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Internationales Straftribunal für Sierra Leone (ICTS)

22.12.2016

Schaffung durch Vereinbarung

Im Unterschied zum Jugoslawien- und Ruanda-Tribunal wurde das Sondertribunal für Sierra Leone nicht durch den Sicherheitsrat geschaffen. Dieser hatte vielmehr den Generalsekretär beauftragt, ein Abkommen mit der Regierung von Sierra Leone auszuhandeln, auf dessen Basis das Sondertribunal errichtet werden kann. 2002 entstand ein gemischtes Tribunal, das aus einer nationalen und einer internationalen Komponente besteht. Die Schlüsselfunktion des Hauptanklägers ist international besetzt. Auch haben die internationalen Richter in den verschiedenen Kammern je eine Mehrheit. Sowohl der Hauptankläger wie die internationalen Richter werden durch den UNO-Generalsekretär eingesetzt.

Politisch-historischer Kontext

Die Errichtung des Sondertribunals ist die Antwort auf den grauenvollen Bürgerkrieg in Sierra Leone, der von 1991 bis 2001 dauerte. Der Bürgerkrieg lässt sich durch das äusserst brutale Vorgehen der Rebellen charakterisieren. Tausenden von Zivilisten wurden Hände und Arme abgehackt, Frauen und Kinder wurden vergewaltigt und missbraucht. Ein weiteres Merkmal des Konflikts war die verbreitete Praxis der (Zwangs-) Rekrutierung von Kindersoldaten.

Sierra Leone erlebte in der Zeit des Bürgerkriegs mehrere Machtwechsel und erfolglose Friedensbemühungen. Nachdem die Rebellen im Jahr 2000 rund 500 Blauhelme als Geiseln nahmen, intervenierten die Briten und beendeten den Konflikt.

Aufgabe

Das Sondertribunal für Sierra Leone mit Sitz in der Hauptstadt Freetown hatte die Aufgabe, die Hauptverantwortlichen für die auf dem Territorium von Sierra Leone seit November 1996 begangenen schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts und des sierra-leonischen Rechts strafrechtlich zu verfolgen (Art. 1 des Statuts). In die Zuständigkeit des Sondertribunals fielen insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 2), Verletzungen des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen von 1949 und des Zusatzprotokolls II von 1977 (Art. 3), andere schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts (Art. 4) sowie Verbrechen gemäss sierra-leonischem Recht, etwa der Missbrauch und die Entführung von Mädchen und die mutwillige Zerstörung von Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden (Art. 5).

Der Gerichtshof war zeitlich unbefristet eingerichtet und wurde durch Kündigung des Abkommens zwischen den Vereinten Nationen und Sierra Leone aufgehoben, als er seine Aufgabe erfüllt hatte(Art. 23). 2013 hat der Sondergerichtshof für Sierra Leone sämtliche Verfahren beendet und wurde geschlossen. Seitdem der Residual Special Court for Sierra Leone, erneut durch einen bilateralen Vertrag zwischen Sierra Leone und den Vereinten Nationen, löste ihn ab und verwaltete die bestehenden rechtlichen Verpflichtungen.

Leistungen des Tribunals

Vor dem Gericht wurden im März 2003 13 Personen angeklagt, von denen eine Person freigesprochen wurde. Drei Verfahren wurden eingestellt, da die Angeklagten zwischenzeitlich verstorben waren bzw. ein Angeklagter in einem Fall fliehen konnte. Die Verfahren gegen drei ehemalige Führer der Armed Forces Revolutionary Council (AFRC) sowie gegen zwei Mitglieder der Civil Defence Forces (CDF) und gegen drei ehemalige Führer der Revolutionary United Front (RUF) sind bereits abgeschlossen. Die Angeklagten wurden allesamt zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Den meistbeachteten Prozess führt der Ankläger gegen den früheren liberianischen Präsidenten Charles Taylor. Der Prozess musste aus Sicherheitsgründen und aus Sorge um die regionale Stabilität nach Den Haag verlegt werden. Taylor hatte seit den späten 1980er Jahren eine organisierte bewaffnete Gruppierung, die National Patriotic Front of Liberia, angeführt. Von 1997 bis 2003 war er Präsident von Liberia. Er wurde wegen Terrorisierung der sierra-leonischen Zivilbevölkerung, Massenmord, Vergewaltigung, Haltung von Sexsklaven, Rekrutierung von Kindersoldaten, Zwangsarbeit und Plünderung angeklagt. Charles Taylor wurde am 26. April 2012 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von 50 Jahren verurteilt.

Kritische Würdigung

Das Sondertribunal basierte auf einem Vertrag zwischen Sierra Leone und den Vereinten Nationen. Es wurde auf ausdrücklichen Wunsch der Regierung Sierra Leones errichtet, um der Gewalt ein Ende zu bereiten und so weit wie möglich Gerechtigkeit wiederherzustellen. Es war ein wichtigerTeil der umfassenden Friedensbemühungen in Westafrika. Im Unterschied zum Jugoslawien- und Ruanda-Tribunal basierte das Sondertribunal für Sierra Leone nicht auf einer zwingenden Resolution des Sicherheitsrats, was seiner Legitimation eher zuträglich ist.

Zudem wurde das Tribunal mit Blick auf die Nähe zum Ort des Geschehens in der Hauptstadt Sierra Leones errichtet. Dies hatte gleich mehrere Vorteile. Interessierte konnten die Prozesse vor Ort verfolgen und Beweise und Zeugen waren nahe am Gericht. Da dem Sondertribunal eine Signalwirkung zugedacht wird, nämlich, dass die Zeit der Straflosigkeit in Afrika zu Ende ist, ist die Nähe zum Ort der Verbrechen von Bedeutung.

Das Tribunal wurde jedoch mit dem Vorwurf selektiver Justiz konfrontiert, da keine Schlüsselfiguren der Regierung angeklagt wurden, wie etwa der Präsident und Vizepräsident, wohl aber deren Untergebene, z.B. der Milizenführer Sam Hinga Norman. Ebenfalls gibt es Hinweise, dass inkonsistente Zeugenaussagen die in über der Hälfte der verhandelten Fälle auftraten, nicht in dubio pro reo gewertet wurden, selbst wenn es sich dabei um Aussagen zu Tatbestandsmerkmalen oder die Identität der Täter handelte.

Andererseits wird die Öffentlichkeitsarbeit des Gerichts als vorbildlich gelobt, was sich positiv auf den Informationsstand der lokalen Bevölkerung in Bezug auf die Verfahren und auf deren Haltung gegenüber dem Gerichtshof ausgewirkt hat. Dank eines sehr effizienten Outreach-Programms gelang es dem Tribunal, das Vertrauen der sierraleonischen Bevölkerung zu gewinnen. Es ist von grosser Wichtigkeit, dass möglichst viele Betroffene und Interessierte die Prozesse verfolgen konnten und ihm die gebührende Beachtung geschenkt wurde.

Die Arbeit des Sondergerichtshofs hat sich insgesamt durch zahlreiche Erfolge ausgezeichnet. Hierzu zählen insbesondere der Umgang mit Kindersoldaten, die Anerkennung sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine Ausgewogenheit der Anklagen und Urteile. Den grössten Erfolg erzielte der Sondergerichtshof mit der erfolgreichen Eröffnung eines Gerichtsverfahrens in Den Haag gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor. Das Urteil gegen Charles Taylor stellt einen weiteren wichtigen Schritt hin zu einer universalen Strafverfolgung dar, unabhängig von Rang und Position eines mutmasslichen Völkerstrafrechtsverbrechers.

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