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Eingriffe in Grundrechte bzw. Menschenrechte

02.01.2013

Schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen

Meistens werden Menschenrechtsverletzungen mit staatlicher Willkür, Folter, offener Unterdrückung von Minderheitengruppen, systematischer Zensur, Verschwindenlassen von Regimegegnern etc. assoziiert. In etlichen autoritär oder dikatatorisch regierten Ländern gab und gibt es tatsächlich anhaltende Situationen von systematischen und schweren Menschenrechtsverletzungen. Solche Fälle sind heute gewöhnlich sehr gut dokumentiert und alle, die es wissen wollen, können sich darüber informieren.

Legitime Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte

Es wäre jedoch falsch, aus Extrembeispielen von Menschenrechtsverletzungen zu schliessen, demokratische Rechtsstaaten wie die Schweiz hätten keine Probleme mit der Einhaltung der Grund- und Menschenrechte. Die Grund- und Menschenrechte bezwecken nicht nur eine Verhinderung staatlich legitimierter Brutalitäten, sondern geben die Leitlinien für jedes zivilisierte staatliche Handeln vor.

Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte von Individuen, welche der Hoheitsgewalt eines Staates unterworfen sind, sind nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Die Voraussetzungen für einen rechtmässigen Eingriff in ein Menschenrecht oder ein Grundrecht sind:

1) Eine gesetzliche Grundlage
2) Eine Rechtfertigung durch ein öffentliches Interesse oder den Schutz der Grundrechte von Dritten
3) Der Eingriff muss verhältnismässig sein
4) Der Eingriff muss den Kerngehalt des Grundrechts oder des Menschenrechts wahren

Hohe Verantwortung für Gesetzgeber, Behörden und Gerichte

Insbesondere Angehörige von randständigen oder sozial geächteten Gruppen wie straffällig gewordene Ausländer/innen laufen auch in Demokratien Gefahr, dass ihre Grund- und Menschenrechte in unverhältnismässiger Weise beschränkt und damit verletzt werden.

Es ist primär Aufgabe des Gesetzgebers und der Behörden, nicht ohne guten Grund in die Menschenrechte und Grundrechte einzugreifen und ihren Kerngehalt immer zu achten. Wo die Gesetzgeber und Behörden ein öffentliches Interesse schwerer gewichten als die volle Garantie eines Menschenrechts, kann dieser Entscheid unter Umständen von einem unabhängigen Gericht korrigiert werden.

Einschränkbarkeit ist unterschiedlich

Ob und wie sich ein Menschenrecht einschränken lässt, hängt aber nicht nur von den genannten Voraussetzungen ab, sondern auch vom Inhalt des jeweiligen Menschenrechts. Es gibt solche Rechte wie das Folterverbot oder das Sklavereiverbot, die eine absolute Geltung beanspruchen und deshalb unter keinen Bedingungen eingeschränkt werden dürfen. Dies rührt davon her, dass jede Einschränkung unmittelbar den Kerngehalt des Menschenrechts berühren würde und daher verboten ist. Bei anderen Grund- und Menschenrechten ist die Art und der Grad an Einschränkbarkeit durch die Güterabwägungen des Gesetzgebers, der Behörden und der Gerichte definiert.

Legitime Einschränkung oder Verletzung?

In demokratischen Staaten mit ausgebautem Menschenrechtsschutz bedarf die Beurteilung, ob eine bestimmte Einschränkung von Grund- und Menschenrechten legitim ist oder ob eine Menschenrechtsverletzung vorliegt, einer sorgfältigen Güterabwägung. Die abzuwägenden Grund- und Menschenrechte von Individuen auf der einen Seite und öffentlichen Interessen und Rechtsansprüche von Dritten auf der andern Seite können nicht auf stereotype, allgemeingültige Antworten reduziert werden. Den Ausschlag geben die Besonderheiten des Einzelfalls.

Eine solche Entscheidung aufgrund einer Güterabwägung ist manchmal nur schwer nachvollziehbar. Dies ist ein Grund dafür, dass die Menschenrechts-Argumente im öffentlichen Diskurs zunehmend argwöhnisch betrachtet oder gar lächerlich gemacht werden. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, das intuitive Gerechtigkeitsgefühl des Primäreindrucks im Lichte der Grund- und Menschenrechte zu hinterfragen, ist auch in unserer «aufgeklärten» Gesellschaft nicht weit verbreitet.

Zum Beispiel: Recht auf Familie

Das Menschenrecht auf Schutz des Familienlebens ist unter anderem in der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention gut verankert. Es verbietet insbesondere, dass der Staat den Eltern ihre Kinder wegnimmt, ohne dass ein ausreichender Grund vorliegt.

Ein besonders krasser Verstoss gegen dieses Menschenrecht war das Projekt «Kinder der Landstrasse» der schweizerischen Stiftung Pro Juventute, in dessen Zuge von 1926 bis 1973 insgesamt 586 Kinder fahrenden Familien weggenommen und fremdplatziert wurden. Die damaligen Vormundschaftsbehörden hatten nichts Unrechtes daran gesehen, im Gegenteil: Sie unterstützten diese systematische Kindeswegnahme in der Überzeugung, sie würden damit dem öffentlichen Interesse wie auch dem Kindeswohl dienen.

Schwierige Güterabwägungen entstehen in Fällen, wenn ein ausländischer Staatsangehöriger aufgrund eines Verbrechens nach Verbüssen der Strafe aus der Schweiz weggewiesen werden soll. Vorausgesetzt, der Betreffende wohnt seit längerer Zeit in der Schweiz und hat hier Familienangehörige, so kann er sich unter Umständen erfolgreich gegen eine Ausweisung wehren, wenn er sich auf das Recht auf Familienleben beruft. Das zuständige Gericht muss dieses Grundrecht gegen das öffentliche Interesse an Sicherheit abwägen. Berücksichtigt werden auf der einen Seite etwa die Schwere des Verbrechens und auf der andern Seite der Integrationsgrad des Betroffenen und seiner Familienangehörigen sowie deren Aufenthaltsstatus. Zudem prüft es, ob der ganzen Familie eine Ausreise und das Leben im Zielstaat zumutbar sind.

Diese Güterabwägung ist jedoch in der Öffentlichkeit nur schwer zu kommunizieren. Populistische Kritik, die kriminellen Ausländern den Schutz des Familienlebens abspricht, hat da ein leichtes Spiel. Die vom Volk angenommene, aber noch nicht umgesetzte «Ausschaffungsinitiative» (Art. 121 Abs. 3–6 BV) stellt uns vor die Frage: Gelten in unserem Staat die Menschenrechte oder der Wille der Mehrheit?