humanrights.ch Logo Icon

Zwangsmedikation nach Art. 434 ZGB: Menschenrechtliche Grenzen

Mehrere Vorfälle in psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz haben zuletzt Kritik am Umgang mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum (ASS) ausgelöst. Teil dieser Kritik war die Zwangsmedikation, welche gemäss Art. 434 Zivilgesetzbuch (ZGB) erlaubt ist, aber in Konflikt mit menschenrechtlichen Vorgaben steht. Diese Problematik zeigt sich unter anderem bei Personen mit ASS, da sie Reize anders wahrnehmen und auf Umweltfaktoren sensibler reagieren.

Als Zwangsmedikation nach Art. 434 ZGB gilt, wenn die Medikamente gegen den Willen der betroffenen Person unter Einsatz von physischer oder psychischer Gewalt verabreicht werden oder wenn die betroffene Person in Anbetracht eines bevorstehenden unmittelbaren Zwangs die Einwilligung zur ärztlichen Behandlung erteilt. Unerheblich ist dabei, ob die Person nicht einwilligen kann oder nicht will. Die Zwangsmedikation muss ultima ratio sein.
Gemäss der Systematik des Gesetzes muss sich die betroffene Person im Rahmen einer Fürsorgerischen Unterbringung zur Behandlung einer psychischen Störung in einer Einrichtung aufhalten und die Zwangsmedikation muss im Behandlungsplan als Massnahme vorgesehen sein (Art. 433 ZGB). 
Müssen in einer Notfallsituation sofortige medizinische Massnahmen ergriffen werden, kann die Einwilligung der betroffenen Person unterbleiben, sofern der mutmassliche Wille eine Behandlung erlaubt (Art. 435 ZGB). Besteht eine Gefahr für Dritte, von materiellen Schäden durch das aggressive Verhalten der betroffenen Person oder eine akute Suizidgefahr, kann ebenfalls eine Notfallsituation vorliegen.

Menschenrechte und Zwangsmedikation

Im Falle einer Zwangsmedikation sind insbesondere an das Recht auf persönliche Freiheit und das Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung zu denken. 
Das Recht auf Freiheit wird unter anderem von Art. 8 EMRK, Art. 14 BRK und Art. 10 Abs. 2 BV geschützt. Sie garantieren die physische und psychische Unversehrtheit. Nach dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist eine Zwangsmassnahme unter den Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt, was bei einer medizinischen Notwendigkeit einer Zwangsbehandlung der Fall wäre. Das Bundesgericht hat die Zwangsmedikation als schweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit gewertet.

Das Folterverbot wird in Art. 3 EMRK, Art. 15 BRK und als Kerngehalt von Art. 10 BV in Abs. 3 festgehalten. Es handelt sich hierbei um ein absolutes Verbot, wenn der Eingriff in Bezug auf die physischen oder psychischen Folgen eine gewisse Schwere erreicht. In einem Entscheid hat der EGMR festgehalten, dass nur nachweislich medizinisch notwendige Behandlungen vorgenommen werden dürfen und diese allenfalls auch unter Zwang angewendet werden können. Dabei untersteht die betroffene Person aber weiterhin dem Schutz von Art. 3 EMRK. Der UN-Behindertenrechtsausschuss hat die Schweiz in seinem Bericht von 2022 für die Verabreichung von Zwangsmedikation gerügt und empfiehlt die Abschaffung solcher Massnahmen. Menschen mit einer Behinderung sollen selbst in eine Behandlung einwilligen können und nicht zwangsbehandelt werden.

Zwangsmedikation im Lichte von Art. 36 BV

In der Schweiz muss jede Einschränkung von Menschenrechten den kumulativen Anforderungen von Art. 36 BV genügen. Im Folgenden wird aufgezeigt, inwiefern die Zwangsmedikation diesen Anforderungen entspricht. Die Zwangsmedikation beruht auf einer gesetzlichen Grundlage nach Abs. 1 und erfüllt ein öffentliches Interesse nach Abs. 2, da eine betroffene Person sich selbst und Dritten nicht schaden kann. Wiegt ein Eingriff so schwer, dass er die Schwelle zum Folterverbot überschreitet, so ist der Kerngehalt verletzt und folglich ist ein Eingriff durch nichts zu rechtfertigen. Dies ist für jeden Fall gesondert zu prüfen. Der Verhältnismässigkeit nach Abs. 3, welche Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit des Grundrechtseingriffs prüft, ist differenzierter Aufmerksamkeit zu schenken.

Wird eine Person mit Zwangsmedikation behandelt, ist diese Massnahme geeignet, um diese Person selbst oder eine andere zu schützen. Die Erforderlichkeit einer Zwangsmedikation kann gegeben sein, wenn bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung keine mildere Massnahme zur Deeskalation zur Verfügung steht. In solchen Situationen – etwa in einer Notsituation gemäss Art. 435 ZGB – kann eine kurzfristige medikamentöse Intervention das letzte Mittel sein, um eine unmittelbare Gefahr abzuwenden. Voraussetzung ist jedoch, dass das behandelnde Personal entsprechend geschult ist und die spezifischen Bedürfnisse von Personen mit ASS berücksichtigt. Gleichzeitig stellt jede Zwangsmedikation einen erheblichen Eingriff in die körperliche und psychische Integrität dar und darf nur als ultima ratio erfolgen. Sie bedeutet Kontrollverlust und kann traumatisierend wirken. Bei Personen mit ASS sind zudem abweichende Wirkungen und Nebenwirkungen möglich. Folglich liegt ein gravierender Eingriff in die körperliche Integrität vor, wenn in so einem Fall die Behandlung nicht abgebrochen wird. 

Über Menschen mit ASS ist bekannt , dass es zu einer Reizüberflutung kommen kann, wenn zu viele Eindrücke auf die Person einströmen. Somit könnten alternativ zur Zwangsmedikation mildere Massnahmen wie räumliche Trennung, Rückzugsräume oder der Einsatz von Deeskalationstechniken durch geschultes Personal wirksam sein, um Gefährdungssituationen zu entschärfen.Einer Person kann die Zwangsmedikation nicht zugemutet werden, wenn sie dadurch erst in eine Situation kommt, in der sie für sich selbst eine Gefahr darstellt oder sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert. Dasselbe ist der Fall, wenn die Wirkungen nicht den erwarteten entsprechen. Eine Behandlung ist in so einem Fall nicht zielführend. Die allfälligen schwerwiegenden Nebenwirkungen können einer Person nicht zugemutet werden, wenn das Medikament die eigentliche Wirkung verfehlt.

Im Lichte der Menschenrechte erscheint eine Zwangsmedikation von Menschen mit ASS als nicht menschenrechtskonform. Die gesetzliche Grundlage ist vorhanden, jedoch ist die Zwangsmedikation bei Personen mit ASS nicht erforderlich und nicht zumutbar. Davon ausgenommen ist eine Notsituation nach Art. 435 ZGB.

Dieser Artikel ist auf der Basis einer Seminararbeit an der Universität Lausanne (betreut durch Prof. Evelyne Schmid) entstanden.