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Ohne Urteil im Gefängnis

17.11.2021

Auch im Rechtsstaat Schweiz kommt es immer wieder vor, dass sich Personen im Strafvollzug befinden, ohne zu wissen weshalb. Grund dafür ist die Anwendung der Zustellfiktion bei Strafbefehlen, welche unbedingte (Freiheits-)Strafen enthalten. So gelten Strafbefehle gemäss Strafprozessordnung auch ohne tatsächliche Zustellung und Veröffentlichung als zugestellt. Diese Praxis verletzt grundlegende Menschenrechte und stellt für die Betroffenen eine grosse psychische Belastung dar.

Kommentar von Angela Agostino-Passerini, Advokatin und Doktorandin

Lorik* ist verzweifelt. Er sitzt im Gefängnis, weiss aber nicht wieso. Niemand hat es ihm erklärt. Seine Mitgefangenen probieren ihn zu beruhigen: Das sei in der Schweiz normal. Es gäbe einige unter ihnen, welchen es genauso ergangen sei. Lorik hat nie eine*n Dolmetscher*in, Anwält*in, Staatsanwält*in, geschweige denn eine*n Richter*in zu Gesicht bekommen. Es gab keine Einvernahme anlässlich welcher ihm ein Tatvorwurf gemacht oder ihm seine Rechte erklärt wurden. Er hat einzig den Vollzugsbefehl erhalten: Er sei zu einer Geldstrafe verurteilt worden, die mangels Zahlung in eine Freiheitsstrafe umgewandelt worden war. Lorik hat jedoch weder Kenntnis von einem Strafbefehl, noch hat er je eine Zahlungsaufforderung oder einen Einzahlungsschein erhalten. Er sitzt somit buchstäblich ohne Urteil im Gefängnis.

Loriks Geschichte ist kein Einzelfall. Es kommt in der Schweiz regelmässig vor, dass Personen in den Strafvollzug versetzt werden, ohne dass sie wissen weshalb. Dies ist möglich, weil die Staatsanwaltschaft unbedingte Freiheitsstrafen von bis zu 6 Monaten sowie Geldstrafen, die ohne Zahlung in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden, mittels Strafbefehl verhängen kann. Strafbefehle können jedoch auch ohne tatsächliche Kenntnisnahme des Betroffenen für rechtskräftig und somit vollstreckbar erklärt werden: Verfügungen und Entscheide, die mit eingeschriebener Post oder als Gerichtsurkunden nicht übergeben werden können und nicht innerhalb der siebentägigen Abholfrist bei der Post abgeholt werden, gelten am letzten Tag dieser Frist als zugestellt. Die sogenannte Zustellfiktion kommt etwa dann zur Anwendung, wenn eine eingeschriebene Postsendung nicht abgeholt oder ein Einschreiben retourniert wird, weil der*die Adressat*in nicht mehr an der angeschriebenen Adresse wohnt. Sobald der Strafbefehl als zugestellt gilt, beginnt eine 10-tägige Einsprachefrist zu laufen. Verstreicht sie ungenutzt, erwächst der Strafbefehl zum vollstreckbaren Urteil.

Das Bundesgericht stellt hohe Anforderungen für die Anwendung der Zustellfiktionen, welche von den Staatsanwaltschaften nicht immer eingehalten werden. Zu den notwendigen Bemühungen zählen Erkundigungen bei der letzten bekannten Adresse, den Einwohnerregistern, Nachbar*innen, Verwandten oder auch beim Migrationsamt. Das Bundesgericht lässt weder eine Ersatzzustellung an die letzte bekannte Adresse gelten, noch entbindet es die Staatsanwaltschaften von der Pflicht zur Adressnachforschung, wenn absichtlich eine falsche Adresse angegeben wurde.

Bisher gab es noch keinen einzigen Fall vor Bundesgericht, in welchem die in Frage stehenden Bemühungen einer Staatsanwaltschaft zur Zustellung eines Strafbefehls als ausreichend qualifiziert worden wären. So genügen sie auch bei Lorik nicht: Nachdem er mit anwaltlicher Unterstützung Einsprache erhebt, wird er umgehend aus dem Strafvollzug entlassen.

Fälle wie derjenige von Lorik bleiben meist unbemerkt, da die Betroffenen weder ihre Rechte kennen noch einen Rechtsbeistand zur Seite haben. Meistens erfährt keine*r von ihrem Schicksal, obwohl es um die Verletzung grundlegender Menschenrechte geht. Gemäss Artikel 31 Absatz 2 der Bundesverfassung und Artikel 5 Ziffer 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention muss eine Person, welcher die Freiheit entzogen wird, umgehend in einer ihr verständlichen Sprache über die Gründe der Inhaftierung und ihre Rechte informiert werden. Gefangene müssen die Möglichkeit haben, ihren Freiheitsentzug innert kurzer Frist durch ein Gericht prüfen zu lassen (Art. 5 Ziff. 4 EMRK). Wird die Zustellung eines Strafbefehls lediglich fingiert – sprich die betroffene Person bekommt den Strafbefehl tatsächlich nie zu Gesicht – so kennt sie weder den Grund für den Freiheitsentzug noch ihre Rechtsmittelmöglichkeiten.

Die Fälle von Strafvollzug ohne rechtskräftige Strafbefehle sind (noch) weitgehend unbekannt. Es obliegt den Staatsanwaltschaften von Amtes wegen tätig zu werden und diese grundrechtsfeindliche Praxis zu beenden, bereits erlassene Strafbefehle zu überprüfen und gegebenenfalls erneut rechtskonform zuzustellen.

*Name geändert