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Das Verhältnismässigkeitsprinzip als Element des zwingenden Völkerrechts

04.07.2014

In einem Jusletter-Beitrag vom 23. Juni 2014 entwickeln Jörg Künzli  und Walter Kälin einen bisher kaum bekannten Aspekt des Verhältnismässigkeitsprinzips,  nämlich, dass dieses zu den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts im Sinne von Art. 139 Abs. 3 BV zu zählen ist.

Die Autoren argumentieren, dass die Grundlagen des Verhältnismässigkeitsprinzips sowohl in Kriegszeiten als auch in Friedenszeiten, insbesondere auch in Notstandssituationen gelten. Die Verhältnismässigkeit sei im völkerrechtlichen Sinne ein unabdingbares Anwendungsprinzip des menschenrechtlichen Individualschutzes. Aus diesem Grund seien Volksinitiativen, welche eine Anwendung des Verhältnismässigkeitsprinzips grundsätzlich ausschliessen, für ungültig zu erklären.

Im Folgenden wird die Argumentation von Jörg Künzli  und Walter Kälin in stark vereinfachter Form nachgezeichnet.

Absolute und einschränkbare  Menschenrechte

Gewisse Menschenrechte dürfen nicht eingeschränkt werden und gelten daher absolut. Selbst in einem Notstand darf von solchen Menschenrechten nicht abgewichen werden. Es handelt sich um sogenannte nicht-derogierbare Menschenrechte (vgl. Art 15 EMRK und Art. 4 UNO-Pakt II). Dazu gehören beispielsweise das Verbot der Folter, der Sklaverei und des Genozids.

Die Mehrzahl der Menschenrechte (wie z.B. die Versammlungsfreiheit) gelten nicht absolut; weil sie unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden dürfen. Solche Einschränkungen müssen auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einem öffentlichen Interesse entsprechen und verhältnismässig sein.

Menschenrechte in Notstandsituationen

In einer Notstandssituation dürfen diese einschränkbaren Menschenrechte unter Umständen für eine gewisse Zeit ganz ausser Kraft gesetzt werden; es handelt sich um sogenannt derogierbare Menschenrechte (vgl. Art 15 EMRK und Art. 4 UNO-Pakt II).

Jedoch kann selbst in einem Notstand ein derogierbares Menschenrecht nur dann ausser Kraft gesetzt werden, wenn es die Lage unbedingt erfordert (vgl. Art 15 EMRK und Art. 4 UNO-Pakt II). Jede Notstandsmassnahme muss notwendig und geeignet sein, die Notsituation zu bewältigen, und sie muss das mildeste Mittel zum Erreichen des Ziels sein. Das Ausser-Kraft-Setzen eines derogierbaren Menschenrechts als Notstandsmassnahme ist also nur zulässig, wenn dieser Akt in der gegebenen Situation buchstäblich «notwendig» ist.

Was unter normalen Verhältnissen eine unverhältnismässige Einschränkung eines Individualrechts ist, ist in Notstandszeiten unter Umständen zulässig. Doch selbst in diesem Fall braucht es den Massstab der Verhältnismässigkeit für die adäquate Berücksichtigung der Umstände. Dieser Massstab ist die unabdingbare Voraussetzung, um in Notstandsituationen auf menschenrechtskonforme Art und Weise mit der Möglichkeit umzugehen, derogierbare Menschenrechte ausser Kraft zu setzen.

Der Akt des Ausser-Kraft-Setzens von derogierbaren Menschenrechten untersteht derart als solcher dem Prinzip der Verhältnismässigkeit. Oder umgekehrt, wie es die Autoren sagen: Das Prinzip der Verhältnismässigkeit ist der notstandsfeste Kern von derogierbaren Menschenrechten.

Daraus ergibt sich Folgendes: Sowohl die Einschränkung eines nicht absoluten Menschenrechts unter normalen Verhältnissen wie auch die Ausserkraftsetzung eines nicht absoluten und damit derogierbaren Menschenrechts in einer Notstandssituation ist nur unter Beachtung der Verhältnismässigkeit zulässig. Denn die Interessen der Betroffenen müssen unter allen Umständen auf die eine oder andere Art berücksichtigt werden, damit solche Einschränkungen und/oder gar Sistierungen von Menschenrechten rechtens sind. Das Verhältnismässigkeitsprinzip ist immer zu berücksichtigen, und zwar sowohl in Kriegszeiten wie auch in Friedens- oder Notstandszeiten.

Zwingende Bestimmungen des Völkerrechts

Art. 139 Abs. 3 BV  nennt als materielle Schranke der Gültigkeit einer Volksinitiative die „zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“. Der Bundesrat versteht darunter das «ius cogens» im Sinne von Art. 53 VRK, die Grundzüge des humanitären Völkerrechts und die notstandfesten Garantien von Menschenrechtsabkommen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK und des UNO-Pakts über bürgerliche und politische Rechte.

Die Überprüfung der Verhältnismässigkeit ist, wie oben gezeigt wurde, im Zusammenhang der Einschränkung oder des Sistierens von Menschenrechten ein notstandfestes Prinzip. Deshalb liegt es auf der Hand,  das Verhältnismässigkeitsprinzip als Teil der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts im Sinne von Art. 139 Abs. 3 BV aufzufassen.

Was bedeutet dies für strittige Volksinitiativen?

Demgemäss müsste die Bundesversammlung aufgrund des Wortlauts von Art. 139 Abs. 3 BV alle Volksinitiativen für ungültig erklären, welche die Einschränkung oder Ausserkraftsetzung eines Menschenrechts als einen Automatismus vorsehen, der grundsätzlich verhindert, die Rechtspositionen der betroffenen Individuen dagegen abzuwägen.

Folgt man dieser Argumentation, so hätten die Ausschaffungsinitiative und die daran geknüpfte Durchsetzungsinitiative sowie die Pädophilie-Initiative vom Parlament eindeutig für ungültig erklärt werden müssen. Denn diese Initiativen sehen einen Automatismus vor, der das Verhältnismässigkeitsprinzip aushebelt.

Bei der Ausschaffungsinitiative bzw. der Durchsetzungsinitiative bedeutet die automatische Landesverweisung ohne Berücksichtigung des Verschuldens (d.h. der Höhe der strafrechtlichen Sanktion) und des Bestehens sozialer Kontakte oder familiärer Bindungen in der Schweiz, dass solche Landesverweisungen nicht auf ihre Verhältnismässigkeit hin überprüft werden können, obwohl mit einer Landesverweisung gewisse Menschenrechte der Betroffenen unter Umständen stark eingeschränkt werden. Dasselbe gilt für den vorgesehenen Automatismus der Pädophilie-Initiative. Denn die automatische Verhängung eines endgültigen und lebenslänglichen Tätigkeitsverbots schliesst eine Prüfung der Verhältnismässigkeit aus.

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