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Bundesgericht anerkennt erstmals Vergewaltigung aufgrund fehlender Einwilligung

23.11.2022

Am Bundesgericht kommt es zu einem Paradigmenwechsel in der Auslegung des Sexualstrafrechts: Erstmals anerkennt das Gericht eine Vergewaltigung ohne Zwangsausübung und körperlichen Widerstand. Das Urteil signalisiert einen längst überfälligen Wandel, dennoch steht das Sexualstrafrecht weiterhin im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz.

In seinem Urteil vom 14. Dezember 2021 anerkennt das Bundesgericht zum ersten Mal eine Vergewaltigung ohne körperlichen Widerstand aufgrund fehlender Einwilligung in die sexualisierte Handlung. Damit hebt es einen Entscheid des Walliser Kantonsgerichtes auf, welches den Täter aufgrund fehlender Zwangsausübung und dem Ausbleiben von physischem Widerstand vom Vorwurf der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung freigesprochen hatte.

Obwohl das Bundesgerichtsurteil einen Fortschritt für den Schutz der Betroffenen von sexualisierter Gewalt darstellt, bleibt das Schweizer Sexualstrafrecht mangelhaft. Bis heute anerkennt das Gesetz den Straftatbestand der Vergewaltigung nur bei Anwendung von körperlichem Zwang. Diese Definition steht im Widerspruch zur von der Schweiz ratifizierten Istanbul-Konvention, nach welcher alle nicht einvernehmlichen sexualisierten Handlungen eeine Vergewaltigung darstellen.

Kantonsgericht erkennt keine eindeutige Verweigerung der sexuellen Handlungen

Im Jahr 2016 zwingt ein Mann seine Partnerin sexualisierte Handlungen mit ihm vorzunehmen, während er die Geschehnisse gleichzeitig filmt. Auf den Videos ist nicht zu erkennen, dass der Täter körperlichen Zwang ausübt oder die Frau sich physisch dagegen wehrt. Die Partnerin bringt jedoch mehrfach und deutlich ihr fehlendes Einverständnis zum Ausdruck. In der Folge erstattet sie Anzeige wegen Freiheitsberaubung (Art. 183 Abs. 1 StGB), Nötigung (Art. 181 StGB), Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 StGB) und sexueller Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB). Im Jahr 2018 spricht das Bezirksgericht Martigny und Saint-Maurice den Mann von diesen Anklagepunkten frei, verurteilt ihn jedoch wegen anderer Straftaten.

Das Urteil des Bezirksgerichtes wird im Februar 2021 vom Kantonsgericht des Kantons Wallis bestätigt. Es hält fest, dass sich in den Videos weder Gewalt noch Drohungen gegenüber der Betroffenen erkennen lassen. Zwar benennt die Beschwerdeführerin die vorgenommenen Handlungen während den Videoaufnahmen explizit als Vergewaltigung. Dennoch sind die Walliser Richter*innen der Ansicht, dass sich wegen dem ruhigen und sachlichen Tonfall der Frau keine eindeutige Verweigerung der sexuellen Handlungen aus diesen Aussagen ableiten lasse. Zudem führt das Gericht an, dass der Angeklagte nicht habe erkennen können, ob die Frau sich zur Vornahme der sexuellen Handlungen gezwungen fühle oder diese erdulde. Die Betroffene legt gegen das Urteil des Kantonsgerichts beim Bundesgericht Beschwerde ein.

Bundesgericht anerkennt Vergewaltigung

Das Bundesgericht kommt nun zu einer anderen Einschätzung als seine kantonalen Vorinstanzen: Es beurteilt den potenziell gewalttätigen Charakter des Täters als ausreichende Grundlage, um die Straftatbestände der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung zu erfüllen. Im Gegensatz zur Argumentation der kantonalen Gerichte beurteilen die Bundesrichter*innen die Äusserungen der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Tat als eindeutig: Die Betroffene habe mit ihren Worten klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie sich an den sexuellen Handlungen nicht beteiligen wolle.

Aus Sicht der Richter*innen hat die Beschwerdeführerin angesichts der Hartnäckigkeit des Beklagten jedoch resigniert und die Handlungen trotz ihrer fehlenden Zustimmung vorgenommen. Die Beschwerdeführerin habe aus Angst vor dem Angeklagten auf körperliche Gegenwehr verzichtet, weil er ihr gegenüber schon früher Gewalt angewendet hatte. Gemäss Bundesgericht kann der Betroffenen deshalb nicht vorgeworfen werden, sich während den Handlungen nicht gewehrt oder sich nicht durch Schreien oder Weinen bemerkbar gemacht zu haben. Aus diesem Grund heisst das Bundesgericht ihre Beschwerde gut und weist den Fall zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurück.

Ein kleiner, aber wichtiger Fortschritt

Trotz der positiven Signalwirkung des bundesrichterlichen Urteils tendieren die Schweizer Gerichte derzeit dazu, bei fehlender körperlicher Gewalt von Verurteilungen wegen Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung abzusehen. Im Juli 2021 milderte das Appellationsgericht Basel-Stadt etwa die Strafe eines der Vergewaltigung schuldig gesprochenen Mannes, weil sich die Betroffene «provokativ» verhalten habe. Weiter bestätigte das Bundesgericht im März 2022 den Freispruch eines Mannes vom Vorwurf der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung, weil trotz der fehlenden Zustimmung der Beschwerdeführerin weder Zwang zur sexuellen Handlung noch die Absicht einer Vergewaltigung nachgewiesen werden konnten. Diese Urteile machen deutlich, dass das Zustimmungsprinzip – «Ja-heisst-Ja» – in der Anwendung des geltenden Schweizer Sexualstrafrechts nicht umgesetzt werden kann. Gerade in Fällen, wo betroffene Personen ihre Ablehnung nicht zum Ausdruck bringen können, etwa weil sie in eine Schockstarre (sog. «Freezing») verfallen, wäre das Zustimmungsprinzip jedoch ausschlaggebend.

Die Vergewaltigung (Art. 190 StGB) sowie die sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) sind in der geltenden Rechtsordnung jedoch als Nötigungsdelikte ausgestaltet. Voraussetzung dafür sind per Gesetz die Androhung oder Anwendung von Gewalt, das psychische unter Druck setzen oder das zum Widerstand unfähig machen. Die fehlende Einwilligung, welche ebenso Voraussetzung zur Erfüllung dieser Straftatbestände ist, muss zudem als solche erkannt oder als Möglichkeit in Kauf genommen werden (BGer 6B_894/2021, E. 3.4). Die betroffene Person muss also offensichtliche und erkennbare Zeichen des Widerstandes zeigen. Darunter fallen etwa Weinen, das Bitten, in Ruhe gelassen zu werden, Gegenwehr, die Ablehnung von Beschwichtigungsversuchen oder Fluchtversuche (BGer 6B_1285/2018, E. 2.2; 6B_968/2016, E. 2.1.2; 6B_575/2010, E. 1.3.2).

Das Strafgesetzbuch schützt Betroffene in der Folge nur, wenn der beschuldigten Person die Überwindung eines zumutbaren Widerstandes nachgewiesen werden kann. Das Ignorieren eines «Nein» oder nicht-verbaler Zeichens qualifiziert eine sexualisierte Handlung gemäss aktueller Gesetzgebung nicht als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung gemäss Strafgesetzbuch.

Eine überfällige Revision des Sexualstrafrechts

Ein Jahr nach dem Frauenstreik 2019 lancierten zivilgesellschaftliche Organisation sowie Persönlichkeiten aus Politik, Justiz und Kultur einen nationalen Appell für ein «zeitgemässes Sexualstrafrecht». An der Frauensession 2021 wurde zudem eine Motion zur Verankerung des Konsesprinzips im Strafrecht verabschiedet.

Am 11. August 2021 schickte die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats einen ersten Entwurf zur Revision des Sexualstrafrechts in die Vernehmlassung. Dieser Vorschlag sah die Einführung eines neuen allgemeinen Straftatbestands vor, der sexuelle Übergriffe im Allgemeinen umfasst und sexuelle Handlungen ohne Einwilligung unter Strafe stellt. In der Vernehmlassung wurde insbesondere die dafür vorgesehene Freiheitsstrafe von maximal drei Jahren kritisiert, da sie viel tiefer als die zurzeit möglichen 10 Jahre bei einer Vergewaltigung angesetzt war.

Als Antwort auf diese Kritik legte die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats im Februar 2022 unter dem Titel «Nein heisst Nein» einen neuen Entwurf für die Revision des Strafgesetzbuches vor. Gemäss dieser Vorlage soll zur Erfüllung der Straftatbestände der Vergewaltigung sowie der sexuellen Nötigung die Anwendung von Zwang nicht mehr erforderlich sein. Der Gesetzentwurf zielt darauf ab, sexuelle Handlungen zu bestrafen, welche vorsätzlich oder eventualvorsätzlich gegen den mündlich oder nicht mündlich geäusserten Willen einer der beteiligten Personen ausgeführt werden. Diese Anpassung würde die Definition von Vergewaltigung erweitern, da zum einen das Element der Nötigung im Grundtatbestand wegfallen und zum anderen eine geschlechtsneutrale Formulierung eingeführt würde.

Verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen anerkennen darin zwar einen Fortschritt, fordern anstelle einer Widerspruchslösung («Nein-heisst-Nein») jedoch die Einführung des Zustimmungsprinzips («Ja-heisst-Ja»). Demnach soll für die Strafbarkeit sexueller Handlungen die gegenseitige Zustimmung massgebend sein. Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats hat sich ebenfalls für eine Zustimmungslösung ausgesprochen.

Die Schweiz kommt ihren internationalen Verpflichtungen nicht nach

Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Schweiz das Prinzip des Einverständnis – welches freiwillig und als Ergebnis des freien Willens erteilt wird – in ihr Sexualstrafrecht aufzunehmen (Art. 36 Abs. 2 IK). Das Schweizer Gesetzgebung müsste demnach jeden Geschlechtsverkehr ohne freiwillige Zustimmung unter Strafe stellen. Die von der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats erarbeitet Vorlage wird diesem Anspruch jedoch nicht gerecht. Nur mit dem vorgeschlagene Modell der Rechtskommission des Nationalrates kann die Schweiz ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention erfüllen.

Überdies stellte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil (M.C. gegen Bulgarien), klar, dass die Vertragsstaaten zur Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention unabhängig von geleistetem Widerstand alle nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen unter Strafe stellen müssen. Mit der fehlenden Äusserung des Einverständnisses im Rahmen einer Gesetzgebung, die das Zustimmungsmodell nicht kennt, hat sich der Gerichtshof allerdings noch nicht befasst (BGer 6B_894/2021, Erw. 3.7.2). In jedem Fall ist es notwendig, dass die Gesetzgebenden die laufende Revision nutzten, um das Schweizer Sexualstrafrecht in Übereinstimmungen mit den internationalen Standards zum Schutz der Menschenrechte zu bringen.

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