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Ausserordentliche Kammern an den Gerichten Kambodschas

28.09.2022

Errichtung durch Abkommen

Die Ausserordentlichen Kammern an den Gerichten Kambodschas, der Einfachheit halber Kambodscha-Tribunal oder Sondertribunal genannt, ähneln dem Modell des Sondertribunals für Sierra Leone. Es ist ein gemischtes Gericht, das aus einer nationalen und einer internationalen Komponente besteht und auf einem Vertrag zwischen den Vereinten Nationen und der Regierung Kambodschas aus dem Jahre 2003 basiert.

Kambodscha hatte die Vereinten Nationen 1997 um Unterstützung bei der Errichtung eines Tribunals zur strafrechtlichen Verfolgung der Führerschaft der Roten Khmer ersucht. Nach zähen Verhandlungen und beträchtlichem Zeitverlust konnte das Gericht seine Arbeit im Jahr 2006 aufnehmen. Das Sondertribunal ist Teil des kambodschanischen Gerichtssystems. Es wendet kambodschanisches Recht an, ergänzt durch internationales Recht. Die kambodschanischen Richter*innen haben in allen Kammern eine Mehrheit, die internationalen eine Minderheit.

Politisch-historischer Kontext

Das Terrorregime der Roten Khmer übernahm im April 1975 die Macht in Kambodscha. Unter ihrer Diktatur kamen schätzungsweise 1,5 bis 3 Millionen Menschen zu Tode. Die vietnamesische Invasion setzte der Schreckensherrschaft der Roten Khmer im Jahr 1979 ein Ende; der Bürgerkrieg dauerte jedoch bis 1998 fort.

Die ersten Bemühungen der kambodschanischen Regierung um eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer wurden 1997 unternommen. Die Regierung war für dieses Ansinnen auf internationale Unterstützung angewiesen, bestand aber darauf, dass die Prozesse in Kambodscha mit Beteiligung lokaler Richter*innen und Angestellten durchgeführt werden. Die eigentlichen Prozesse haben 2009 begonnen und bis ins Jahr 2022 zu Urteilen geführt.

Aufgabe

Gemäss dem kambodschanischen Gesetz über die Errichtung des Sondertribunals besteht sein Zweck darin, hochrangige Führungspersonen der ehemaligen Demokratischen Republik Kampuchea wie auch  weitere Personen vor Gericht zu bringen, welche für die Verbrechen und schweren Verletzungen des kambodschanischen Strafrechts, des humanitären Völkerrechts und anderer von Kambodscha anerkannter völkerrechtlichen Konventionen, die während der Herrschaftszeit der Roten Khmer zwischen dem 17. April 1975 und dem 6. Januar 1979 begangen wurden, verantwortlich sind (Art. 1 des Statuts).

Das Sondertribunal ist für die strafrechtliche Verfolgung von Personen zuständig, die des Mordes, der Folter oder der religiösen Verfolgung gemäss kambodschanischem Strafrecht verdächtigt werden (Art. 3). In Bezug auf internationales Recht ist es zudem befugt, Verdächtige wegen Völkermord (Art. 4), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 5) und schweren Verletzungen der Genfer Konventionen von 1949 (Art. 6) vor Gericht zu bringen.

Bisherige Leistungen

Zu Beginn des Jahres 2009, genau dreissig Jahre nach dem Fall der Roten Khmer, hat der erste Prozess gegen einen Vertreter des totalitären Regimes begonnen (Fall 001). Kaing Guek Eav, besser bekannt unter dem Namen Duch, war der Leiter des Folter- und Vernichtungsgefängnisses S-21 in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh. Aufgrund von Gefangenenlisten ist das Gericht zum Schluss gekommen, dass in dieser Anstalt mindestens 12'270 Menschen gefangen gehalten und ermordet wurden. Die tatsächliche Anzahl der gefangenen und ermordeten Menschen dürfte jedoch noch weit höher liegen. Duch wurde im Juli 2010 der Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden, insbesondere wegen Verfolgung aus politischen Gründen, Vernichtung, Gefangenschaft und Folter.

Der im Jahr 1942 geborene Duch hat für seine Taten vor Gericht Reue gezeigt und sich bei den Opfern entschuldigt, dabei aber immer wieder betont, dass er nur ausführte, was ihm von höherer Stelle befohlen wurde. Er habe selbst unter Druck gestanden und sich und seine Familie durch Gehorsam schützen wollen. Auf viele wirkten seine Bekundungen unecht. Duch war in der Tat keine hochrangige Führungsperson der Demokratischen Republik Kampuchea, wird aber als ehemaliger Leiter des berüchtigten Foltergefängnisses S-21 dennoch als einer der Hauptverantwortlichen für die Verbrechen betrachtet. Das Sondertribunal hat ihn zu 30 Jahren Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil Berufung ein. Im Februar 2012 wurde das Strafmass in einem Revisionsverfahren auf lebenslänglich erhöht.

Im zweiten Verfahren (Fall 002) wurden vier noch lebende Mitglieder des ehemaligen Zentralkomitees der Roten Khmer angeklagt. Alle Angeklagten lebten auch nach der Kapitulation der letzten Kampfverbände der Roten Khmer im Jahr 1998 noch bis 2007 auf freiem Fuss. Die Anklage gegen Nuon Chea, Ex-Chefideologe der Roten Khmer, Ieng Sary, ehemaliger Aussenminister, seine Frau Ieng Thirith, Ministerin für Soziales, sowie den ehemalige Staatschef Khieu Sampan umfasste den Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord.

Der Prozess gegen alle vier begann am 27. Juni 2011. Der gesundheitliche Zustand der Angeklagten führte zu einer Verkomplizierung des Verfahrensverlaufs. Ieng Thirith wurde im September 2012 aufgrund von Verhandlungsunfähigkeit wegen Demenz durch das Gericht auf freien Fuss gesetzt. Sie stand jedoch bis zu ihrem Tod am 22. August 2015 unter Beobachtung. Ihr Mann Ieng Sary starb im März 2013, woraufhin das Verfahren gegen ihn beendet wurde.

Ebenso war angesichts des hohen Alters der beiden verbliebenen Angeklagten lange nicht klar, ob sie das Ende ihres Verfahrens noch erleben würden. Die Urteile gegen Nuon Chea und Khieu Samphan wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Fall 002/01) konnten jedoch am 7. August 2014 verkündet werden. Die beiden leugneten in ihren Abschlusserklärungen, für den Tod von zwei Millionen Menschen verantwortlich zu sein. Das Tribunal sprach die Angeklagten jedoch schuldig und verurteilte beide zu lebenslangen Haftstrafen.

Die weiteren Anschuldigungen, die in einem zusätzlichen Verfahren (Fall 002/02) erhoben wurden, betrafen unter anderem Straftaten im Zusammenhang mit dem Völkermord an vietnamesischen und muslimischen Menschen, dem S-21 Lager sowie Zwangsheiraten, Vergewaltigungen. Das Tribunal sammelte und untersuchte in erster Instanz mehr als 10'000 Dokumente und sprach die Angeklagten am 28. März 2019 schliesslich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwere Verletzungen der Genfer Konventionen und Völkermorde schuldig. Es verurteilte sie erneut zu lebenslangen Freiheitsstrafen, die mit den vorangehenden Strafen zusammengelegt wurden. Khieu Sampan und die mit ihm für schuldig befundenen Personen legten gegen dieses Urteil Berufung ein; die Ausserordentliche Kammer des Obersten Gerichtshofes hat den Schuldspruch am 22. September 2022 bestätigt.

Der dritte Prozess (Fall 003) gegen den Oberbefehlshaber der Marine des Demokratischen Kampuchea, Meas Muth, und den Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Sou Met, drohte im Jahr 2011 das gesamte Tribunal aus der Bahn zu werfen. Die Untersuchungen zu diesem Fall kamen 2009 unter starkem Druck der kambodschanischen Regierung ins Stocken, die mit Abschluss des Falls 002 das gesamte Verfahren für beendet erklären wollte. Sou Met starb am 14. Juni 2013, weshalb das Verfahren gegen ihn beendet werden musste. Meas Muth wurde am 3. März 2015 in absentia wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verurteilt. Das Urteil war innerhalb des Tribunals äusserst kontrovers. An dem Hybridgericht treten Ankläger*innen und Untersuchungsrichter*innen normalerweise im Duo auf, je eine internationale und eine kambodschanische Vertretung. Der kambodschanische Untersuchungsrichter trug die Anklage gegen Muth jedoch nicht mit. Auch die kambodschanische Polizei verweigerte im konkreten Fall ihre Kooperation.

In diesem und den darauffolgenden Fällen kam es zwischen den Mitankläger*innen zu Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, ob die Ausserordentlichen Kammern für die Verfolgung der ihr vorgeführten Personen überhaupt zuständig waren. Während die kambodschanische Staatsanwaltschaft die Verfahren systematisch einstellte, weil sie das Tribunal für nicht zuständig erachtete, sprach sich die internationale Staatsanwaltschaft für eine Anklageerhebung und damit die ausserordentliche Gerichtsbarkeit aus. So wurde etwa der Fall 004/02, in welchem Ao An wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einer Reihe von Verletzungen des kambodschanischen Strafgesetzbuches angeklagt wurde, nach dreizehn Jahren Ermittlungen von der Ausserordentlichen Kammer des Obersten Gerichtshofes geschlossen – weil kein Konsens über ihre Zuständigkeit bestand.

Kritische Würdigung

Das Sondertribunal tagt unter Mitwirkung mehrheitlich kambodschanischer Richter*innen in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh, in der Nähe jenes Schauplatzes des Grauens, welcher im ersten Prozess gegen Duch von zentraler Bedeutung war. Der Prozess stiess denn auch in der breiten Öffentlichkeit auf grosses Interesse.

Das Tribunal sah sich wegen der langen Verfahrensdauer und der Höhe der verursachten Kosten immer wieder Kritik ausgesetzt. Eine weiterere Bemängelung am Kambodscha-Tribunal bezieht sich auf seine bloss selektive juristische Aufarbeitung. So sind die Massenmörder*innen dem Gericht zum Teil bekannt, werden aber nicht zur Verantwortung gezogen, weil sie nicht der Führungsschicht der Roten Khmer zugerechnet werden. Zum Problem der Selektivität gehört auch, dass zahlreiche der gegenwärtig führenden Politiker*innen früher aktiv bei den Roten Khmer mitgewirkt haben. Die heutige Führungsschicht hat deshalb kein Interesse an einer umfassenden Aufarbeitung der Geschehnisse.

Problematisch ist zudem, dass die Aufarbeitung erst Jahrzehnte nach den Verbrechen erfolgt. Ein Grossteil der ehemaligen Führungsschicht ist nicht mehr am Leben. So sind beispielsweise beinahe alle ehemaligen Mitglieder des Zentralkomitees bereits verstorben. Umso bedauerlicher ist es, dass von den frühsten Anstrengungen zur Errichtung des Tribunals bis zum ersten Urteil ganze 13 Jahre verstrichen sind. Viele Täter*innen konnten daher nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Auch sind mittlerweile viele Opfer verstorben, die als Zeug*innen viel zur Aufarbeitung hätten beitragen können.

Gleichwohl ist die Arbeit des Tribunals als positiv zu bewerten. Auch wenn ein Ungleichgewicht zwischen der Verfahrenszeit und dem daraus resultierenden Erfolg bestehen mag, hat das Gericht einen wichtigen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung und Stärkung des Rechtsbewusstseins in Kambodscha geleistet. Die Ausserordentlichen Kammern stellen damit ein Instrumentarium der Förderung der kambodschanischen Erinnerungskultur dar und sind bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Khmer Rouge nicht wegzudenken.

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