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Eheverbot für Sans-Papiers - Bundesgericht klärt

12.12.2011

Die Umsetzung der neuen Bestimmungen im Zivilgesetzbuch zur Missbrauchsbekämpfung von Scheinehen ist problematisch, weil abgewiesenen Asylbewerbern und Sans-Papiers das Recht auf Ehe (Art. 12 EMRK) nicht systematisch verweigert werden darf. Das Bundesgericht hat in einem Grundsatzentscheid vom 23. November 2011 den Weg vorgegeben, wie die sogenannte «Lex Brunner» menschenrechtskonform umzusetzen ist. Die Richter in Lausanne beziehen sich in ihrer Argumentation auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von 2010.

In seinem Urteil vom 14. Dezember 2010 hatte der EGMR im Falle O’Donoghue et al. gegen Grossbritannien quasi in Vorwegnahme der Umsetzung der Lex Brunner in der Schweiz unterstrichen, dass das Recht auf Ehe allen Menschen unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status zusteht. Illegal anwesenden Ausländern dürfe der Eheschluss nicht systematisch verweigert werden. Massnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen müssten verhältnismässig sein. Insbesondere sei abzuklären, ob der Ehewunsch auf einer ehrlichen Absicht beruhe. 

Klare Voraussetzungen

Laut BGE 137 I 351 könnte aufgrund dieser Vorgaben auch die «Lex Brunner» gegen die EMRK verstossen, wenn sie ungeachtet des Einzelfalls angewendet würde. Den Zivilstandsämtern selber seien indessen aufgrund des klaren Willens des Gesetzgebers die Hände für eine flexible und damit EMRK-konforme Praxis gebunden. Ihnen bleibe nichts anderes übrig als das Gesetz anzuwenden und die Schliessung entsprechender Ehen zu verweigern. Um dem Einzelfall gerecht zu werden (bzw. um dem Recht auf Eheschluss und dem Gebot der Verhältnismässigkeit Rechnung zu tragen), legt das Bundesgericht nun fest, dass die Fremdenpolizeibehörden den Betroffenen gegebenfalls für das Eheverfahren eine provisorische Aufenthaltsbewilligung auszustellen haben.

Dazu müssen laut Gericht allerdings gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. Einerseits dürfen keine Indizien für einen Missbrauch - also eine Scheinehe - vorliegen. Andererseits muss feststehen, dass die ausländische Person nach dem Eheschluss die Bedingungen für einen nunmehr rechtmässigen Aufenthalt in der Schweiz erfüllt. Umgekehrt gibt es nach Ansicht des Bundesgerichts keinen Grund, den Aufenthalt einer Person zwecks Heirat zu verlängern, wenn sie die Schweiz danach trotzdem verlassen müsste. Mit dieser Einschränkung werde denn auch dem Willen des Gesetzgebers nachgekommen.

Neuprüfung verlangt

Im konkreten Fall hat das Gericht einem heiratswilligen Paar aus dem Kanton Waadt Recht gegeben. Sie stammen aus Kamerun, leben seit 2007 zusammen und haben ein dreijähriges Kind. Der Mann ist ein abgewiesener Asylbewerber. Die Frau verfügt über eine Aufenthaltsbewilligung, die regelmässig verlängert wird. Die Waadtländer Behörden waren 2011 auf das Gesuch des Mannes gar nicht eingetreten, ihm den Aufenthalt für die Heirat zu erlauben. Das Bundesgericht verlangt nun eine Neuprüfung, da die Voraussetzungen für eine Aufenthaltsbewilligung wohl erfüllt sind. Laut Bundesgericht steht aufgrund der Umstände fest, dass es den Beiden mit der Ehe ernst ist. Zudem könnte der Mann aufgrund des Menschenrechts auf Achtung des Familienlebens nach seiner Vermählung sowieso zu seiner Gattin in die Schweiz kommen.

In seinem Urteil vom 17. Januar 2012 hat das Bundesgericht übrigens diese Rechtsprechung bestätigt.

Dokumentation

Bereits die ersten Gerichtsentscheide aus den Kantonen Waadt und Bern im Sommer 2011 zeigten, dass eine EMRK-konforme Anwendung der sogenannten Lex Brunner nicht - oder nur auf Umwegen - möglich ist. Klar war damit, dass die von den Urhebern des Eheverbots für Sans Papiers gewünschte Wirkung ausbleiben wird.

Berner Lösung: Kurzaufenthaltsbewilligung

Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hält in seinem Urteil vom 23. Juni 2011 fest, dass wegen dem Recht auf Ehe, welches u.a. die Verfassung garantiert, die Behörden keine unüberwindbaren Hindernisse für das Eingehen einer solchen einführen dürfen. Zur Wahrung der Verhältnismässigkeit sollten Personen ohne geregelten Aufenthalt deshalb nach Einschätzung der Bernischen Richter/innen eine Kurzaufenthaltsbewilligung zur Vorbereitung der Eheschliessung erhalten, wenn keine Anhaltspunkte für einen Missbrauch vorliegen und die Zulassungsvoraussetzungen nach der Heirat offensichtlich erfüllt sind.

Waadtländer Gericht wendete den Artikel nicht an

Das Verwaltungsgericht des Kantons Waadt spricht sich noch deutlicher gegen die neuen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches aus. Art. 98 Abs. 4 ZGB sehe keinen Spielraum für Ausnahmen vor und könne somit im Hinblick auf das Recht auf Ehe, welches die Europäische Menschenrechtskonvention in Artikel 12 festhält, nicht rechtskonform ausgelegt werden.

Ziel der Lex Brunner: Scheinehen verhindern

Seit dem 1. Januar 2011 müssen in der Schweiz alle heiratswilligen ausländischen Staatsangehörigen ihren rechtmässigen Aufenthalt nachweisen (Art. 98 Abs. 4 ZGB). Zudem sind die Zivilstandsämter verpflichtet, die Ausländerbehörden über illegale Brautleute zu benachrichtigen (Art. 99 Abs. 4 ZGB). Humanrights.ch und andere Menschenrechtsorganisationen hatten bereits anlässlich der Debatten über die Lex Brunner im Parlament darauf hingewiesen, dass dies faktisch einem Heiratsverbot für Sans Papiers gleichkomme und dass dies mit der EMRK nicht vereinbar sei.

Dokumentation

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