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Sozialrechte als Menschenrechte - Dossier

Die Schweiz und die Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta

03.06.2019

Zwar hat die Schweiz die Europäische Sozialcharta bereits im Jahre 1976 unterzeichnet. Doch ein beträchtlicher Widerstand von Wirtschaftskreisen brachte erstmals im Jahre 1987 und dann im Jahre 2004 zwei Anläufe zur Ratifizierung im Parlament zum Scheitern. Angestossen von der Kampagne Pro Sozialcharta läuft seit dem Jahre 2010 ein dritter Versuch, welcher erst im Jahre 2014 als bescheidenes Zwischenresultat einen Bericht des Bundesrats hervorbrachte, in welchem bestätigt wird, dass die schweizerische Recghtslage die Minimalanforderungen für eine Ratifizierung erfüllt.

Doch beginnen wir mit dem Anfang dieser 50-jährigen Verzögerungsgeschichte....

Optimismus in den Sechzigerjahren 

Die Schweiz beschäftigt sich seit mehr als fünfzig Jahren mit der Frage des Beitritts zur Sozialcharta. Bereits 1962 fand im Zusammenhang mit dem geplanten Europaratsbeitritt – der 1963 erfolgte – eine verwaltungsinterne Konsultation zur Sozialcharta statt. Wegen der Möglichkeit der partiellen Ratifizierbarkeit und der geringen Verpflichtungskraft und Durchsetzbarkeit erachteten die zuständigen Stellen die Sozialcharta anfänglich als rechtlich und politisch weitaus unproblematischer als die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Weil deren Ratifikation Priorität genoss, kam man im Dossier Sozialcharta während fast einem Jahrzehnt dennoch nicht vom Fleck. Im Laufe der Jahre wuchsen zudem die verwaltungsinternen Differenzen betreffend die Beitrittsfrage.

Verwaltungsinterne Differenzen

Während das Aussenministerium an der aussenpolitischen Notwendigkeit und der rechtlichen Unbedenklichkeit des Beitritts festhielt, äusserte vor allem das Bundesamt für Industrie Gewerbe und Arbeit (BIGA) zunehmend Souveränitätsbedenken. Allein schon die Vorstellung, dass die nationale Sozialgesetzgebung durch ein internationales Gremium beurteilt werden sollte, galt als inakzeptabel. Der Bundesrat schob die Frage des Beitritts während Jahren vor sich hin und drückte sich davor, die verwaltungsinterne Blockade durch einen politischen Grundsatzentscheid für oder wider die Charta zu überwinden.

Unterzeichnung 1976

Als die Regierung diesen Entscheid 1976 auf Antrag von Aussenminister Pierre Graber schliesslich doch noch traf und der Unterzeichnung der Sozialcharta zustimmte, schien es, als gehöre das jahrelange Hickhack zwischen den Ämtern der Vergangenheit an. Dem war allerdings nicht so: Unter dem Eindruck der massiven Kritik der Arbeitgeberverbände und bürgerlicher Kreise stemmte sich das zum Volkswirtschaftsdepartement gehörende BIGA mit dem Argument der rechtlichen Unvereinbarkeit einzelner Chartabestimmungen (namentlich des Art. 12) mit dem schweizerischen Recht gegen die Verabschiedung einer Ratifikationsbotschaft an das Parlament.

Dem in der Sache federführenden Aussenministerium wurde zum Verhängnis, dass im Vorfeld der Unterzeichnung rechtliche Detailprobleme bewusst ausgespart worden waren, im Glauben, diese innerhalb nützlicher Frist lösen zu können. Dies erwies sich als eine Fehleinschätzung, vergingen doch weitere sieben Jahre, bis 1983 die Querelen innerhalb der Verwaltung einigermassen beigelegt waren und die Botschaft an das Parlament verabschiedet werden konnte.

Erstmalige Ablehnung der Ratifizierung

Im Parlament hatte dann die Sozialcharta allerdings nicht den Hauch einer Chance; sowohl der Ständerat (1984) als auch der Nationalrat (1987) lehnten die Ratifikation deutlich ab. Der Sozialcharta wurde sowohl ein weit verbreitetes Unbehangen gegenüber Sozialrechten wie auch ein Abwehrreflex gegenüber internationalen Menschenrechtskonventionen zum Verhängnis.

Zweiter Anlauf und zweite Ablehnung

In der Folge verschwand die Sozialcharta wiederum für mehrere Jahre von der politischen Traktandenliste. 1991 nahm die Sozialdemokratische Partei (SP) einen neuen Anlauf und forderte in einer parlamentarischen Initiative ihre Genehmigung. Der Nationalrat stimmte der parlamentarischen Initiative 1993 überraschend zu und beauftragte seine Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) mit der Ausarbeitung eines Beschlussentwurfs.

Die Kommission sprach sich im November 1995 mehrheitlich für die Ratifikation aus, da die Schweiz sechs der sieben Artikel des «harten Kerns» anerkennen könne. Der Nationalrat war allerdings anderer Meinung. Für die bürgerliche Ratsmehrheit stand es ausser Frage, die Artikel 6 (Beamtenstreikrecht) und 12 (soziale Sicherheit) des «harten Kerns» als kompatibel mit dem Schweizer Recht zu akzeptieren. Am 2. Oktober 1996 wies die grosse Kammer das Dossier zu einer nochmaligen Überprüfung an die SGK zurück und verlängerte die Behandlungsfrist der Initiative in der Folge dreimal um jeweils zwei Jahre. Danach veranlasste die SGK weitere juristische Abklärungen sowie eine Vernehmlassung bei den Kantonen.

Schliesslich hat der Nationalrat im Jahre 2004 durch eine Nichtverlängerung der parlamentarischen Initiative der SP die Ratifizierung der europäischen Sozialcharta durch die Schweiz sang- und klanglos bachab geschickt.

Dritter Anlauf mit «Pro Sozialcharta»

Im Jahre 2007 hat der Berufsverband AvenirSocial mit der Kampagne «Pro Sozialcharta», welche von Persönlichkeiten und über 40 Organisationen unterstützt wird, den dritten Anlauf zur Ratifizierung der revidierten Europäischen Sozialcharta im Parlament gestartet. Als erstes beauftragte sie Kurt Pärli und Edgar Imhof mit einem Rechtsgutachten, welches 2008 zum Schluss kam, dass eine Ratifizierung der revidierten Europäischen Sozialcharta des Europarates bereits aufgrund der heutigen Rechtslage möglich ist.

Danach strebte «Pro Sozialcharta» einen parlamentarischen Vorstoss an. Diese Bemühungen führten zuerst zu einem Postulat der CVP, welches sich die Aussenpolitische Kommission des Ständerats im Januar 2010 zu eigen machte. Das Postulat verlangte vom Bundesrat vertiefte Abklärungen zur Vereinbarkeit der Sozialcharta mit der schweizerischen Rechtslage.

Es dauerte viereinhalb Jahre, bis diese bescheidene Zwischenstation erreicht war mit der Veröffentlichung eines Berichts des Bundesrats am 2. Juli 2014.

Kommentar

Die minutiösen juristischen Abklärungen der Vereinbarkeit zwischen Sozialcharta und innerstaatlichen Rechtsordnung sind mit Blick auf den von der Schweiz hochgehaltenen Grundsatz der Vertragstreue durchaus lobenswert. Wenn diese Überprüfung allerdings Jahrzehnte dauert, ist dies nicht glaubwürdig und hat mit juristischer Redlichkeit herzlich wenig zu tun.

Die Schwierigkeiten, der Sozialcharta beizutreten, sind weniger rechtlicher als vielmehr politischer Natur. Die rational kaum nachvollziehbare Mühe, einem völkerrechtlichen Vertrag beizutreten, dessen Kontrollmechanismus derart schwach ausgestattet ist wie derjenige der Sozialcharta, erklärt sich zu einem guten Teil durch die in der Schweiz weit verbreitete Skepsis hinsichtlich sozialer Menschenrechte. Diese haben nach wie vor einen schweren Stand und gelten weitum nicht als «echte» und vollwertige Menschenrechte.

Der von der Schweiz auf internationalem Parkett oft propagierte Grundsatz, wonach die Menschenrechte unteilbar und gleichwertig seien, bleibt mit Blick auf die Nichtratifikation der Sozialcharta ein Lippenbekenntnis.