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Wegweisendes Urteil zur Frage behindertengerechter Prüfungsbedingungen

21.08.2008

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 15. Juli 2008 ein wegweisendes Urteil zur Frage der behindertengerechten Ausgestaltung von Prüfungsbedingungen gefällt. Es hat die Schweizerische Maturitätskommission wegen Verletzung der Menschenwürde eines behinderten Prüfungskandidaten gerügt, weil dieser während seiner Prüfung nicht die Möglichkeit hatte auf eine Toilette zu gehen. Der Entscheid kann nicht ans Bundesgericht weiter gezogen werden und ist damit definitiv.

«Die Tatsache, dass ein Prüfungskandidat sich gezwungen sieht, in seine Hose zu urinieren, weil er den Prüfungsraum infolge seiner Behinderung nicht verlassen kann, verletzt nun aber in klarer Weise das in Art. 7 Bundesverfassung statuierte Gebot zur Achtung der Würde des Menschen», schreibt das Bundesverwaltunggericht im entscheidenen Abschnitt des Urteils. Für die Richter aus Bern liegt demnach auf der Hand, dass nach einem solchen Zwischenfall keine konzentrierte Prüfungsleistung mehr erbracht werden kann.

Kurze Zusammenfassung (übernommen von Egalité Handicap)

Der Beschwerdeführer hat eine Behinderung, welche die Feinmotorik und Konzentrationsfähigkeit einschränkt (eine  sogenannte Cerebralparese). Er absolvierte die Ergänzungsprüfungen «Passerelle-Berufsmaturität – universitäre Hochschulen». Im Vorfeld beantragte er, dass er die schriftlichen Prüfungen in den Fächern Physik, Geschichte und Geografie mündlich ablegen könne. Dem wurde nicht entsprochen, jedoch erhielt er eine 90minütige Verlängerung für die schriftliche Prüfung und die Möglichkeit, auf einem PC zu schreiben. Weiter beantragte der Beschwerdeführer, die Anzahl der Pflichtwörter beim Aufsatz im Fach Deutsch zu reduzieren oder ihm zu gestatten, den Aufsatz in zwei Tagen zu schreiben. Zudem sei er, so der Beschwerdeführer in seinem Antrag, darauf angewiesen, von allfälligen skizzenartigen Zeichnungen (wie Formeln) dispensiert zu werden. Dies wurde zuerst abgelehnt. Erst nachdem er erneut darauf hinwies, dass er bei der Physikprüfung algebraische Formeln mit dem PC nicht darstellen könne, bot man ihm zusätzlich an, dass ein Experte seine Lösungen unter seiner Anleitung zu Papier bringen könne, wobei das Vorgehen zuerst mit dem Experten besprochen werden müsse. Die Mitteilung, dass sich der Experte bereit erklärt habe, für einen Teil der Prüfungszeit anwesend zu sein, erhielt der Beschwerdeführer mit Mail von 20.58 Uhr am Vorabend der Prüfung. Schliesslich verlangte der Beschwerdeführer, dass der Prüfungsort rollstuhlgängig sein und über eine Rollstuhltoilette verfügen müsse. Dies wurde ihm garantiert.

Das dreiköpfige Gericht setzte sich intensiv mit den rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen der Fragestellung auseinander. Es kam zum Schluss, dass die Maturitätskommission den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt habe (Art. 29 Abs. 2 BV), weil sie die Ablehnung des Antrags an Stelle der schriftlichen eine mündliche Prüfung zu absolvieren zu schwach begründete. Auch der zuerst abgelehnte Antragspunkt der Dispensation von einer Darstellung skizzenhafter Darstellungen sei zu pauschal erklärt. Zudem urteilte das Gericht, dass der Beschwerdeführer während der Physikprüfung trotz des Einsatze eines Notetakers benachteiligt war. Es konstatiert deshalb, einen Verstoss gegen das Benachteiligungsverbot (Art. 2. Abs. 5 Bst. a Behindertengleichstellungsgesetz). Darüber hinaus machten die Berner Richter Verfahrensmängel geltend und rügten die Maturitätskommission wegen Verletzung der Menschenwürde (Art. 7 BV) und Benachteiligung gemäss Behindertengleichstellungsgesetz während der 90minütigen Verlängerung. In Bezug auf die Prüfung im Fach Geschichte und Geografie kam das Gericht zum Schluss, dass die Prüfung mit einem Verfahrensfehler behaftet gewesen sei, während der 90minütigen Verlängerung gegen das grundrechtlich gewährleistete Gebot der Achtung der Würde des Menschen (Art. 7 BV) verstossen wurde und eine Art. 2 Abs. 5 Bst. a und b Behindertengleichstellungsgesetz verletzende Benachteiligung vorliege, da er gezwungen war, in seine Hose zu urinieren.

Das Bundesverwaltungsgericht weist die Sache nun an die Maturitätskommission zurück mit der Weisung, dem Beschwerdeführer Gelegenheit zu geben, die Prüfungen in den Bereichen Naturwissenschaften sowei Geistes- und Sozialwissenschaften kostenlos zu wiederholen, um sich unter seiner Behinderung angepassten Bedingungen und ohne Störung im Verfahren über seine Kenntnisse auszuweisen. Dabei seien diese Prüfungen als erste Prüfungsversuche zu werten. Zudem muss die Maturitätskommission vor der Prüfungswiederholung nochmals über die vom Beschwerdeführer beantragten Anpassungen der Prüfungsmodalitäten befinden und im Falle eines erneuten ablehnenden Entscheides ihrer Begründungspflicht nachkommen.