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Wie geht es Kindern, die nur Nothilfe erhalten?

24.02.2014

Viele der Personen, die in der Schweiz nach einem negativen Entscheid im Asylverfahren Nothilfe erhalten, sind minderjährig. In den letzten Jahren lag ihr Anteil jeweils bei rund 15 Prozent, Tendenz zunehmend. Betroffen sind Kinder, die mit einem oder beiden Elternteilen in der Schweiz sind aber auch unbegleitete Minderjährige. Über ihre Lebensbedingungen ist nur wenig bekannt. Nationalrätin Barbara Schmid-Federer (CVP/ZH) wollte mehr erfahren. Die Antworten, die der Bundesrat geliefert hat, beunruhigten. Nun soll der Bundesrat mittels Motion zum Handeln gebracht werden.

Ein Massnahmenkatalog für Kinder und Jugendliche in elterlicher Obhut sowie unbegleitete minderjährige Asylsuchende, welche länger als 6 Monate in den Nothilfestrukturen leben, soll vom Bundesrat erarbeitet werden. Dies fordert eine im März 2014 von Barbara Schmid-Federer eingereichte Motion. Dabei sind insbesondere Massnahmen und Vorschläge in den Bereichen der Unterkunfts- und Betreuungssituation, Zugang zu medizinischer und psychologischer Versorgung, weiterführende schulische und berufliche Massnahmen während und nach der obligatorischen Schulzeit für die Kinder und Jugendlichen zu präsentieren. Weiter sei zu erörtern, wie der Bundesrat die aufgeführten Massnahmen und Vorschläge umsetzen will.

Der Nationalrat hat die Motion am 20. Juni 2014 abgelehnt.

Nothilfe ist eine Überbrückungshilfe, die von kurzer Dauer sein soll

Seit 6 Jahren erhalten Personen mit einem negativen Asylentscheid nur noch Nothilfe statt Sozialhilfe. Das bedeutet für die betroffenen Personen grosse Einschränkungen, weil sie nur das Nötigste zum Überleben erhalten. Nothilfe ist gedacht als Überbrückungshilfe in einer Notlage, die von kurzer Dauer ist. Für Personen mit einem negativen Asylentscheid, die die Schweiz nicht verlassen können, wird das Leben mit Nothilfe jedoch zum langfristigen Alltag. Für Kinder kann dies zum gesundheitlichen Problem werden, da sich Entbehrungen schneller auf ihre Gesundheit auswirken. Die Schweiz hat diesen Kindern gegenüber eine Schutzpflicht, denn die UNO-Kinderrechtkonvention garantiert ihnen ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard.

Bericht schildert Einzelfälle

Das Leben in der Nothilfestruktur ist für Kinder nicht geeignet. Das hat im Sommer 2013 ein Bericht der Schweiz. Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) anhand von Einzelfällen vor Augen geführt. Die Probleme, welche sich für Kinder ergeben, sind exemplarisch beschrieben.

  • Keine angemessene Nahrung: Beschrieben wird das Leben einer vierköpfigen Familie, welche 500 Franken im Monat für Essen und Hygiene erhält. Die Kinder ernähren sich nicht ausgewogen und haben übers Wochenende regelmässig nur etwas Brot, wenig Butter und Käse zu essen.
  • Keine genügende Kleidung und beschränkter Zugang zu medizinischer Versorgung: Das Schicksal einer jungen Mutter mit Säugling, die kein Bargeld, dafür zweimal im Jahr einen Kleidergutschein erhält, wird erwähnt. Zum Arzt darf sie mit dem Baby nur im Notfall und auch dann nur mit dem Einverständnis eines Zentrumsmitarbeiters.
  • Hohe psychische Belastung: Der Bericht schildert das Befinden und die Probleme eines 10-Jährigen, der seit seiner Einquartierung im Nothilfezentrum in Angst lebt wegen Streitereien im Zentrum und Polizeirazzien. Er kann kaum mehr schlafen und sich in der Schule nicht mehr aufs Lernen konzentrieren.
  • Keine Freizeitbeschäftigung, keine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben: Eine Mutter schildert im Bericht, dass ihre Tochter den ganzen Sommer nicht in die Badeanstalt konnte, weil das Geld fehlte.

Viele der Familien mit Kindern leben während Jahren in diesen Strukturen, schreibt die SBAA. Sie fordert, dass die Auswirkungen der Nothilfestrukturen in Bezug auf Kinder und Jugendliche überdacht werden müssen.

Im Schnitt sind Minderjährige 7 Monate in der Nothilfestruktur

Nationalrätin Schmid-Federer forderte nach der Publikation des Berichts der SBAA vom Bundesrat Zahlen zu Minderjährigen in Nothilfestrukturen und fragte nach Massnahmen, damit Kinder und Jugendliche nicht länger als 6 Monate von der Nothilfe leben müssen. Der Bundesrat hat die Zahlen nun geliefert: 2‘363 Kinder waren 2012 in kantonalen Nothilfestrukturen platziert. Das waren rund 16 Prozent aller Nothilfe-Bezüger/innen, etwas mehr als im Vorjahr. Im gesamten Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2008 und 31. Dezember 2012 lag die durchschnittliche Bezugsdauer von Nothilfeleistungen von Kindern bei 7 Monaten. Der Maximalwert betrug 5 Jahre.

Nichts sagen konnte der Bundesrat zu den Lebensbedingungen dieser Kinder und zu den Auswirkungen auf ihre gesundheitliche Entwicklung, weil empirische Studien dazu fehlen. Er verweist auf die Empfehlungen der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren/-innen und schreibt: «Sollte das Wohl eines Kindes gefährdet sein, so sind die kantonalen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden gehalten, die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes zu ergreifen.» Im Besonderen erwähnt der Bundesrat noch die Schulpflicht, die auch für Kinder im Nothilfesystem gelte.

Der Bundesrat sieht keinen Grund, besondere Massnahmen für Minderjährige, die mehr als 6 Monate auf Nothilfeleistungen angewiesen sind, zu ergreifen. Er verweist in seiner Antwort darauf, dass die Ausrichtung der Nothilfe Sache der Kantone ist und schreibt: «Der Kinderrechtskonvention kann nicht entnommen werden, dass sie generell über Artikel 12 der Bundesverfassung (Recht auf Hilfe in Notlagen) hinausgehende Nothilfeleistungen an Kinder gebieten würde.»

Verletzt das Nothilfesystem menschenrechtliche Vorgaben?

Artikel 12 der Bundesverfassung umschreibt knapp das Recht auf minimale Existenzsicherung: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» Das Bundesgericht hat entschieden, welche Leistungen unter Nothilfe zu erbringen sind. Unter anderem hat es 2005 in einem Grundsatzentscheid erwähnt, dass Nothilfe einzig die in einer Notlage im Sinne einer Überbrückungshilfe unerlässlichen Mittel umfasst, also Nahrung, Kleidung, Unterbringung und medizinische Versorgung. Festgehalten hat es bei dieser Gelegenheit auch, dass die Nothilfe es ermöglichen muss, die körperliche Unversehrtheit zu bewahren. Nun mehren sich allerdings die Hinweise, dass mindestens für bestimmte Gruppen, die über längere Zeit in der Nothilfe hängen bleiben, gesundheitliche Probleme zunehmen. Diese Situation beunruhigt Menschenrechtsorganisationen, die sich in der Schweiz für die Rechte von Ausländer/-innen einsetzen, schon seit längerem.

Fachleute des Schweiz. Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) beantworten die Frage nach der Menschenrechtskonformität des Nothilfesystems mit einem sehr zurückhaltenden Ja und sehen mehrere heikle Punkte. In der derzeit wohl ausführlichsten Auslegeordnung zum Thema, der Grundlagenstudie des Themenbereichs Migration vom SKMR, schreiben die Autoren/-innen, das Nothilfesystem als solches verletze die Minimalforderungen der ratifizierten Menschenrechtsnormen nicht direkt. Aber es stehe dennoch im Widerspruch zum internationalen Menschenrechtsschutz, weil die Schweiz die Empfehlungen (soft law) der UNO-Ausschüsse im Bereich der Nothilfe bisher weitgehend ignoriert hat.

Fehlende Rechtsgleichheit und weitere heikle Punkte

Die Ausschüsse monierten in den vergangenen Jahren, dass das mehrstufige Sozialhilfe-System (mit Sozialhilfe, eingeschränkter Sozialhilfe und Nothilfe) die Rechtsgleichheit nicht garantiert und erinnerten die Schweiz an ihre Verpflichtung, den Zugang zu einem ausreichenden Lebensstandard zu ermöglichen und medizinische Versorgung zu gewährleisten. Sie forderten auch Massnahmen, um die Praxis zwischen den Kantonen zu vereinheitlichen, denn die Leistungen an Nothilfebezüger/innen variierten regional lange stark. Ob die erwähnten im Juni 2012 verabschiedeten Empfehlungen der Sozialdirektorenkonferen (SODK) daran Wesentliches geändert haben, ist nicht erwiesen.

Das SKMR sieht im Zusammenhang mit Minderjährigen ein zentrales Problem darin, dass nur standardisierte Leistungen gewährt und die individuellen Bedürfnisse nicht geprüft werden. Für eine Mutter mit Säugling etwa sind administrative oder gar juristische Schritte notwendig, um das Nötigste zu erhalten. Das SKMR bewertet zudem das Leben in Gemeinschaftszentren oder in Zivilschutzanlagen für Minderjährige generell als heikel, weil die Unterkünfte sich nicht eignen für ein Alltagsleben über einen längerfristigen Zeitraum. Das SKMR erinnert daran, dass der Schutz des angemessenen Lebensstandards (Art. 11 UNO-Pakt II) nicht zuletzt eine adäquate Unterbringung beinhaltet, die über die Tatsache, ein Dach über dem Kopf zu haben, hinaus gehen muss (siehe hierzu Allg. Bemerkung Nr. 4 des Menschenrechtsausschuss). Ferner ritzt die Nothilfe nach Ansicht des SKMR an den Garantien im Bereich Privat- und Familienleben und am besonderen Schutz von Kindern, wie sie Art. 17, Art. 23 Abs. 1  und Art. 24 Abs. 1 UNO-Pakt II vorsehen. Ein Privat- oder Familienleben in Gemeinschaftsunterkünften erweise sich als heikel, wenn nicht gar unmöglich, wegen der engen Verhältnisse und der systematischen invasiven Kontrollen, schreibt das SKMR.

Kommentar

Die SBAA und das SKMR haben überzeugend aufgezeigt, dass das Nothilfesystem ein absolutes Minimum an Leistungen bietet, das nicht kindgerecht ist. Sofern Minderjährige über längere Zeit in dieser Struktur leben, nimmt die Schweiz in Kauf, dass sie nachhaltig geschädigt werden. Das System diskriminiert diese Kinder mit Absicht, weil sie zur Ausreise gezwungen werden sollen. Dabei geht vergessen, dass sich diese Kinder und Jugendlichen in der Regel nicht aus freiem Willen in der Schweiz befinden, sondern durch den Aufenthalt der Eltern hierzu gezwungen sind. Der Sozialhilfestopp für nicht aufenthaltsberechtigte Personen erzeugt über die Kinder Druck bei den Eltern. Die Kürzung der Leistungen auf das Minimum lässt sich nicht rechtfertigen, wenn diese migrationspolitische Strategie die sofortige Ausreise der Familien nicht erreicht. Der Bund muss dem Umstand Rechnung tragen, dass es in der Praxis vorkommen kann, dass sich eine Abreise über Monate oder Jahre verzögert. Es ist dringend notwendig, dass er diese menschenrechtlich heikle migrationspolitische Strategie mit Massnahmen begleitet, die die Schwächsten davor zu schützen, dass sie irreparable gesundheitliche Folgeschäden davon tragen.

Nicht verständlich ist zudem die beschönigende Haltung, welche in der Antwort des Bundesrats auf die Interpellation Schmid-Federer zum Ausdruck kommt. Sie ist mit Blick auf die aktuellen Erkenntisse von Nichtregierungsorganisationen und vom SKMR nicht nachvollziehbar. Für Humanrights.ch ist klar, dass das Nothilfesystem nicht mit den Schutzpflichten vereinbar ist, zu denen die Schweiz durch die Ratifizierung der UNO-Kinderrechtskonvention Ja gesagt hat. Der Bundesrat muss diese Pflichten endlich ernst nehmen. 

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