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General-Vollmacht im Bernischen Sozialhilfegesetz: Bundesgerichtsentscheid beim EGMR angefochten

31.10.2012

Im Zuge der Debatte über Missbrauchsbekämpfung in der Sozialhilfe haben mehrere Kantone neue Sozialhilfegesetze erlassen, welche die Einsichtsrechte in Privates sowie den Informationsaustausch zwischen verschiedenen Amtsstellen neu regeln. Seit dem 1. Januar 2012 verfügt auch der Kanton Bern über ein solches Gesetz, welches bezüglich Informationsbeschaffung durch die Behörde besonders weitgehende Massnahmen vorsieht. Sozialhilfebezüger/innen müssen der Behörde bereits bei der Antragsstellung eine Blanko-Vollmacht zur Informationsbeschaffung abgeben.

Bundesgericht weist Beschwerde ab

Der Bernische Grosse Rat hatte am 24. Januar 2011 die Revision des Sozialhilfegesetzes aus dem Jahre 2001 verabschiedet. Avenir Sozial, das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen (KABBA), die Demokratischen JuristInnen Bern sowie weitere Organisationen und Gewerkschaften ergriffen daraufhin das Referendum. Am 12. Mai 2011 musste die Sammelaktion jedoch eingestellt werden – mangels Unterstützung. Daraufhin entschieden sich die Gegner der Vorlage, den rechtlichen Weg zu beschreiten und legten am 9. Juni 2011 beim Bundesgericht Beschwerde gegen das revidierte Gesetz ein.

Das Bundesgericht hat am 4. September 2012 eine Beschwerde gegen das revidierte Bernische Sozialhilfegesetz abgewiesen. Der Entscheid präzisiert, unter welchen Bedingungen der Sozialdienst eine Vollmacht, wie sie die Bezüger/innen abgeben müssen, überhaupt nutzen darf.

Beschwerde beim EGMR hängig

Am 9. April hat der Berufsverband der Sozialarbeitenden «Avenir Social» bekannt gegeben, dass gegen den Entscheid des Bundesgerichts beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde eingereicht wurde, weil die Argumentation des Bundesgerichts als «rechtsstaatlich nicht haltbar» eingestuft wird.

Die Präzisierungen des Bundesgerichts

Das revidierte Bernische Sozialhilfegesetz sieht nicht nur ein Maximum an Informationsaustausch zwischen den Amtsstellen vor, es schränkt durch die Klausel, dass bei Anmeldung beim Sozialdienst eine Vollmacht zur Informationsbeschaffung abgegeben werden muss, die Persönlichkeitsrechte von Sozialhilfebezügern/-innen sehr stark ein. Das Bundesgericht musste sich deshalb mit der Frage befassen, ob diese Einschränkung der Grundrechte mit Blick auf die Missbrauchsbekämpfung verhältnismässig sei (Art. 36 BV). Das Gericht befand per Mehrheitsentscheid mit 3 gegen 2 Stimmen knapp, dass diese Klausel des Bernischen Gesetzes verfassungskonform auslegbar sei, wenn die Behörden diese nicht streng nach Wortlaut des Gesetzes anwende. 

Gemäss dem Urteil des Bundesgerichts muss die Behörde die betroffene Person informieren, sofern sie aufgrund der abgegebenen Vollmacht eine Information einholen will. Dies unter dem ausdrücklichen Hinweis, dass die/der Betroffene die Vollmacht jederzeit widerrufen kann. Ein solcher Widerruf kann dann höchstens eine Kürzung, hingegen nicht eine vollständige Einstellung von Leistungen zur Folge haben. Konkret bedeutet das Urteil: Die Sozialhilfebehörden können zwar fortan bei der Anmeldung zum Sozialhilfebezug eine General-Vollmacht von der betroffenen Person einholen. Sie müssen aber die betroffene Person gleichzeitig darüber informieren, dass zur Informationsbeschaffung ein dreistufiges Verfahren angewendet wird: Vorab zählt die Sozialhilfebehörde auf die Mitwirkung der betroffenen Person. Können die benötigten Informationen auf diese Weise nicht eingeholt werden, werden sie gemäss den gesetzlichen Möglichkeiten zur direkten Informationsbeschaffung bei Dritten eingeholt. Führt auch dieser Weg nicht zum Ziel, gelangen die General-Vollmachten zur Anwendung.

Regeln zur Informationsbeschaffung im neuen Gesetz

Nach dem geltenden kantonalbernischen Sozialhilfegesetz sind Sozialhilfebezüger/innen grundsätzlich verpflichtet, alle notwendigen Informationen über ihre persönlichen und finanziellen Verhältnisse den Sozialämtern mitzuteilten (Art. 28 SHG). Wird dies unterlassen, so kann der Sozialdienst selber Auskünfte einholen. Das neue Gesetz regelt nun zum einen die Informationsbeschaffung durch die Sozialbehörde genauer. Zum andern schreibt es auch fest, dass die Sozialbehörde selber eine Auskunftspflicht gegenüber andern amtlichen Stellen hat (Neufassung des Sozialhilfegeheimnisses). Aus Sicht der Menschenrechte sind diese Regeln von Bedeutung, weil sie das Recht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) sowie das Recht auf Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV) von Sozialhilfeempfänger/innen tangieren.

Das neue Gesetz enthält ein besonders geschütztes Sozialhilfegeheimnis (Art. 8 Abs. 1 SHG) mit klaren Ausnahmen in der Form von Mitteilungspflichten und Amtshilfepflichten (Art. 8a SHG). Der Gesetzgeber will damit den Umgang mit Informationen für die Behörden, welche mit dem Vollzug des Gesetzes betraut sind, sowie für die Sozialhilfebezüger/innen berechenbarer machen. Auf die Ausgestaltung dieser Mitteilungspflichten und Amtshilfepflichten kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Festzuhalten gilt es, dass weitgehende Ausnahmen vom Sozialhilfegeheimnis vorgesehen sind.

Privatsphäre nur für Reiche?

Das Gesetz sieht umgekehrt eine Informationspflicht gegenüber den Sozialämtern vor. Nicht nur Behörden werden zur Weitergabe von Informationen gegenüber den Sozialämtern verpflichtet (Bsp. Steuerbehörde oder Polizei), sondern auch Private. Um den Behörden die Informationsbeschaffung zu erleichtern, verlangt das Gesetz, dass Personen mit Einreichen des Gesuchs um Sozialhilfe eine umfassende Vollmacht zuhanden der Behörde abgeben. Somit können die Behörden Ärzte, Banken und Vertrauenspersonen (etwa Personen, die mit dem Sozialhilfeabhängigen in einer Hausgemeinschaft leben) befragen (Art. 8c SHG).

Der Regierungsrat hatte in seinem Entwurf keine solche Vollmachtsklausel vorgesehen. Im Grossen Rat konnte sich die Klausel, welche von SVP, BDP und FDP eingebracht worden war, schliesslich erstaunlich deutlich durchsetzen (137 zu 4 Stimmen bei 2 Enthaltungen).

Kommentar von humanrights.ch/MERS

Eine detaillierte Regelung zur Bestimmung der Auskunftspflicht von Behörden wie auch von Sozialhilfeempfängern, wie sie der Kanton Bern mit dem neuen Gesetz anstrebt, ist grundsätzlich zu begrüssen, weil sie bezüglich der Kompetenzen der Behörden Klarheit schafft. Der Gesetzgeber strebt mit der Bestimmung über die Abgabe einer Vollmacht ein Maximum an Informationsaustausch an. Die Parlamentsmehrheit erhoffte sich davon mehr Kooperationsdruck und –wille bei potenziell missbräuchlichen Verhaltensweisen. Ob die Vollmachtsklausel diese Wirkung haben wird, ist nicht sicher. Das Bundesgericht hat die Anwendung des Gesetzes nun präzisiert und festgehalten, welche Voraussetzungen durch die Behörden zu schaffen sind, damit die Benutzung der General-Vollmacht verhältnismässig ist. Störend bleibt, dass FDP, BDP und SVP bei der Gewährung von Sozialrechten allzu stark dazu tendieren, die Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte (Art. 10 Abs. 2; Art. 13 Abs. 1 BV) als Bagatelle anzusehen, wohingegen sie in andern Menschenrechtsfragen genau diese Rechte stark betonen.

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