27.04.2018
Wilson A. wurde vor rund neun Jahren zum Opfer rassistischer Polizeigewalt. Am 18. April 2018 fällte das Bezirksgericht Zürich endlich ein Urteil: Freispruch für die drei Polizeibeamten/-innen. Ein enttäuschendes Urteil, das zudem erst nach langwierigen juristischen Auseinandersetzungen zustande kam, wollte doch die Staatsanwaltschaft das Verfahren trotz klarer Beweislage zuvor zwei Mal einstellen. Der Rechtsanwalt von Wilson A. hat Berufung gegen das Urteil einlegt.
Der Vorfall vor acht Jahren
Wilson A. ist am 19. Oktober 2009 an einem Sonntag kurz nach Mitternacht mit einem Freund in einem Zürcher Tram unterwegs. Die beiden waren im Kaufleuten an einer Party und wollten nach Hause. Zwei Polizisten steigen dazu, stellen die beiden Männer, verlangen nach einem Ausweis. Wilson A. seufzt, immer dasselbe, warum denn die Polizei nur sie kontrolliere, etwa weil sie schwarz seien? Die Beamten fackeln nicht lange, sondern fordern die beiden Männer auf, aus dem Tram zu steigen. Sie sollen ihn nicht anfassen, sagt Wilson A., er habe eine Herzoperation hinter sich. Als zwei Polizisten es trotzdem tun, kommt es zum Gerangel, sie schlagen auf Wilson A. ein, der einen Defibrillator trägt, sprühen ihm Pfefferspray in die Augen und ringen ihn zu Boden. «Scheiss Afrikaner, geh zurück nach Afrika», solle einer der Polizisten gemäss Anklageschrift gesagt haben. Die Ärzte hielten später fest, dass jede physische Gewalt bei einem herzkranken Patienten wie Wilson A. lebensgefährlich sein könne.
Bruno Steiner, der Anwalt von Wilson A., sagt, es bestehe dringender Verdacht, dass es sich beim Würgegriff sowie den präzise applizierten Stockschlägen und Kniestössen auf die Brust und in den ungeschützten Unterleib um eine eventualvorsätzliche versuchte Tötung gehandelt habe. Der implantierte Defibrillator war - gemäss Steiner - infolge der erlittenen Schläge ein einziges blaues Hämatom. Es sehe auf den Bildern aus, wie eine aufgenähte Tasche. «Unvorstellbar, was ein Defekt hätte bewirken können. Abriss oder falsche Impulse an das rasende Herz», so Steiner. Trotz der medizinischen Verletzungsbilder sei die Staatsanwaltschaft im Untersuchungsverfahren nur von einer einfachen Körperverletzung ausgegangen.
Prozessualer Hürdenlauf
Entscheidet sich eine Person, sich wegen erlittener Polizeigewalt rechtlich zur Wehr zu setzen, untersuchen im Vorverfahren die Staatsanwaltschaft und die Polizei die Vorwürfe. Das heisst, im Normalfall wird eine Strafanzeige gegen Angehörige der Polizei von Personen und Stellen behandelt, die in ihrem Alltag auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Beschuldigten oder dessen Vorgesetzten angewiesen sind. Häufig sind die Ermittlungen während der Voruntersuchung nicht zielführend, weil sich Kollegen gegenseitig schützen und absprechen oder weil die Staatsanwaltschaft nicht konsequent genug ermittelt. Kaum je wird nach dem Vorverfahren überhaupt ein Strafverfahren eingeleitet.
In der Regel verfügen Betroffene nicht über die persönlichen und finanziellen Ressourcen, um einen solch aufreibenden Prozess durchzustehen. Die psychischen Belastungen seien zuweilen dramatisch und der effektive Arbeitsaufwand der Rechtsvertretung werde in einem solchen Fall niemals entschädigt, so Steiner. Zudem seien die Erfolgschancen in der Regel äusserst gering: «Wir kämpfen einen Kampf, in welchem der Klient genau wissen muss, dass er ihn mit aller Wahrscheinlichkeit verlieren wird und er eben gleichwohl zu führen ist.» Da die Erfolgsquote zumeist gegen null läuft und das Verfahren eine weitere Entwürdigung und sekundäre Viktimisierung mit sich bringe, rate er in den meisten Fällen vom Rechtsweg ab.
Hinzu kommt, dass Polizeiopfern wie Wilson A. bis vor kurzem in Zürich kein unentgeltlicher Rechtsbeistand gewährt wurde. Dies hatte die Beschwerdekammer des Zürcher Obergerichts vor einigen Jahren mit der Begründung entschieden, das Opfer könne seine Forderungen selber formulieren. Steiner findet es «schlicht unfassbar, wie ein Gericht einen solchen Entscheid fällen konnte». Immerhin hatte das Bundesgericht ein Einsehen und widerrief das Urteil des Obergerichts im Fall von Wilson A. (BGE 1B_355/2012): Der Anwalt von Wilson A. erhielt eine Entschädigung von 65'000 Franken. Nicht entschädigt würde jedoch ein privat finanziertes Gutachten, welches die Justiz dazu zwingen soll, die Beweislage anders zu würdigen.
Auch sonst brauchte es im Fall von Wilson A. die hartnäckige und akribische Arbeit seines Anwalts, damit der Fall nun mit acht Jahren Verspätung überhaupt von einem Gericht verhandelt wird. Vorausgegangen waren mehrere Versuche der zuständigen Staatsanwältin, das Verfahren einzustellen. Zweimal musste das Bundesgericht über prozessuale Fragen - einerseits zur zweifachen rechtswidrigen Einstellung des Verfahrens, andererseits zur Befangenheit der untersuchenden Staatsanwältin – entscheiden, bevor es am 10./11 April zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Vorfall kam. Gemäss RA Steiner handelt es sich« um ein äusserst signifikantes, und erkenntnisreiches Beispiel einer durch die Strafverfolger gelenkten Dysfunktion eines Strafverfahrens gegen gewalttätige Polizeibeamte.»
Es zeige sich das Bild eines nervenaufreibenden Grabenkrieges mit der Zürcher Staatsanwaltschaft I für besondere Aufgaben, der die Führung der Strafuntersuchung gegen die drei beschuldigten Polizeibeamten anvertraut worden war. Hierbei bestehe die Aufgabe der Staatsanwaltschaft gemäss Steiner primär darin, dem Vorgehen einen quasi legalen Anstrich zu geben: «Als Gaukler und Illusionisten einer unabhängigen und unvoreingenommenen Strafjustiz, die es in solchen Fällen, wenn Strafverfolger gegen Strafverfolger ermitteln, schlicht und einfach nicht geben kann und nie gegeben hat.» Hinzu komme, dass die Polizei bei solchen Vorfällen in aller Regel selber eine Anzeige gegen das Opfer einreicht, so auch geschehen bei Wilson A., wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte. Die Polizeibeamten würden dem Prinzip «Wer zuerst schiesst, der hat gewonnen» folgen. Sie flüchteten sich in die Opferrolle, derweilen sie Wilson gezielt in den wahren Täter verwandeln versuchten.
Tatbestandserweiterung: Gefährdung des Lebens
Der zuständige Einzelrichter des Obergerichts Zürich erkannte die Gefahr für die Justiz und forderte die Staatsanwaltschaft am 21. November 2016 auf, die Anklage um den Tatbestand der Gefährdung des Lebens zu ergänzen. Genauso, wie es das Bundesgericht bereits im zweiten Entscheid verlangt hatte. Diesen Bundesgerichtsentscheid habe die Staatsanwaltschaft gemäss Steiner zuvor einfach missachtet.
Bemerkenswert ist die Begründung des Einzelrichters: Eine Ergänzung der Anklage sei vor allem in Anbetracht der Tatsache angebracht, dass erstens «Polizisten angeklagt sind» und zweitens «der Privatkläger eine schwarze Hautfarbe hat». Das Interesse der Öffentlichkeit an einer richterlichen Beurteilung, an der Ermittlung der historischen Wahrheit sowie das Interesse an einem fairen Verfahren seien besonders hoch zu gewichten. Letztlich gehe es auch um die Glaubwürdigkeit der Justiz.
Inzwischen hat die – immer noch gleiche - Staatsanwältin den Tatbestand um die «Gefährdung des Lebens» erweitert. Dabei hat sie es aber unterlassen, den Strafantrag (bedingte Geldstrafe von 100 Tagessätzen) zu erhöhen. Dieser Strafantrag kann gemäss Steiner nur als bewusste Provokation verstanden werden kann: «Das reicht gerade einmal für ein bisschen Amtsmissbrauch.»
Auch dem Einzelrichter erschien das Strafmass als zu tief bemessen, weshalb er am 16. Dezember 2016 die Überweisung an das Kollegialgericht veranlasste. Dieses ist im Gegensatz zum Einzelgericht befugt, Freiheitsstrafen über zwölf Monaten auszusprechen. Die für den 13. Juni 2017 angesetzte Gerichtsverhandlung wurde aufgrund eines abgelehnten Antrages des Anwaltes wegen Befangenheit der Staatsanwältin erneut verschoben und fanden nun am 10./11. April 2018 statt.
Urteil vom 18. April 2018
Am 18. April 2018 dann der Paukenschlag: Das Bezirksgericht Zürich spricht die drei Angeklagten frei. Eine Überraschung war das Urteil jedoch nicht, denn selbst die Staatsanwältin forderte entgegen ihrer eigenen Anklageschrift diesen Freispruch.
Das Gericht bemängelte in seinem Urteil die ungenügende Beweislange und erachtete die Aussagen von Wilson A. als wenig glaubhaft – ganz im Gegensatz zu denjenigen der angeklagten Polizisten/-innen. Ihnen wurde attestiert, ihre Aussagen würden mit den Verletzungen des Klägers übereinstimmen. Des Weiteren hielten die Richter fest, dass der Fall nichts mit Racial Profiling zu tun habe.
Dem widerspricht Tarek Naguib von der UnterstützerInnengruppe Allianz gegen Racial Profiling: «Das Gericht hat ein weiteres Mal bewiesen, dass es keine Ahnung hat, wie Rassismus funktioniert». Aufgrund ihrer Nähe zur Polizei sei die Staatsanwaltschaft zudem nicht in der Lage, unabhängig gegen diese zu ermitteln.
Am 26. April 2018 haben Wilson A. und sein Anwalt bekannt gegeben, dass sie den Fall ans Zürcher Obergericht weiterziehen.
Dokumentation
- Anmeldung der Berufung
Pressemitteilung von Bruno Steiner vom 26. April 2018 - Unsere Sicht der Dinge
Erläuterungen zur Pressemitteilung vom 26. April 2018 - Medienmitteilung des Bezirksgerichts Zürich
Zürich, 18. April 2018 (pdf, 2 S.) - Im Zweifel für die Polizei
Republik, 16. April 2018 - «Lass mich atmen!»
WOZ, 12. April 2018 - «Ich habe Glück, dass ich noch lebe»
analyse&kritik, Ellen Höhne et al., 15.05.2018 - Stellungnahme von Bruno Steiner
Bern, 9. April 2018 - Stellungnahme der Allianz gegen Racial Profiling
Bern, 8. April 2018 - «Geh doch zurück nach Afrika!» – Ein Schwarzer klagt gegen drei Zürcher Stadtpolizisten
watson, 21.11.2016