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Internationales Straftribunal für Ruanda (ICTR)

22.12.2016

Schaffung

Das Internationale Straftribunal für Ruanda wurde 1994 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Reaktion auf die in Ruanda verübten Verbrechen und den an den Tutsi begangenen Völkermord geschaffen. Analog zum Jugoslawientribunal hat der Sicherheitsrat auch für Ruanda ein ad hoc Straftribunal errichtet, d.h. ein Gericht, dessen Zuständigkeit räumlich und zeitlich begrenzt ist. So beurteilt das Ruanda-Tribunal nur Verbrechen, die in Ruanda und in den angrenzenden Staaten im Jahr 1994 verübt wurden. Das Jugoslawien- und das Ruanda-Tribunal waren seit den Nürnberger und Tokioter Prozessen die ersten internationalen Gerichte mit dem Auftrag der Verfolgung von Kriegsverbrechern.

Politisch-historischer Kontext

Im April 1994, unmittelbar nach dem Tod des damaligen Präsidenten Habyarimana, kam es in Ruanda äusserst brutalen, von Hutu organisierten systematischen Übergriffen gegen die Tutsi-Minderheit. Trotz deutlicher Warnsignale und frühzeitiger Voraussagen zeigte sich die Staatengemeinschaft unfähig und unwillig, den Völkermord zu verhindern. Zwar hatte sie ein halbes Jahr zuvor eine UNO-Friedensmission ins Land geschickt. Diese war aber mit einem unzureichenden Mandat ausgestattet und verfügte über zu wenig personelle und materielle Ressourcen.

Nach Ausbruch der Gewalttaten wurde die internationale Truppenpräsenz stark reduziert. Die Staatengemeinschaft und insbesondere der für die Wahrung des Weltfriedens zuständige Sicherheitsrat drückten sich vor einem schnellen und massiven Eingreifen; man liess die Verbrechen und den Völkermord geschehen. So hat der Konflikt innert weniger Monate schätzungsweise 800'000 Tote gefordert. Erst als sich das Blatt gewendet hatte und die Ruandische Patriotische Front den Konflikt für sich zu entscheiden schien, kamen wieder internationale Truppen ins Land, diesmal mit einem breiten Mandat ausgestattet.

Aufgabe / Zuständigkeit

Im November 1994 konnte sich der UNO-Sicherheitsrat zur Schaffung eines internationalen Straftribunals nach dem Vorbild des Jugoslawientribunals durchringen. Das Ruanda-Tribunal ist ein ad hoc Tribunal mit Sitz in Arusha (Tansania), das zum Zweck der strafrechtlichen Verfolgung von Personen geschaffen wurde, die auf dem ruandischen Territorium zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1994 schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen haben, darunter Völkermord (Art. 2 des Statuts), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 3) oder Verletzungen des gemeinsamen Artikels 3 der Genfer Konventionen und das Zweiten Zusatzprotokolls von 1977 (Art. 4). Das Gericht kann ausserdem ruandische Bürger strafrechtlich verfolgen, die solche Verbrechen im selben Zeitraum auf dem Gebiet von Nachbarstaaten verübt haben. Im weiteren Sinn versteht der Sicherheitsrat das Tribunal als Mittel zur nationalen Versöhnung und zur Wiederherstellung und Bewahrung des Friedens in der Region.

Neben dem internationalen Ruanda-Tribunal sind auch die innerstaatlichen Gerichte für die strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung für Verletzungen des humanitären Völkerrechts zuständig. Das internationale Tribunal konnte jedoch einen bestimmten Fall jederzeit an sich zu nehmen. Am 31. Dezember 2015 hat das Straftribunal für den Völkermord in Ruanda die Arbeit eingestellt.

Beendigung des ICTR und Eröffnung des MICT

Als gemeinsame Nachfolgeeinrichtung des der internationalen Strafgerichtshöfe zu Yugoslawien (ICTY) und zu Ruanda (ICTR) fungiert seit 2012 der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (Mechanism for International Criminal Tribunals, MICT). Dieser soll als Einheitsgericht die Aufgaben des ICTY und ICTR nach Abschluss der Verfahren übernehmen. Dementsprechend verfügt er über die materiellen, territorialen, zeitlichen und personenbezogenen Zuständigkeiten sowie die Rechte, die Pflichten und die wesentlichen Funktionen der Vorgängerinstitutionen.

Leistungen des Tribunals

Der ICTR erhob gegen 93 Personen Anklage. 61 wurden für schuldig befunden, 14 freigesprochen. Rund vier Fünftel der mutmasslichen Hauptverantwortlichen für den Genozid 1994 konnten festgenommen und vor Gericht gestellt werden. Neun der Angeklagten konnten nicht nach Arusha überführt werden. Unter den Verhafteten und Verurteilten befinden sich der ehemalige Regierungschef, andere Mitglieder der ruandischen Übergangsregierung sowie hochrangige Militärs und Staatsangestellte.
Das Ruanda-Tribunal war 1998 das erste internationale Strafgericht, das einen Angeklagten wegen Völkermord verurteilte. 50 Jahre nach Verabschiedung der Genozidkonvention befand es den ehemaligen ruandischen Bürgermeister Jean-Paul Akayesu des Genozids für schuldig. Bemerkenswert ist, dass Akayesu nicht wegen Massenmord, sondern wegen seiner Anstachelung zur systematischen Vergewaltigung von Frauen, die der ethnischen Gruppe der Tutsi angehörten, des Völkermords für schuldig gesprochen wurde. Ebenfalls als erstes unabhängiges internationales Strafgericht hat das Ruanda-Tribunal einen ehemaligen Regierungschef, Jean Kambanda, wegen Völkermord verurteilt.

Zusammenarbeit mit der Schweiz

Das Ruanda-Tribunal hat Alfred Musema zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Er wurde des Genozids sowie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Massenvergewaltigungen und Vernichtung (extinction) für schuldig befunden. Musema wurde 1995 in der Schweiz verhaftet und zwei Jahre später an das Tribunal ausgeliefert. Das umfangreiche Urteil sowie die übrige Rechtsprechung des Ruanda-Tribunals finden sich auf der Webseite des Tribunals.

Kritische Würdigung

Es liegt in der Natur von ad hoc Tribunalen, dass sie ihre Tätigkeit irgendwann zu einem Ende bringen müssen. Nach 21 Jahren beendete das ICTR seine Arbeit und die meisten Beobachter/innen sind sich einig, dass das Tribunal die ihm übertragenen Aufgaben im Grossen und Ganzen erfüllt hat.

Dem Ruanda-Tribunal ist es gelungen, Militärchefs, Lokalpolitiker, Journalisten und auch Verwaltungschefs, die am Völkermord beteiligt gewesen sind, vor Gericht zu stellen. Auch hat das ICTR einen Grossteil der Gesetzgebung verfasst, die heute anderen Gerichten weltweit als Vorlage dient und nun den wichtigen Kampf gegen die Straflosigkeit fortsetzen können. Der Strafgerichtshof für Ruanda kann zudem als ein Meilenstein auf dem Weg zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag gewertet werden.

Das ICTR bekam aber auch immer wieder Kritik zu hören. Problematisch ist, dass die Rolle von ehemaligen Tutsi-Rebellen, die heute Führungspositionen in Ruanda besetzen, ungeklärt geblieben sind. Die frühere Chefanklägerin Carla Del Ponte hatte unter anderem gegen einige der Rebellen ermittelt, die bestimmter Racheverbrechen an den Hutu verdächtigt werden. Del Ponte musste 2003 ihre Funktion als Chefanklägerin abgeben – vermutlich nicht zuletzt deswegen. Das Gericht wäre gemäss Statut nicht nur für die Beurteilung und Bestrafung von Völkermord, sondern auch für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig, also von Verbrechen, die auch von den Tutsi-Rebellen verübt worden sind. Entgegen dem Mandat hat das ICTR ausschliesslich Verbrechen untersucht, die den Völkermord an den Tutsi betrafen. Den Auftrag, zur Versöhnung in Rwanda beizutragen, konnte das Tribunal so nicht erfüllen. Mit der engen Mandatsauslegung verpasste das ICTR die Gelegenheit, eine in Rwanda gängige noch einseitigere Rechtsprechung zu korrigieren. Praktisch jeder erwachsene männliche Hutu musste in Rwanda vor den sogenannten Gacaca-Gerichten erscheinen; mehr als zwei Drittel wurden schuldig gesprochen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die strafrechtliche Aufarbeitung der Ereignisse äusserst kostspielig war. Das Ruanda-Tribunal hat insgesamt an die zwei Milliarden Dollar verschlungen. Natürlich lässt sich der finanzielle Aufwand nicht gegen Gerechtigkeit für die Opfer und die präventive Wirkung aufrechnen, die das Straftribunal hoffentlich erzielt. Allerdings wurde der Gerichtshof in der Vergangenheit wiederholt wegen Ineffizienz, fehlender Professionalität und Korruption kritisiert.

Das Tribunal stiess in Ruanda selber nicht auf breite Akzeptanz. Die Angeklagten wurden zu wenig hart angefasst, lautet der Vorwurf. Es ist in der Tat bedenklich, dass die Hauptverantwortlichen des Völkermords, die vor das Tribunal in Arusha gestellt wurden, als Höchststrafe mit lebenslänglichem Freiheitsentzug rechnen mussten, während Angeklagte mit niedrigerer Verantwortung vor nationalen Gerichten im schlimmsten Fall zum Tod verurteilt wurden. Für viele Afrikanerinnen und Afrikaner ist es auch stossend, dass die schwersten Verbrecher dank internationaler Standards weit bessere Haftbedingungen geniessen als Kleinkriminelle, die in afrikanischen Gefängnissen unter miserablen Bedingungen inhaftiert sind.

Fest steht, dass die Gräueltaten auch nach der Schliessung des ICTR noch immer nicht ganz aufgearbeitet sind. In Gerichten in Ruanda dauern die Prozesse nach wie vor an. Einige der Angeklagten sind zudem weiterhin flüchtig. Es ist daher von grosser Bedeutung, dass die Staatengemeinschaft die verbliebenen Täter und Hintermänner des Genozids in Ruanda auch nach der Schliessung des ICTR weiterverfolgt.

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