25.11.2010
Ein Urteil mit Signalwirkung: Das St. Galler Verwaltungsgericht muss vertieft prüfen, ob Hebammen und Pflegefachfrauen aus geschlechtsspezifischen Gründen tiefer entlöhnt werden. Laut dem Bundesgericht könnte eine Lohndiskriminierung vorliegen.
Der Kanton St. Gallen könne sich nicht mehr mit dem Argument, er behandle andere Frauen auch ungleich, vom Vorwurf der Diskriminierung befreien, sagte Franciska Hildebrand, eine der Anwältinnen der Beschwerdeführerinnen, am Donnerstag vor den Medien.
Für die Beschwerdeführerinnen hat das Urteil Signalwirkung, weil sich der Kanton nicht mehr darauf berufen könne, das Lohnsystem sei historisch gewachsen. Damit sollte Lohngleichheitsklagen zum vornherein der Wind aus den Segeln genommen werden, sagte Hildebrand.
Das St. Galler Verwaltungsgericht hatte 2008 die Lohnklagen von weiblichen Angehörigen aus verschiedenen Berufsgruppen des Gesundheitswesens abgewiesen. Die Klage war 2003 eingereicht worden, nachdem das Kantonsparlament den Lohn des Pflegepersonals lediglich um eine und nicht wie gefordert um zwei Lohnstufen angehoben hatte.
Das Verwaltungsgericht kam zum Schluss, dass der Lohn des Pflegepersonals im Vergleich etwa mit Polizisten oder Rettungssanitätern zwar tatsächlich zu tief sei. Da ihr Salär aber auch in Relation zu anderen typischen Frauenberufen kleiner sei, könne nicht von einer geschlechterbedingten Diskriminierung ausgegangen werden.
Vergleich unter Frauen untauglich
Mehrere Berufsverbände und acht Betroffene gelangten dagegen ans Bundesgericht. Dieses hat ihre Beschwerde gutgeheissen und die Sache zur Neubeurteilung ans Verwaltungsgericht zurückgeschickt.
Laut dem in der vergangenen Woche veröffentlichen Urteil bedeutet eine unterschiedliche Behandlung weiblicher Angestellter nicht automatisch, dass keine Diskriminierung besteht.
Ansonsten könnte ein Arbeitgeber dem Vorwurf der Geschlechterdiskriminierung einfach dadurch entgehen, dass er mit Angestellten des gleichen Geschlechts beim Lohn ungleich verfährt. Das Verwaltungsgericht habe deshalb zusätzliche Abklärungen zum Bestehen einer möglichen Diskriminierung zu treffen.
«Wir hoffen nun, dass der Kanton der Argumentation des Bundesgerichts folgt und nicht noch weitere Verfahren provoziert», sagte Maria Huber, Regionalsekretärin des Verbands des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). Bislang seien die Angebote der Verbände, Vergleichsverhandlungen zu führen, von der St. Galler Regierung abgelehnt worden.
Millionen-Forderungen möglich
Mit einem Vergleich könnten unnötige Kosten vermieden werden, sagte Hildebrand. Welche Kosten noch auf den Kanton zukommen werden, könne noch nicht abschliessend gesagt werden. Die Anwältin spricht von einem zweistelligen Millionenbetrag für die Rückforderungen der Pflegefachfrauen und Hebammen.
Mit der Feststellung der Diskriminierung könnten alle Pflegenden und Hebammen den Kanton beziehungsweise die Spitalverbunde mit Klagen eindecken und so die fünfjährige Verjährungsfrist unterbrechen. Die St. Galler Regierung wäre gut beraten, bald einen Entscheid herbeizuführen, sagte Hildebrand.
Die beteiligten Verbände sind überzeugt, dass das Urteil auch ein starkes Zeichen für die umliegenden Kantone, insbesondere die beiden Appenzell und den Thurgau, setze. Diese Kantone richteten sich in Besoldungsfragen nach St. Gallen, sagte Huber.
Eine neue Studie, welche im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann und des Bundesamtes für Statistik (BFS) erstellt wurde, habe festgestellt, dass die Lohndiskriminierung in der Ostschweiz besonders ausgeprägt ist.
Quelle: sda
- BGE 136 II 393 vom 31. August 2010