21.11.2017
Seit 1. April 2004 wird der Grossteil der Straftaten im häuslichen Bereich von Amtes wegen verfolgt. Vor dieser Änderung wurden die entsprechenden Taten nur strafrechtlich verfolgt, wenn das Opfer einen formellen Strafantrag gestellt hatte – auch wenn die Strafverfolgungsbehörden bereits davon Kenntnis hatten. Mit der Änderung vom 1. April 2004 wurde das Strafgesetzbuch dahingehend angepasst, dass Gewalt in Paarbeziehungen nicht mehr länger als «reine Privatsache» betrachtet werden darf.
Offizialdelikte
Seit der Änderung des Strafgesetzbuches 2004 werden die folgenden Taten von Amtes wegen verfolgt, unter der Voraussetzung, dass diese zwischen Ehepartnern/eingetragenen Partnern während der Ehe/Partnerschaft bzw. bis zu einem Jahr nach der Scheidung/Auflösung, oder zwischen Lebenspartnern (sowohl bei hetero- als auch bei homosexuellen Partnerschaften) mit einem gemeinsamen Haushalt auf unbestimmte Zeit oder bis zu einem Jahr nach deren Trennung erfolgten:
- einfache Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3-5 StGB),
- wiederholte Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 lit. b, bbis und c StGB),
- Drohung (Art. 180 Abs. 2 StGB)
Sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) und Vergewaltigung (Art. 190 StGB) sind seit 2004 unabhängig vom Beziehungsstatus immer als Offizialdelikte von Amtes wegen zu verfolgen.
Lediglich bei Tätlichkeiten (Ohrfeigen etc.) ist eine wiederholte Begehung erforderlich, damit die Tat von Amtes wegen zu verfolgen ist. Bei vorliegendem Strafantrag ist auch eine einmalige Tätlichkeit strafrechtlich zu verfolgen.
Ebenfalls unabhängig von einem allfällig vorliegenden Strafantrag zu verfolgen sind einfache Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 2 StGB) und wiederholte Tätlichkeiten (Art. 126. Abs. 2 lit. a StGB), die an Kindern begangen worden sind.
Hinweise zur Strafverfolgung bei häuslicher Gewalt
Die Strafbehörden (Polizei und Staatsanwaltschaft) sind verpflichtet, bei Hinweisen auf häusliche Gewalt tätig zu werden (Art. 7 Abs. 1 StPO).
Im Rahmen eines allfälligen Strafprozesses sind für die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches die kantonalen Staatsanwaltschaften zuständig. Seit Einführung der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) per 1. Januar 2011 ist das Strafverfahren einheitlich für die ganze Schweiz geregelt. Dennoch können sich aufgrund unterschiedlicher Organisationsformen gewisse Unterschiede zwischen den Kantonen ergeben (e.g. Aufteilung in Ober- und Unterstaatsanwaltschaften oder auch spezialisierte Staatsanwaltschaften).
Bei Bestehen eines dringenden Tatverdachts, wie etwa bei Kenntnis einer mutmasslichen Straftat, leitet die Staatsanwaltschaft die formelle Untersuchung gegen die verdächtige Person ein und führt diese durch. Bei Vorliegen von ausreichenden Verdachtsmomenten erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage an das Gericht, oder erlässt unter den Voraussetzungen von Art. 352 ff. StPO einen Strafbefehl.
Einstellung des Verfahrens
Ebenfalls mit der Änderung des Strafgesetzbuches vom 1. April 2004 wurde die Bestimmung von Art. 55a StGB zur «Einstellung des Verfahrens» bei Ehegatten, eingetragener Partnerin, eingetragener Partner oder Lebenspartner als Opfer eingeführt. Die Bestimmung wurde eingeführt, weil befürchtet wurde, dass eine ausnahmslose Verfolgung von Straftaten im Bereich häuslicher Gewalt in gewissen Fällen legitime Interessen der Opfer gefährdet sein könnten. Demzufolge kann das Verfahren bei einfacher Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3-5), wiederholten Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 Bst. b, bbis und c), Drohung (Art. 180 Abs. 2) und Nötigung (Art. 181) sistiert – und sofern nicht innerhalb von 6 Monaten ein Widerruf erfolgt - eingestellt werden.
Aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichts hat sich entgegen dem Wortlaut des Art. 55a StGB die Praxis etabliert, dass die Verfahrenseinstellung primär vom Opferwillen abhängig ist (vgl. BGer 6S.454/2004). Die Strafverfolgungsbehörden müssen demnach dem Willen des Opfers folgen, ausser dieser gründet nicht auf freiem Willen. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Mehrheit der Verfahren (ca. 60-80%) eingestellt werden.
Strafrechtliches Kontakt- und Rayonverbot
2013 wurden der strafrechtliche Schutz mit der Bestimmung in Art. 67b StGB weiter ausgebaut. Die Bestimmung sieht zum Schutz einzelner konkreter Opfer insbesondere vor häuslicher Gewalt und zwanghafter Belästigung (Stalking) ein Kontakt-und Rayonverbot vor: Dem Täter kann namentlich verboten werden, mit bestimmten Personen Kontakt aufzunehmen, sich einer bestimmten Person zu nähern oder sich in einem bestimmten Umkreis ihrer Wohnung oder an bestimmten Orten aufzuhalten.
Verbesserung der Informationsrechte von Opfern
Aufgrund der Änderung des Strafgesetzbuches vom 26. Sept. 2014 können Opfer und ihre Angehörigen, sowie Dritte – sofern diese über ein schutzwürdiges Interesse verfügen – auf Gesuch hin detaillierte Auskunft über Strafvollzug, Entlassung oder Flucht des Täters verlangen. Um Auskunft zu erhalten, müssen die Betroffenen/Interessierten ein schriftliches Gesuch an die Vollzugsstelle stellen. Diese entscheidet nach der Anhörung des Straftäters über das Gesuch, kann die Informationen aber nur bei berechtigten Interessen des Verurteilten verweigern. Bei Gutheissung des Gesuchs erhalten sie namentlich Informationen über Strafantritt, Vollzugseinrichtung, Details des Vollzugs und allfällige Lockerungen, Entlassung oder die Flucht des Täters.
Revisionsbemühungen im Bereich Strafrecht
Im Rahmen der laufenden Bemühungen zur Genehmigung und Umsetzung der Istanbul-Konvention sollen verschiedene Aspekte des zivil- und strafrechtlichen Schutzes vor häuslicher Gewalt angepasst werden. Dazu hat der Bundesrat die zu ändernden Bestimmungen in Vernehmlassung geschickt. Die Vernehmlassungsfrist dauerte bis zum 29. Januar 2016.
Die Änderungsvorschläge im Strafrecht gehen unter anderem auf zwei Motionen auf Bundesebene (Heim und Keller-Sutter) zurück und betreffen die oben geschilderte Einstellungspraxis bei Gewalt in Paarbeziehungen. Wie vorstehend geschildert können nach geltendem Recht Strafverfahren wegen einfacher Körperverletzung, wiederholter Tätlichkeiten, Drohung oder Nötigung sistiert und eingestellt werden, wenn das Opfer dies verlangt.
Diese Bestimmung soll zur Entlastung der Opfer angepasst werden. Dazu sind folgende Massnahmen vorgesehen:
- Die Willensäusserung des Opfers soll nicht mehr weitgehend alleine über den Fortgang des Strafverfahrens bestimmen, sondern es sollen von der zuständigen Behörde weitere Umstände beachtet und berücksichtigt werden.
- Bei wiederholter Gewalt in der Paarbeziehung soll das Strafverfahren nicht mehr sistiert werden können.
- Vor der Einstellung des Strafverfahrens soll das Opfer nochmals angehört/befragt werden.
Der Bundesrat schlägt in seiner Botschaft zur Änderung des Zivil- und Strafrecht vom 11. Okt. 2017 nun vor, dass diese Änderungen umgesetzt werden. Zusätzlich soll es künftig möglich sein, dass potenziell gewaltausübende Personen ein elektronisches Armband oder eine elektronische Fussfessel tragen müssen.
- Den Schutz vor häuslicher Gewalt und Stalking verbessern
Medienmitteilungen des Bundesrats vom 11.10.2017
Weitere Informationen
- Häusliche Gewalt in der Schweizer Gesetzgebung
Infoblatt Nr. 11 des EBG - Rechtliche Beratung und Vertretung bei häuslicher Gewalt gemäss der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO)
Infoblatt Nr. 12 des EGB - Opfer häuslicher Gewalt besser schützen
Dokumentation des Geschäfts 12.4025 - Motion Keller-Sutter Karin, vom 29. November 2012, auf der Website des Parlaments - Schutz vor häuslicher Gewalt
Dokumentation des Bundesamtes für Justiz zu den aktuellen Gesetzes-Revisionen - Eindämmung der häuslichen Gewalt
Dokumentation 09.3059- Motion Heim Bea, vom 5. März 2009, auf der Website des Parlaments - Gewaltprävention fortsetzen - Häusliche Gewalt eindämmen
Medienmitteilung des Bundesrates vom 28. Januar 2015 mit Link zum Bericht des Bundesrates zur Motion Heim