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Kinderbesuchsrecht gilt auch für Regenbogenfamilien

10.06.2021

Bei der Trennung von gleichgeschlechtlichen Paaren kann dem nicht leiblichen Elternteil ein Besuchsrecht eingeräumt werden. Der Kontakt zu den gemeinsam aufgezogenen Kindern soll aufrechterhalten werden können, wenn dies dem Kindeswohl dient. Zu diesem Schluss kommt das Bundesgericht in einem Grundsatzurteil – und stärkt damit Regenbogenfamilien. 

In einem Urteil vom 16. März 2021 hat das Bundesgericht entschieden, dass die Gerichte auch bei der Trennung von gleichgeschlechtlichen Paaren ein Besuchsrecht einräumen können. Das gilt insbesondere dann, wenn die Kinder ein gemeinsames Projekt der gleichgeschlechtlichen Eltern sind. In den meisten Fällen sei es im Sinne des Kindeswohls, wenn die Kinder nach der Trennung mit beiden Elternteilen Kontakt hätten.

Im konkreten Fall hatten zwei Genferinnen mittels Samenspende im Ausland drei Kinder bekommen. Nach ihrer Trennung wurde der nicht-leiblichen Mutter kein Besuchsrecht gewährt, obwohl sie mit der leiblichen Mutter in einer eingetragenen Partnerschaft gelebt und während der Geburten sowie in den Monaten danach mit ihr zusammengelebt hatte. Gemäss Bundesgericht hat es die Vorinstanz versäumt zu beurteilen, ob der Kontakt zwischen der Beschwerdeführerin und den Kindern geeignet sei, um dem Interesse der Kinder zu dienen. In Anbetracht der äußerst knappen Sachverhaltsdarstellung überwies das Bundesgericht diese Frage zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück.

Das Kindeswohl hat Priorität

Das Recht auf persönlichen Verkehr mit den Kindern kann ausnahmsweise auch Dritten eingeräumt werden, wenn dies dem Kindeswohl dient (Art. 274a ZGB). Das Partnerschaftsgesetz konkretisiert, dass auch dem*der ehemaligen Partner*in des leiblichen Elternteils bei Aufhebung des Zusammenlebens oder der Auflösung der eingetragenen Partnerschaft ein Besuchsrecht mit dem Kind eingeräumt werden kann (Art. 27 Abs. 2 PartG).

Für die Einräumung des Besuchsrechts von Dritten müssen «ausserordentliche Umstände» vorliegen. Dazu gehören gemäss Bundesgericht Situation, in denen das Kind eine «soziale» Beziehung zu einer Person aufgebaut hat, die ihm gegenüber elterlichen Pflichten nachgekommen ist. Die zweite Bedingung für ein Besuchsrecht für Drittpersonen ist das Kindeswohl. Hierbei reicht es nicht aus, dass die Beziehung dem Kind nicht schadet, der Umgang muss dem Kindeswohl explizit dienen. Es muss also die Art und Intensität der Beziehung zwischen dem Kind und der Drittperson – in diesem Fall der ehemaligen Partnerin – beurteilt werden.

Kinder als gemeinsames Projekt

Ein Besuchsrecht kann gemäss Bundesgericht insbesondere dann eingeräumt werden, wenn das Kind im Rahmen eines gemeinsamen elterlichen Projekts gezeugt wurde und innerhalb der von beiden Elternteilen gebildeten Paarbeziehung aufgewachsen ist. In dieser Konstellation würde die Aufrechterhaltung der persönlichen Beziehungen grundsätzlich im Interesse des Kindes liegen, weil der oder die Dritte für das Kind eine echte elterliche Bezugsperson darstellt. Andere Beurteilungskriterien, wie etwa das Vorliegen konflikthafter Beziehungen zwischen dem rechtlichen Elternteil und dem*der Ex-Partner*in, müssten in den Hintergrund treten und würden in der Regel nicht ausreichen, um das Interesse des Kindes an der Fortsetzung der Beziehung zu verneinen.

Im konkreten Fall haben die beiden Frauen gemeinsam geplant, Kinder zu haben. Sie wählten zusammen die Namen der Kinder aus und betreuten sie gemeinschaftlich. Die Kinder waren also ein gemeinsames Projekt, weshalb ein Besuchsrecht gemäss Bundesgericht grundsätzlich möglich ist. Die Vorinstanz hatte diese Umstände zur Beurteilung des Kindeswohls hingegen nicht berücksichtigt und damit gemäss den Richter*innen in Lausanne wesentliche Kriterien ausser Acht gelassen.

Das kantonale Gericht habe darüber hinaus sein Ermessen missbraucht, indem es sich in seiner Begründungen zur Verweigerung des Besuchsrechts auf irrelevante Faktoren gestützt hatte. Dass sich die minderjährigen Kinder «höchstwahrscheinlich» nicht mehr an die Beschwerdeführerin erinnern könnten, schliesse nicht aus, dass eine persönliche Beziehung zwischen ihr und den Kindern in deren Sinne sei. Schliesslich sei auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin die Schweiz verlassen hat, kein Kriterium zu Beurteilung des Kindeswohls. Die Beurteilung, ob das Besuchsrecht im konkreten Fall im Interesse der Kinder ist, muss die kantonale Vorinstanz nun nachholen.

Stärkung der Regenbogenfamilien

Der Dachverband Regenbogenfamilien zeigt sich erfreut über das Urteil aus Lausanne. Das Bundesgericht stelle das Wohl des Kindes ins Zentrum und anerkenne die gemeinsame Elternschaft auf der Basis der gemeinsamen Erziehung der Kinder sowie des gemeinsamen Familienprojektes. In der Gesellschaft würden Regenbogenfamilien mehr und mehr als eine von vielen möglichen Familienformen wahrgenommen und respektiert. Mit seiner Rechtsprechung gestalte das Bundesgericht diese Formen auch rechtlich mit.

Weiter stärkt das Urteil aus Lausanne den mit der Ehe für alle vorgesehenen Grundsatz, dass die gemeinsame Elternschaft ab Geburt eines Kindes gilt. Die originäre Elternschaft für gleichgeschlechtliche Paare gibt es in der Schweiz eigentlich nicht. Ziehen gleichgeschlechtliche Paare gemeinsame Kinder gross, dann gilt nur die leibliche Mutter oder der leibliche Vater von Anfang an als Elternteil. Dem anderen Partner steht seit 2018 immerhin die Adoption der Kinder (sog. Stiefkindadoption) offen. Nicht möglich ist eine gemeinsame Adoption. Auch eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung kann zurzeit nur im Ausland in Anspruch genommen werden, was bei der Rückkehr in die Schweiz häufig zu Rechtsunsicherheiten in Bezug auf die Beziehung zwischen dem Kind und dem «sozialen» – nicht leiblichen – Elternteil führt. Das Bundesgericht hat nun einige dieser Rechtsunsicherheiten geklärt.

Gleichzeitig macht das Urteil aus Lausanne deutlich, dass die Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen für Regenbogenfamilien überfällig sind. Die bevorstehende Volksabstimmung zur «Ehe für alle» könnte hier einen wichtigen Grundstein setzen. Die Einführung der Ehe für alle würde es verheirateten Frauen ermöglichen, eine Samenspende in der Schweiz in Anspruch zu nehmen. Der gleichberechtigte Zugang von Frauenpaaren zur Samenspende würde den Betroffenen einen grossen Leidensdruck nehmen.

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