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Keine Inhaftierungen mehr wegen illegalen Aufenthalts in Genf - aber was ist mit dem Rest der Schweiz?

18.09.2014

Sans Papiers können in Genf seit kurzem nicht mehr einzig und allein deshalb im Gefängnis landen, weil sie keine gültigen Papiere vorweisen können. Auf erheblichen Druck hin hat der Staatsanwalt Olivier Jornot im September 2014 entschieden, die Richtlinie aufzuheben, welche diese Praxis im Kanton Genf ermöglicht hatte. Die Entscheidung wurde von den Demokratischen Juristinnen und Juristen (DJS) begrüsst. Die DJS fordern allerdings weiterhin, dass die berühmte Richtlinie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Angesichts der möglichen schwerwiegenden Folgen für die betroffenen Personen gab es unter Anwälten/-innen und in der Zivilgesellschaft einen regelrechten Aufschrei, da die Weisung der Staatsanwaltschaft nicht veröffentlicht wurde.

Zur Erinnerung: Die Genfer Staatsanwaltschaft hatte im Oktober 2012 eine Weisung verabschiedet, welche anordnet, dass Freiheitsentzug als Sanktion für illegalen Aufenthalt gemäss Art. 115 AuG anzuwenden sei. Während dies in Genf hohe Wellen geworfen hat, ist die Inhaftierung von Personen aufgrund ihres illegalen Aufenthalts in der gesamten Schweiz eine gängige Praxis, die ausdrücklich im Ausländergesetz vorgesehen ist. Im Lichte des Verhältnismässigkeitsprinzips stellt der Freiheitsentzug aufgrund eines Administrativdelikts aber eine rechtstaatlich bedenkliche Praxis dar.

Die Fakten

2012 wurden Ivone und Luciano, ein brasilianisches Paar, anlässlich einer Polizeikontrolle in Genf verhaftet und zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe wegen illegalen Aufenthalts verurteilt. Die beiden gelten als Wiederholungstäter: Vor zwei Jahren wurden sie schon einmal wegen illegalen Aufenthalts zu Tagesgeldstrafen verurteilt. Ansonsten haben sich die Friseurin und der Zimmermann während ihres 8-jährigen Aufenthalt in der Schweiz noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Zudem wurden sie zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, das Land zu verlassen.

Ivone und Luciano haben daraufhin beim Polizeigericht gegen die Inhaftierung aufgrund der sogenannten «Jornot-Richtlinie» (benannt nach dem Staatsanwalt, der sie erlassen hat) erfolgreich Beschwerde eingereicht. Das Gericht bestätigte, dass sich das Paar zwar des illegalen Aufenthalts schuldig gemacht hat, hielt aber gleichzeitig fest, dass keine Person einzig aufgrund des illegalen Aufenthalts eingesperrt werden darf. Die Strafe wurde sodann per Gerichtsbeschluss in gemeinnützige Arbeit umgewandelt.

Die «Jornot-Richtlinie»

Im Grunde hatte der Genfer Generalstaatsanwalt Olivier Jornot mit seiner Richtlinie beschlossen, den Artikel 115 des Ausländergesetzes zu verwenden, um «Genf von kriminellen Ausländern zu befreien, welche oft Wiederholungstäter sind und bei denen eine Ausschaffung nicht möglich ist».

Die Polizei wurde damit angewiesen, in den sensiblen Zonen von Genf zu patrouillieren und namens des Ausländergesetzes Personen anzuhalten, bei denen die Vermutung besteht, dass etwas gegen sie vorliegt. Falls es sich um Wiederholungstäter handelte, gemeint ist damit auch der wiederholte Verstoss gegen das Ausländergesetz, wurden die Personen mit Freiheitsentzug sanktioniert. Personen, die durch ihren illegalen Aufenthalt mehrere Male gegen das Ausländergesetz verstossen aber noch nie eine Straftat begangen hatten, wurden also gleich behandelt, wie Wiederholungstäter im Bereich des StGB (z.B. Diebstahl, Körperverletzung, etc.).

Und die Verhältnismässigkeit?

Die Sanktionierung eines Administrativdelikts mit einer Freiheitsstrafe ist insbesondere hinsichtlich des Proportionalitätsprinzips problematisch. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat kürzlich in einem Urteil festgehalten, dass die Bestrafung wegen illegalen Aufenthalts und insbesondere die Inhaftierung von illegal anwesenden Personen nicht zulässig ist, so lange zuvor nicht alle administrativen Mittel ausgeschöpft wurden.

Im sogenannten El-Dridi Urteil von 2011, hielt der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest, dass die Inhaftnahme einer betroffenen Person im Einklang mit Art. 5 EMRK nur erfolgen kann, wenn ein Haftgrund vorliegt und wenn der Grundrechtseingriff geeignet und erforderlich ist, um den Zweck, d.h. den Wegweisungsvollzug, sicherzustellen. Wie also kann eine Inhaftierung für Personen gerechtfertigt sein, die sich gar nicht in einem Ausweisungsverfahren befinden? «Im Grunde bedeutet dies, dass das Strafrecht dem Verwaltungsrecht vorgezogen wird» sagte der Anwalt der beiden Brasilianer, welche Opfer der Jornot-Richtlinie wurden, in einem Interview mit der Tribune de Genève. In ihrem Fall hatte die Fremdenpolizei vorher noch kein Ausweisungsverfahren eingeleitet – im Gegenteil: Die beiden warten noch auf einen Entscheid bezüglich ihres Antrags für eine Regularisierung ihres Aufenthalts.

Viele betroffene Personen

Die Generalstaatsanwaltschaft hatte zwar angewiesen, eine Freiheitsstrafe grundsätzlich nur für illegal anwesende Personen vorzusehen, die zuvor ein strafrechtliches Delikt begangen hatten. In der Praxis gab es aber zahlreiche Fälle von Personen, ,die einzig und alleine wegen ihres illegalen Aufenthalts zu einer Haftstrafe verurteilt wurden. Gemäss den Zahlen der Zeitung «Le Temps» lauteten im April 2014 von 810 Strafbefehlen, deren 210 auf Freiheitsstrafe, davon 85 wegen illegalen Aufenthalts. Von diesen Personen hatten sich wiederum 22 Personen nichts zu Schulden kommen lassen, ausser der Verletzung von ausländerrechtlichen Vorschriften gemäss Art. 115 AuG.

Überbelegung in den Gefängnissen

Das Bundesgericht entschied am 26. Februar 2014, dass die Bedingungen, unter welchen die Personen in der Strafvollzugsanstalt Champ-Dollon inhaftiert sind, aufgrund der Überbelegung degradierend und menschenunwürdig sind. Die Praxis, Personen für illegalen Aufenthalt ins Gefängnis zu stecken, verschlimmerte diese chronischen Missstände zusätzlich. Ungefähr 12 Prozent der Insassen im Champ-Dollon befinden sich wegen einer Widerhandlung gegen das AuG im Gefängnis. Für Pierre Bayenet, ein spezialisierter Menschenrechtsanwalt in Genf, ist «die Benutzung des Gefängnisses zur Regelung der Migrationsproblematik dogmatisch, inkohärent und realitätsfremd.» Der Zweck des Gefängnisses liege darin, gefährliche Kriminelle aus dem Verkehr zu ziehen, was die Sans Papiers nicht sind. Um der Migrationsproblematik zu begegnen, sei ein politischer Wandel notwendig. Einerseits brauche es Entschlossenheit im Vorgehen gegen kriminelle Ausländer und Arbeitgeber, welche die Not der Sans-Papiers ausnutzen, andererseits  Flexibilität im Umgang mit ehrlichen Arbeitern, die ihren Aufenthalt regularisieren wollen. Staatsanwalt Jornot führte die Überbelegung in der Strafvollzugsanstalt Champ-Dollons als Begründung für den Rückzug der kontroversen Richtlinie ins Feld.

Legale Praxis

Es bleibt aber dabei, dass die Inhaftierung wegen illegalen Aufenthalts in der Schweiz eine legale Praxis ist. Gemeinsam mit Italien ist die Schweiz einer der einzigen europäischen Staaten, welche strafrechtliche Sanktionen für statusbedingte Gesetzesverletzungen anwendet. Art. 115 AuG sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr vor. Sowohl das Gesetz selber wie auch dessen Anwendung stehen hinsichtlich des Verhältnismässigkeitsprinzips in einem schiefen Licht da, insbesondere darum, weil der Artikel ebenfalls die Möglichkeit einer Geldstrafe vorsieht. Diese stellt ohne Zweifel ein milderes Mittel dar und müsste dementsprechend vorgezogen werden.

Der oben erwähnte «El-Dridi Entscheid» des EuGH hätte für die Schweizer Praxis ein Wendepunkt sein können. Allerdings verwies das Bundesamt für Justiz (BJ) in Reaktion auf das Urteil darauf, dass die Schweiz trotz der Mitgliedschaft im Schengen-Raum nicht an die Rechtsprechung des EuGH gebunden sei. Daniel Wüger, Verantwortlicher für Europarecht beim BJ, erklärte gegenüber dem Courrier zudem, dass die Schweizer Gesetzgebung bereits konform mit dem El-Dridi Urteil sei, dass die Richter das Gesetz sogar besonders restriktiv auslegen und einen Freiheitsentzug erst autorisieren würden, wenn alle alternativen Rückführungsmassnahmen ausgeschöpft sind.

Diese Aussage von Würger mag für die Praxis des Bundesgerichts durchaus zutreffend sein, wie auch ein kürzlich ergangener Entscheid gegen den Kanton Waadt beweist. Das Problem ist aber, dass diese Politik bei den Kantonen eindeutig noch nicht angekommen ist.

Notwendige Anpassungen

Die Inhaftierung aufgrund des illegalen Aufenthalts ist insbesondere in den Deutschschweizer Kantonen wie Zürich, Basel Stadt, und Bern eine langjährige Praxis. Gemäss einer Mitteilung des Bundesamts für Statistik von 2011 werden jährlich beinahe 1500 erwachsene Personen wegen einer Verletzung des Ausländergesetzes zu Freiheitsstrafen verurteilt.

Es ist also dringend notwendig, die gesetzliche Grundlage im Ausländergesetz anzupassen. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe für ein verwaltungsrechtliches Delikt ist weder mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip von Art. 5 der Bundesverfassung, noch mit Art. 5 EMRK, der das Recht auf Freiheit und Sicherheit garantiert, zu vereinbaren. Während in Genf die Stimme der Zivilgesellschaft eine Rückkehr zu einer kohärenteren Praxis ermöglich hat, bleibt die Herausforderung in der gesamten Schweiz dieselbe: Die Regelung der Migrationsproblematik unter Beachtung der Menschenrechte. Das Gefängnis stellt dafür jedenfalls nicht die richtige Lösung dar.

Dokumentation

In den Medien

Die Sichtweise der NGO's

Zur «Jornot-Richtlinie»

Zum El Dridi - Urteil

Juristische Quellen