in einer Stellungnahme zur Motion «Keine Zweckentfremdung von Altersguthaben» vom Februar 2021 darlegte. Ein gesetzliches Verbot für Rückerstattungen von Sozialhilfe durch angesparte obligatorische Vorsorgeguthaben lehnt er jedoch ab: Den Vorsorge- und Freizügigkeitseinrichtungen würden die Mittel fehlen, entsprechende Zahlungen an die Sozialhilfebehörden zu verhindern.

Die Aargauer Regierung ist der Debatte einen Schritt voraus: Der Regierungsrat hat den Gemeinden vorgeschlagen, in Zukunft auf die Rückzahlung der bezogenen Sozialhilfeleistungen mit Pensionskassenguthaben zu verzichten. Damit kommt er den Forderungen aus dem Kantonsparlament nach. Der Grosse Rat überwies bereits im Mai 2021 ein Postulat, wonach Freizügigkeitsleistungen als Altersvorsorge zu definieren seien und für die Rückerstattung der Sozialhilfe nicht mehr zur Verfügung stehen sollen.

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