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Schlumpf gegen die Schweiz

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 8
(Recht auf ein faires Verfahren und Recht auf Privatleben im Zusammenhang mit einer Geschlechtsumwandlung; Übernahme der Kosten einer Geschlechtsumwandlungsoperation durch die Krankenkasse)
08/01/2009
Urteil

Zusammenfassung des Bundesamts für Justiz

«Nachdem sie ihre Geschlechtsumwandlung beschlossen hatte, lebte die Beschwerde-führerin seit 2002 im Alltag als Frau. Im Jahr 2003 begann sie eine Hormon- und eine Psychotherapie. Im November 2004 beantragte sie bei ihrer Krankenkasse die Übernahme der Kosten für eine Geschlechtsumwandlungsoperation. Mit Schreiben vom 29. November 2004 lehnte die Krankenkasse das Gesuch ab. Ohne von diesem Schreiben Kenntnis genommen zu haben, unterzog sich die Beschwerdeführerin am 30. November 2004 der Operation. Sie verlangte daraufhin von der Krankenkasse eine anfechtbare Verfügung, gegen welche sie in der Folge bis vor Bundesgericht Beschwerde erhob. Gemäss Rechtsprechung werden die Kosten für Geschlechtsumwandlungsoperationen nur dann übernommen, wenn die Diagnose gesichert ist, wofür sich der Patient vorgängig während zwei Jahren einer Hormon- und Psychotherapie unterzogen haben muss. Unter Hinweis auf diese Rechtsprechung, deren Bedingun-gen nicht erfüllt waren, wurden die Beschwerden abgewiesen.
Vor dem Gerichtshof rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil keine öffentliche Verhandlung durchgeführt worden war, weil das Gericht willkürlich auf die eigene Einschätzung und nicht auf diejenige der medizinischen Experten abgestellt habe und weil es Beweisanträge (zusätzliche Expertenanhörungen) abgelehnt hat. Sie machte weiter geltend, die Anwendung der dargelegten Rechtsprechung (Wartefrist) stelle eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) dar.
Bezüglich der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) erwog der Gerichtshof, die Ablehnung des Antrags auf Einholung von zusätzlichen Expertenmeinungen durch das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) sei unverhältnismässig gewesen. Das Gericht habe damit unzulässigerweise seine eigene Meinung anstelle derjenigen der medizinischen Fachpersonen gesetzt. Was das Recht auf eine öffentliche Verhandlung anbelangt, hielt der Gerichtshof fest, im Verfahren hätten sich nicht nur rechtliche oder technische Fragen gestellt; deshalb seien die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Verweigerung einer öffentlichen Verhandlung durch das EVG nicht erfüllt gewesen. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (faires Verfahren und Recht auf eine öffentliche Verhandlung; einstimmig).
Bei der Prüfung einer Verletzung von Artikel 8 EMRK stellte der Gerichtshof darauf ab, das EVG habe bei der Anwendung der zweijährigen Wartefrist nicht berücksichtigt, dass seit der Errichtung der diesbezüglichen Rechtsprechung im Jahr 1988 im Bereich der Feststellung der Transsexualität medizinische Fortschritte gemacht worden seien. Der auf diese Rechtsprechung gestützte Entscheid habe der besonderen Situation der Beschwerdeführerin, die im Zeitpunkt des Antrags auf Kostenübernahme bereits 67 Jahre alt war, nicht genügend Rechnung getragen. Verletzung von Art 8 EMRK (5 zu 2 Stimmen; Gesuch der Regierung um Neubeurteilung vor der Grossen Kammer hängig).»

Quelle: Bundesamt für Justiz, Quartalsberichte über die Rechtsprechung des EGMR, 1. Quartal 2009 (pdf, 15 S.)