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Rückschlag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

23.01.2019

Die SBB müssen die neuen Dosto-Züge nachbessern, um den selbständigen Ein- und Ausstieg von gehbehinderten Menschen zu ermöglichen. In weiteren Punkten wurde die von Inclusion Handicap beim Bundesverwaltungsgericht eingereichte Beschwerde abgewiesen.

Der Dachverband hatte im Januar 2018 Beschwerde gegen die befristete Betriebsbewilligung der Dosto-Züge eingereicht, weil diese von Menschen mit Behinderungen nicht selbständig genützt werden könnten. Die 15 geltend gemachten Verstösse gegen das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) betreffen den Ein- und Ausstieg, die Handläufe und Haltestangen, die Türöffnungstasten, die Beleuchtung und die Anzeigen, physische Hindernisse wie die Gepäckgestelle und Bodenleisten sowie ein taktiles Leitsystem. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 20. November 2018 sein Urteil A-359/2018 veröffentlicht. Der Dachverband hat nun angekündigt, das Urteils vor dem Bundesgericht anzufechten.

Aussergerichtliche Einigung in vier Punkten

Im November 2018 einigten sich Inclusion Handicap und die SBB aussergerichtlich zu vier Punkten. Die SBB verpflichteten sich, grössere Piktogramme zur Kennzeichnung der Vorrangsitze für Menschen mit Behinderung zu verwenden, ein durchgängiges taktiles Leitsystem zu installieren, Monitore zu entspiegeln und kontrastreiche Bodenleisten anzubringen.

Grossteil der Beschwerde durch Bundesverwaltungsgericht abgewiesen

Kurz danach entschied das Bundesverwaltungsgericht, zehn von den elf verbleibenden Rechtsbegehren abzuweisen. Der Entscheid wurde weitgehend damit begründet, dass die Ausstattung der Züge den durch die EU-Kommission ausgearbeiteten - und für die Schweiz verbindlichen - Normen «Technische Spezifikation für Interoperabilität - Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung und Menschen mit eingeschränkter Mobilität» (TSI PRM) entsprächen. Der Argumentation von Inclusion Handicap, diese Normen würden den Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes nicht genügen, leistete das Gericht keine Folge.

Behindertengleichstellungsgesetz gewährt keinen Anspruch auf faktische Gleichheit

Das Behindertengleichstellungsgesetz zielt darauf ab, Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen (Art. 1 Abs. 1 BehiG) und Menschen mit Behinderungen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern (Art. 1 Abs. 2 BehiG). Dies gilt auch für öffentlich zugängliche Fahrzeuge (Art. 3 lit. b Ziff. 1 BehiG). Ein Mensch mit Behinderung ist demnach in seinem Zugang zu einem Fahrzeug des öffentlichen Verkehrs benachteiligt, wenn der Zugang aus baulichen Gründen nicht oder nur unter erschwerenden Bedingungen möglich ist (Art. 2 Abs. 3 BehiG). Trotz dieser Bestimmungen kommt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil zum Schluss, ein Anspruch auf faktische Gleichheit könne weder aus dem Behindertengleichstellungsgesetz noch aus der Bundesverfassung (BV) abgeleitet werden. Denn obwohl auch Art. 8 Abs. 4 BV Massnahmen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vorsehe, bestehe kein individueller, gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf die Herstellung faktischer Gleichheit.

Autonomie muss nur beschränkt sichergestellt werden

Pikanterweise hält das Bundesverwaltungsgericht trotz oben erwähntem Art. 3 lit. b Ziff. 1 BehiG ebenfalls fest, dass der Grundsatz der autonomen Benützung öffentlicher Verkehrsmittel für Behinderte im Behindertengleichstellungsgesetz nicht geregelt sei. Der autonome Zugang sei erst auf Verordnungsebene gewährt: Gemäss Art. 3 Abs. 1 der Verordnung über die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VböV) müssen Menschen mit Behinderungen, die den öffentlichen Raum autonom benützen können, auch in der Lage sein, Dienstleistungen des öffentlichen Verkehrs autonom zu beanspruchen. Kann die Autonomie nicht durch technische Massnahmen sichergestellt werden, müssen die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs die notwendigen Hilfestellungen durch personelle Unterstützung gewährleisten (Art. 3 Abs. 2 VböV).

Da es sich bei der VböV und der TSI PRM um Normen gleicher Stufe handle, gehe das spezielle Gesetz dem allgemeinen Gesetz und das spätere Gesetz dem früheren Gesetz vor. Die TSI PRM habe somit Vorrang vor der VBöV. Um Unterschieden zwischen den beiden Verordnungen gerecht zu werden, habe das Bundesamt für Verkehr habe eine Richtlinie erlassen, welche den autonomen Zugang zu den Eisenbahnfahrzeugen gemäss den schweizerischen Vorschriften gewährleistet. Nichtdestotrotz kam das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall zum Schluss, es könne nicht verlangt werden, dass alle möglichen Massnahmen zur Förderung der Autonomie getroffen und die technischen Normen auf alle Rollstuhltypen ausgerichtet werden, wodurch die Autonomie nur beschränkt gewährt ist.

Einzig bei den Ein- und Ausstiegsrampen muss nachgebessert werden

Einzig im Punkt der zu steilen Rampe gab das Gericht der Beschwerdeführerin teilweise Recht. Diese hatte darauf hingewiesen, dass nicht einmal die für einen autonomen Ein- und Ausstieg von Personen im Rollstuhl erforderliche Grenze von 15% Neigung erfüllt sei. Die SBB müssen sicherstellen, dass mindestens ein Ein-/Ausstieg pro Zug über eine Rampe mit einer Neigung von höchstens 15 Prozent verfügt und dieser entsprechend gekennzeichnet ist. Der Einstieg muss Zugang zum Rollstuhlbereich mit barrierefreier Universaltoilette und zu einer allfälligen Verpflegungszone bieten.  

Sind die bestehenden Rampenneigungen nicht normkonform, muss das Bundesamt für Verkehr die Verhältnismässigkeit zusätzlicher baulicher Massnahmen prüfen. Ist die Verhältnismässigkeit nicht gegeben, kann die SBB Ersatzmassnahmen wie zum Beispiel eine Einstiegshilfe durch das Zugpersonal prüfen.

Behindertenverbände äussern Unverständnis

Inclusion Handicap zeigt sich enttäuscht vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts: «Ein Teil der Schweizer Bevölkerung wird bis 2060 von der selbstständigen Benutzung des ÖV ausgeschlossen», hält der Dachverband in seiner Medienmitteilung fest. Es sei unverständlich, dass derartige Hindernisse trotz Behindertengleichstellungsgesetz zugelassen werden. Inclusion Handicap ist der Ansicht, die geltenden europäischen Normen (TSI PRM) genügten den Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes nicht. Zudem reiche ein Eingang pro Zug, der die Neigung von 15 Prozent nicht übersteigt, nicht aus, die Gefahren und Probleme für Fahrgäste mit Behinderungen zu beseitigen. Der Dachverband wird deshalb die Beschwerde an das Bundesgericht weiterziehen.

Kommentar

Das Urteil ist ein Rückschlag für Menschen mit Behinderungen. Artikel 9 des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) garantiert allen Menschen gleichberechtigten Zugang zu Transportmitteln. Staaten sollen Mindeststandards und Leitlinien erlassen, um diesen zu gewährleisten. Es mutet seltsam an, dass das Bundesverwaltungsgericht gerade solche Mindeststandards - die TSI PRM - vorschiebt, um das Behindertengleichstellungsgesetz auszuhebeln. In einem Nebensatz erwähnt es sogar noch, dass im Falle einer Inkompatibilität zwischen den TSI PRM und der Bundesverfassung respektive dem Behindertengleichstellungsgesetz die TSI PRM Vorrang hätten, weil es sich dabei um Völkerrecht handle. Auf die Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention, die für die Schweiz ebenfalls rechtlich bindend ist, wird in diesem Zusammenhang nicht eingegangen - obwohl es sich bei dieser um einen von der Schweiz unterzeichneten völkerrechtlichen Vetrag und nicht um Normen auf Verordnungsebene handelt. Die St. Galler Richter/innen halten einzig summarisch fest, dass sich die TSI PRM auf Artikel 9 UN-Behindertenrechtskonvention «stützen». Eine Überprüfung, ob die Norm den Gesetzesauftrag erfüllt, fand nicht statt, obwohl dies die Pflicht des Gerichtes wäre.

Gerade vor dem Hintergrund des im Mai 2018 vom Bundesrat verabschiedeten Berichts zur Stärkung der Behindertenpolitik, ist dieses Urteil ein Schlag ins Gesicht von Menschen mit Behinderungen. Die schweizerische Landesregierung kommt darin zum Schluss, dass die Autonomie von Menschen mit Behinderungen unter anderem dank einem verbesserten Zugang zum öffentlichen Verkehr zugenommen habe. Gleichzeitig definiert sie die «volle, autonome und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben» als übergeordnetes Ziel der Behindertenpolitik. Einen Schwerpunkt setzt sie im Bereich des Arbeitslebens. Doch wie soll Gleichstellung im Arbeitsleben erreicht werden, wenn der öffentliche Verkehr faktisch für Menschen mit Behinderungen nicht ebenso zugänglich ist wie für Menschen ohne Behinderung?

Es ist schleierhaft, wie Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes und autonomes Leben führen können - wie dies sowohl in der UNO-Behindertenrechtskonvention als auch im Behindertengleichstellungsgesetz gefordert wird - wenn ihnen im Alltag weiterhin zahlreiche Hindernisse in den Weg gelegt werden. Auch wenn in den letzten Jahren wichtige Fortschritte erzielt wurden - solange sogar bei neu erstellter Infrastruktur Normen und Mindeststandards angewandt werden, die Menschen mit Behinderungen einschränken, bleibt die UN-Behindertenrechtskonvention Makulatur.