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EGMR: Unzulässige Anordnung einer stationären Massnahme

12.01.2018

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Schweiz am 9. Januar 2017 wegen der nachträglichen Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme sowie der anschliessenden viereinhalb-jährigen Inhaftierung in der Strafanstalt Bostadel.

Der Sachverhalt

Der Schweizer Staatsbürger M. Mihret Kadusic wurde im Mai 2005 wegen verschiedener Delikte – namentlich Raub, Gefährdung des Lebens und einfachen Körperverletzungen - zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach rund sieben Jahren Haft und kurz vor seiner Haftentlassung im März 2013 entschied das Kantonsgericht Basel-Stadt, seine Strafe in eine therapeutische Massnahme nach Artikel 59 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (sog. «kleine Verwahrung») umzuwandeln. Dies obwohl sich Kadusic gemäss verschiedener Führungsberichte im Vollzug einwandfrei verhalten hatte. Der Anstaltsleiter von Bostadel hatte sich im Jahr 2010 sogar dahingehend geäussert, dass eine bedingte Entlassung aufgrund guter Führung anzustreben sei.

Umwandlung einer Strafe in eine Massnahme

Die Vollzugsbehörden haben die Möglichkeit, während des Vollzugs beim zuständigen Gericht eine Sanktionsänderung zu beantragen. Entscheidend für eine Umwandlung einer Strafe in eine Massnahme ist eine während dem Vollzug festgestellte psychische Störung. Im Falle Kadusic wurde eine solche Störung im Rahmen eines psychiatrischen Gutachtens von 2008 festgestellt. Das Gutachten wurde von der konkordatlichen Fachkommission in Auftrag gegeben, nachdem Kadusic um Hafturlaub ersucht hatte.

Der untersuchende Psychiater attestierte Herrn Kadusic eine schwer behandelbare mittelschwere paranoid-narzisstische Persönlichkeitsstörung, die auch bereits beim Tatzeitpunkt bestanden habe. Zudem verfüge Kadusic über keine Tateinsicht, weshalb die Rückfallgefahr erheblich sei. Die konkordatliche Fachkommission hielt daraufhin in einem Bericht fest, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle und die Anordnung einer ambulanten Massnahme sowie bei deren Scheitern die Anordnung einer Verwahrung nach Art. 64 StGB zu prüfen sei. Die Anwältin von Kadusic Sandra Jeker-Sutter kritisiert die Arbeitsweise der Fachkommissionen gegenüber humanrights.ch: «Die Kommission attestierte Herrn Kadusic trotz ausgezeichneten Führungsberichten eine Gefährlichkeit, ohne ihn auch nur einmal persönlich getroffen zu haben.»

Verwahrung oder therapeutische Massnahme?

Ein Ergänzungsgutachten von 2010 bestätigte den Befund des ersten Gutachtens, wobei zudem festgehalten wurde, dass eine Therapie wenig erfolgsversprechend sei, da Kadusic sich jeglicher Behandlung verweigere. Weil eine Behandelbarkeit des Täters verneint wurde, entschied sich das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 6. Mai 2011, die befristete Freiheitsstrafe in eine Verwahrung nach Art. 64 StGB umzuwandeln. Zentrales Abgrenzungskriterium zwischen einer «kleinen» Verwahrung nach Art. 59 StGB und einer (ordentlichen) Verwahrung nach Art. 64 StGB ist eben genau die Behandelbarkeit des Täters.

Dieser Entscheid ging dann aber dem Bundesgericht zu weit. Im Januar 2012 befand es die Anordnung der Verwahrung für unzulässig, da diese nur als ultima ratio angeordnet werden dürfe. Die Verwahrung eines jungen Menschen, der noch nie eine Therapie absolviert habe, könne nur gerechtfertigt sein, wenn eine Therapie über einen Zeitraum von fünf Jahren keine Erfolgsaussichten verspreche. Dies sei vorliegend nicht der Fall, weshalb der Entscheid zur Neubeurteilung zurück gewiesen wurde.

Das Appellationsgericht entschied daraufhin am 22. August 2012, dass anstelle der Verwahrung nun doch eine stationäre therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB angeordnet wird. Im Rahmen dieses Urteils wurde auch die Psychiaterin des Ergänzungsgutachtens von 2010 nochmals angehört, wobei sie den Vollzugsbehörden konkrete Vorschläge unterbreitete, welche Einrichtungen sich für eine Therapie eignen würden. Diese Vorschläge wurden von den Vollzugsbehörden gänzlich ausser Acht gelassen. Stattdessen verblieb Kadusic trotz gerichtlich angeordneter Massnahme in der Strafanstalt Bostadel, wo er nicht in geeigneter Weise behandelt werden konnte.

Nachdem das Bundesgericht die erneute Beschwerde am 28. Mai 2013 abgelehnte hatte (Urteil 6B_597/2012), zog der Beschwerdeführer vor den EGMR und machte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Art. 7 (keine Strafe ohne Gesetz) und Art. 4 von Protokoll Nr. 7 zur EMRK (Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden) geltend.

Das Urteil

Der EGMR anerkennt in seinem Urteil, dass die nachträgliche Anordnung einer stationären Massnahme durchaus legitim sein kann, wenn ein kausaler Link zum Ausgangsurteil und damit auch zur Straftat besteht. Hierzu müssten die neuen Tatsachen oder Beweismittel bereits vor dem Entscheid vorgelegen haben. Im vorliegenden Fall liege das Ausgangsurteil aber bereits sieben Jahre zurück und die Entlassung sei kurz bevorgestanden, weshalb die Kausalität fragwürdig sei und nicht leichtfertig bejaht werden dürfe.

Hinzu komme, dass sich das Appellationsgericht Basel-Stadt in seinem Urteil auf zwei Gutachten stützte, die bereits rund zwei, bzw. vier Jahre alt waren. Dies sei eine zu grosse Zeitspanne, um von einer hinreichenden Aktualität auszugehen. Gemäss EGMR hätte ein neues Gutachten erstellt werden müssen. Der EGMR verweist in seiner Argumentation auf seine Rechtsprechung Herz v. Deutschland und Yaikov v. Russland, wo bereits ein Zeitraum von anderthalb Jahren zwischen dem Gutachten und dem Urteil für unzulässig befunden worden war.

Ferner rügte der Gerichtshof die Schweiz dafür, dass Kadusic während den letzten viereinhalb Jahren in einer ungeeigneten Vollzugseinrichtung untergebracht war. Gemäss EGMR-Urteil stellt der fehlende Therapiewille von Kadusic keinen ausreichenden Grund dar, ihn so lange in einem falschen Haftsetting zu belassen. Diese Praxis widerspreche auch dem schweizerischen Strafgesetzbuch, wonach eine Massnahme aufzuheben sei, wenn keine geeignete therapeutische Einrichtung zur Verfügung steht (Art. 62c StGB). Der Gerichtshof wies zudem darauf hin, dass die Gutachterin im Rahmen des Gerichtsverfahrens von 2012 sogar noch explizite Vorschläge bezüglich geeigneter Therapieeinrichtungen gemacht hatte.

Aus diesen Gründen befand der EGMR, dass die Schweiz das Recht auf Freiheit und Sicherheit nach Art. 5 EMRK verletzt hat.

Eine Verletzung des Gebots «keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 7 EMRK) verneinte der EGMR, weil auch im Urteilszeitpunkt und vor der Revision des Massnahmenrechts im 2007 bereits ähnliche Sanktionsformen mit nicht minder starkem Strafcharakter hätten angeordnet werden können. Da die nachträgliche Anordnung der Massnahme nach den schweizerischen Rechtsvorschriften analog zu den Revisionsbestimmungen erfolgt war, verneinte der EGMR auch die Verletzung des Grundsatzes der Doppelbestrafung «ne bis in idem» gemäss Art. 4 Protokoll Nr. 7 EMRK.

Entschädigung

Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer Kadusic eine Entschädigung von 20‘000.- für den immateriellen Schaden sowie 12‘000.- Euro für die Prozesskosten zu. Gefordert hatte Kadusic’s Rechtsanwältin Sandra Sutter-Jeker 300 Franken pro rechtswidrigem Hafttag, was bei viereinhalb Jahren rund eine halbe Million Franken ausmachen würde. Sutter-Jeker sagt  gegenüber humanrights.ch, dass sie im Revisionsverfahren beim Bundesgericht diese Entschädigungsforderung nun erneut geltend machen wird.

Kadusic aus Haft entlassen

Im Anschluss an das Urteil wurde Kadusic am 15. Januar 2018 aus der Haft entlassen. Die Haftentlassung beruhte allerdings nur teilweise auf dem Urteil aus Strassburg. Entscheidend war ein neues Gutachten von Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer, welches zum Schluss kommt, dass bei Herrn Kadusic keine schwere Persönlichkeitsstörung vorliegt. Wäre dieses Gutachten vom September 2017 hingegen anders ausgefallen, hätte die reelle Gefahr bestanden, dass man Herrn Kadusic trotz dem positiven Urteil aus Strassburg nun doch gemäss Art. 64 StGB verwahrt hätte. «Die Vollzugsbehörden hatten uns im Vorfeld zum EGMR-Urteil mitgeteilt, dass bei Gutheissung der Beschwerde eine Verwahrung angestrebt wird». Dies ist gemäss Jeker-Sutter höchst problematisch. In der Praxis sei das Kriterium der Behandelbarkeit für eine stationäre Massnahme damit zweckentfremdet und durch einen faktischen Therapiezwang ersetzt worden.

Kommentar humanrights.ch

Der Fall Kadusic zeigt exemplarisch auf, was die zunehmende Verlagerung von einem reaktiven Strafrecht hin zum Präventionsstrafrecht im Einzelfall bedeutet: Nicht mehr die Ahndung von begangenem Unrecht steht im Vordergrund, sondern die Verhinderung von möglichen künftigen Delikten um jeden Preis.

Erst das von der Fachkommission in Auftrag gegebene psychiatrische Gutachten im Jahr 2008 zur Prüfung der Vollzugslockerungen führte dazu, dass Kadusic plötzlich kein gewöhnlicher Straftäter mit einem festen Entlassungsdatum mehr war, sondern ein «psychisch kranker Gefährder», den man nun im Rahmen eines Open-End-Settings auf unbestimmte Zeit in Haft behalten wollte. Trotz der psychiatrisch festgestellten Unbehandelbarkeit wurde eine stationäre Massnahme angeordnet, die dann aber gar nicht durchgeführt werden konnte. Kadusic befand sich auch viereinhalb Jahre nach seinem eigentlichen Entlassungsdatum noch in der Strafanstalt Bostadel. Dass sich Kadusic während seiner siebenjährigen Vollzugszeit einwandfrei verhalten hatte, wurde nun bedeutungslos angesichts seiner Weigerung, sich therapieren zu lassen.

Das Urteil des EGMR ist für die Schweiz in mehrfacher Hinsicht wegweisend. Erstens besagt es, dass eine Strafe während dem Vollzug nicht leichtfertig in eine stationäre Massnahme umgewandelt werden darf, ohne dass die nachträglich festgestellte psychische Störung in einem Kausalzusammenhang zum ursprünglichen Urteil, bzw. zur Straftat steht. Zweitens setzt es der Verwendbarkeit von Gutachten klare zeitliche Grenzen: Wenn ein Gutachten mehr als anderthalb Jahre zurück liegt, darf es in der Regel nicht mehr als Beweismittel für die Anordnung einer stationären Massnahme verwendet werden. Drittens stellt das Urteil klar, dass die Inhaftierung von Menschen, die zu einer stationären Massnahme verurteilt wurden,rechtswidrig ist, wenn sie in einem falschen Haftsetting stattfindet. Wenn keine geeignete Einrichtung besteht, muss die Haftentlassung gemäss Art. 62c StGB verfügt werden.