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Leistungen der Invalidenversicherung auch für suchterkrankte Personen zugänglich

10.10.2019

Bis anhin verweigerte die Invalidenversicherung (IV) suchterkrankten Menschen jegliche Leistungen. Dies wird sich nach einem richtungswechselnden Urteil des Bundesgerichts nun ändern.

Der vom Bundesgericht zu beurteilende Fall drehte sich um einen 44-jährigen Fahrzeugschlosser, der aufgrund der Einnahme angstlösender und beruhigender Substanzen nicht mehr arbeitsfähig war. Er arbeitete zum Zeitpunkt seines Antrags auf Invalidengeld an einem geschützten Arbeitsplatz, im Rahmen dessen eine fünfzigprozentige Arbeitsunfähigkeit bestand.

Ein von der IV-Stelle des Kantons Zürich in Auftrag gegebenes Gutachten in den Fachbereichen Psychiatrie, Orthopädie und Traumatologie ergab, dass der Betroffene an einer ärztlich kontrollierten Substanzabhängigkeit litt. Darüber hinaus sei er an einer Persönlichkeitsakzentuierung sowie chronischen Schmerzen am rechten Sprunggelenk erkrankt. Gemäss IV-Gutachten war der Beschwerdeführer vollumfänglich arbeitsunfähig.

Trotz der Erkenntnisse im genannten Gutachten verneinte die IV-Stelle letztendlich die Leistungspflicht. Zur selben Schlussfolgerung kam auch das kantonale Sozialversicherungsgericht. Beide Instanzen argumentierten, dass die Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen in erster Linie auf seine Suchterkrankung zurückzuführen sei und eine süchtige Person jederzeit durch einen Entzug die Arbeitsunfähigkeit überwinden könne — was der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts entsprach.

Richtungswechsel am Bundesgericht: Einzelfallprüfung auch für Suchtkranke

Das Bundesgericht kommt in seinem Leiturteil vom 11. Juli 2019  zum Schluss, dass eine Leistungspflicht durch die IV nicht von vornherein verneint werden darf, wenn eine Suchterkrankung vorliegt. Nach aktuellem medizinischem Kenntnisstand sei ein Suchtmittelentzug keineswegs in jedem Fall zumutbar oder ergebnisorientiert und die individuellen Therapiemöglichkeiten und -ergebnisse sehr unterschiedlich. Erforderlich wäre in jedem Fall eine Einzelfallabklärung, wie sie auch bei IV-Anträgen aufgrund psychischer Störungen ständige Praxis ist.

Im Rahmen dieser Prüfung muss der Einfluss des Gesundheitsschadens auf die Arbeitsfähigkeit fachärztlich abgeklärt werden. Es ist zu untersuchen, ob das Ausmass der Sucht tatsächlich einen Gesundheitsschaden darstellt, ob die Betroffenen deswegen erwerbsunfähig sind und inwiefern der Gesundheitsschaden für ihre Erwerbsunfähigkeit kausal ist. Wenn diese Fragen bejaht werden und die suchtkranke Person entsprechend ihrer Schadenminderungspflicht gemäss Artikel 7 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) aktiv an zumutbaren medizinischen Behandlungen teilnimmt, dürfen IV-Leistungen nicht verweigert oder gekürzt werden.

Das Bundesgericht begründete basierend auf dieser Argumentation den vollumfänglichen Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Invalidenrente. Dies signalisiert einen grundlegenden Richtungswechsel in der Schweizer Rechtsprechung, gemäss welcher bis anhin alle IV-Gesuche suchterkrankter Personen ohne ein strukturiertes Beweisverfahren abgelehnt werden konnten.

Sucht ist eine psychische Erkrankung

In der Medizin werden Suchterkrankungen seit geraumer Zeit unter den psychischen- und Verhaltensstörungen zusammengefasst. Weil gemäss dem Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 14 EMRK) und der Schweizerischen Bundesverfassung (Art. 8 BV) niemand aufgrund einer psychischen Behinderung ungerechtfertigt benachteiligt werden darf, verletzt die systematische Exklusion suchterkrankter Menschen von IV-Leistungen die Schweizer Rechtsordnung sowie die Menschenrechte.

Auch wenn gemäss neuer bundesgerichtlicher Rechtsprechung den Substanzkonsumstörungen nicht von Beginn weg jede invalidenversicherungsrechtliche Bedeutung abgesprochen werden darf, unterliegt das kausale Element zwischen Gesundheitsschaden und Erwerbsunfähigkeit sowie die Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit letztendlich dem Ermessen der Behörden. Der Zugang zu IV-Geldern für Suchtkranke ist deshalb auch jetzt keinesfalls sichergestellt und muss weiterhin kritisch betrachtet werden.

Richtungsänderung entspricht Volkswillen

Der Invaliditätsbegriff hat sich im Laufe der Zeit gewandelt und ist politisch umstritten. Im Sommer 2007 hat die Schweizer Stimmbevölkerung die fünfte IV-Revision  angenommen. Seither soll der Invaliditätsbegriff nicht mehr durch den Ausschluss von bestimmten Diagnosen verschärft werden. Wie der Botschaft des Bundesrates zu entnehmen ist, soll vielmehr jeweils geprüft werden, ob der Gesundheitsschaden die Ursache für die Erwerbsunfähigkeit und folglich die Ausübung einer Erwerbstätigkeit unzumutbar ist. Das Urteil des Bundesgerichts entspricht diesem Prinzip und geniesst damit demokratischen Rückhalt.