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Zentralisierung der Vormundschaftsbehörden: Was geschieht mit den Akten?

20.04.2010

In der Schweiz wird das fast 90-jährige Vormundschaftsrecht modernisiert. Die entsprechenden Gesetzesänderungen treten am 1. Januar 2013 in Kraft. Eine Folge der Neuregelung ist, dass das Vormundschaftswesen, welches bisher kommunal geregelt war, professionalisiert und zentralisiert wird. Im Zuge dieser Reorganisierung werden in der Schweiz hunderte Vormundschaftsämter schliessen. Auf Ebene der Kantone ist der Reorganisierungsprozess angelaufen. Sind damit die Dossiers von Zwangskastrierten, Zwangsadoptierten und andern Opfern behördlicher Willkür aus früheren Jahren verloren? Humanrights.ch/MERS hat mit einem Archivexperten gesprochen, um zu erfahren, welche Probleme zu erwarten sind.

Opfer: Hoffen auf eine Entschuldigung für die Behördenvergehen

Bis in die 1980er Jahre sind Vormundschaftsbehörden mit unverhältnismässigen und widerrechtlichen Massnahmen gegen Personen vorgegangen, welche etwa aufgrund ihres Verhaltens bei den Gemeinden aktenkundig waren und allenfalls eine Administrativhaft erleiden mussten. Humanrights.ch/MERS hat auf das Schicksal von Frauen hingewiesen, welche durch Behördenentscheide ohne ein Gerichtsurteil zur Erziehung in eine Strafanstalt kamen. Bis heute hoffen sie auf eine Entschuldigung der Behörden. Eine Erwartung, welche auch die UNO stützt: Der Menschenrechtsausschuss hat der Schweiz im Oktober 2009 empfohlen, im Falle der Opfer von Zwangssterilisationen und –kastrationen eine Wiedergutmachung anzustreben und dabei die Form der öffentlichen Entschuldigung explizit erwähnt. Der Bundesrat hat sich bisher dagegen gewehrt. Zum einen will er sich nicht für Vergehen entschuldigen, welche Gemeinden oder Kantone zu verantworten haben; zum andern fürchtet er finanzielle Folgen. Die Bestreben von Betroffenen, eine offizielle Wiedergutmachung zu erlangen, laufen deshalb im Moment vor allem auf kantonaler Ebene.

Neues Gesetz schreibt keine besondere Archivierungsdichte vor

Betroffene sind für die Verarbeitung der behördlichen Vergehen also oft auf sich allein gestellt. Wie wichtig es für Betroffene sein kann, die eigenen offiziellen Akten zu sichten, hat der Beobachter in einem Artikel vom Dezember 2009 aufgezeigt. Im Artikel äussert die Journalistin die Befürchtung, dass angesichts der bevorstehenden Neuregelung des Vormundschaftswesens die zahlreichen Dossiers von administrativ Versorgten und anderen Willküropfern (die Rede ist von zehntausenden Betroffenen) bald verloren sein könnten. Der Archivwissenschafter Hans von Rütte hält diese Gefahr für realistisch. Amtliche Fallaktenserien würden in der Regel nicht vollständig, sondern nur exemplarisch gesammelt mit dem Ziel, die Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns dauerhaft sicherzustellen, sagt er.

Der Bund hätte in den entsprechenden Rechtsbestimmungen zu Erwachsenenschutz, Personen- und Kindesrecht eine erhöhte Archivierungsdichte festschreiben können, hat dies jedoch nicht getan. Es sei in bestimmten Bereichen wichtig, dass der Gesetzgeber die Frage der Aktenführung besonders kläre, um das private Einsichtsrecht der Betroffenen sicherzustellen, sagt von Rütte. Bisher tut das Parlament dies (aus mangelndem Problembewusstsein?) eher zurückhaltend. Besondere Aufbewahrungspflichten bestehen etwa im Bereich künstliche Befruchtung, wo sie auf der Hand liegen. Das Bundesgesetz über medizinisch unterstützte Fortpflanzung sieht eine Dokumentationspflicht von 80 Jahren vor (Art. 24), was aufgrund des Rechts auf Familie und des Rechts, Kenntnisse über seine Herkunft zu erlangen, auch unbedingt notwendig ist. In anderen Gesellschaftsbereichen dürften menschenrechtliche Erwägungen ebenfalls zur Erkenntnis führen, dass besondere Dokumentationspflichten sinnvoll sind (etwa bei Privatunternehmen, die im Ausland tätig sind).

Zur Arbeitsweise der Archivare/-innen

Mangels Regelung im Bundesgesetz liegt der Entscheid, ob ein Dossier der Vormundschaftsbehörden aufbewahrt wird, nun bei den kantonalen Archiven. Rechtserlasse, welche die Archive anhalten, wichtige behördliche Dokumente zu sammeln, gibt es in allen Kantonen. Gemäss von Rütte, der an zwei Fachhochschulen unterrichtet und lange beim Bundesarchiv tätig war, ist auch die Aktenführung in den Vormundschaftsbehörden erfahrungsgemäss gut. Grösser sei die Gefahr, dass auch bei Fallaktenserien aus dem Bereich des Fürsorgewesens nicht vollständige, sondern nur kleinere, repräsentative Auswahlen, sogenannte Samples, ins Endarchiv überführt werden und der Grossteil der restlichen Dossiers vernichtet werden.

Wichtig sei nun, dass die zuständigen Archive die individuelle Bedeutung von Dossiers erkennen würden. Bei Vorgängen, welche tiefgreifende behördliche Eingriffe in die Biographie von Betroffenen bedeuteten, sei eine dichte oder gar vollständige Überlieferungsbildung anzustreben, damit die Nachweisbarkeit im Einzelfall auf Dauer erhalten bleibe. Wegen fehlenden Problembewusstseins bei den Fachstellen und weil die zuständigen Archive von den drohenden Aktenvernichtungen möglicherweise keine Kenntnis erhielten, könnten gemäss Einschätzung von Hans von Rütte bei der bevorstehenden Zusammenlegung von Amtsstellen zahlreiche Einzelfälle nicht mehr dokumentierbar bleiben. Betroffenen rät er deshalb, so rasch als möglich beim zuständigen Fürsorgeamt Akteneinsicht zu verlangen. Den Archiven rät er, bei ihren Bewertungsentscheiden über die Archivwürdigkeit solcher Fallaktenserien eine dichte oder gar vollständige Archivierung anzustreben.

Bedingungen für die wissenschaftliche Aufarbeitung oft schwierig

Wichtig für die Betroffenen ist neben dem individuellen auch das wissenschaftliche Einsichtsrecht in Dossiers, u.a. weil damit regelmässige Fehlentscheide der Behörden in der Öffentlichkeit erst Beachtung finden. Zwar hält das Archivrecht in der Regel fest, dass die Daten auch zur historischen oder sozialwissenschaftlichen Aufarbeitung gesammelt werden (siehe etwa das Bernische Archivrecht Art. 2b). Allzu oft geschieht es gemäss von Rütte jedoch, dass Datenschutzgründe vorgeschoben werden, um eine wissenschaftliche Aufarbeitung zu verunmöglichen. Die Dauer, in der Datenschutzargumente vordringlich seien, sei aber immer klar begrenzt; der Schutz dürfe nicht zum Effekt haben, dass die historischen Vorgänge während über hundert Jahren unzugänglich bleiben würden. 

Dokumentation

Nachtrag:

Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf und die Präsidenten der Justiz- und der Sozialdirektorenkonferenz haben im April 2010 in einem Brief die Kantonsregierungen dazu aufgerufen, dafür zu sorgen, dass die Akten «betreffend administrative Einweisungen im jeweiligen Kanton und in den zuständigen Gemeinden umgehend gesichert und vor einer Vernichtung geschützt werden». Dies ist dem Blog von Beobachter-Autor Dominique Strebel zu entnehmen. «Bleibt zu hoffen, dass so auch Dossiers von Zwangssterilisierten, Verdingkindern und Zwangsadoptierten vor dem Schredder bewahrt werden», schreibt Strebel.

Dokumentation