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Strassburg weist die Schweiz nach Landesverweis in die Schranken

20.11.2024

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist der Ansicht, dass die Schweiz das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt hat, als sie einen bosnischen Staatsbürger, der seit sieben Jahren in der Schweiz lebt und wegen Drogenhandels verurteilt wurde, auswies. Das Gericht ist der Ansicht, dass die Behörden keine verhältnismässige Prüfung des Falles unter Berücksichtigung des Profils des Beschwerdeführers als Ersttäter sowie der schwerwiegenden Folgen, die die Ausweisung für seine Familie haben würde, vorgenommen haben.

In seinem Urteil vom 17. September 2024 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Schluss, dass die Schweiz das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens durch seine automatische Ausweisung verletzt hat. Der Mann war seit fast sieben Jahren in der Schweiz, hatte keine Vorstrafen und verhielt sich nach der Verurteilung nicht mehr so, dass er die öffentliche Sicherheit gefährdet hätte. Zudem hätte die Ausweisung zahlreiche negative Auswirkungen auf seine Ehefrau und seine kleinen Kinder mit Schweizer Staatsbürgerschaft gehabt.

Nach Verurteilung automatisch ausgewiesen

2018 wurde der bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige P.J. im Raum Zürich festgenommen, als er für 500 Franken 194 Gramm Kokain für einen Dritten transportierte. Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte ihn wegen Drogenhandels zu einer Bewährungsstrafe und ordnete an, dass er gemäss Artikel 66a des Strafgesetzbuchs für fünf Jahre aus der Schweiz ausgewiesen wird. 

Diese Bestimmung listet jene Straftaten auf, für die jede ausländische Person ausgewiesen werden kann, was die Verpflichtung zur Ausreise aus dem Land, ein Einreiseverbot und den Verlust der Aufenthaltsgenehmigung sowie des Rechts auf Aufenthalt in der Schweiz zur Folge hat. Artikel 66a Absatz 2 ermöglicht es der Justiz jedoch, auf eine Ausweisung zu verzichten, wenn diese die Ausländer*in in eine schwerwiegende persönliche Situation bringen würde und die öffentlichen Interessen an der Ausweisung die privaten Interessen der ausländischen Person am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Bei der Anordnung einer Ausweisung muss zudem der Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachtet werden (Art. 5 Abs. 2 BV). Um die Verhältnismässigkeit des Eingriffs nach Artikel 8 EMRK zu prüfen, müssen mehrere Kriterien berücksichtigt werden: die Schwere der Straftat und die Schuld der Tatperson; die Dauer des Aufenthalts in der Schweiz; die seit der Straftat verstrichene Zeit und das Verhalten der beschuldigten Person während dieser Zeit; die sozialen, familiären und kulturellen Bindungen der beschuldigten Person und seiner Familie, sowohl zur Schweiz als auch zum Herkunftsstaat, in den sie abgeschoben werden soll.

P.J. legte gegen diese Verurteilung Beschwerde ein, die am 17. Juni 2020 abgewiesen wurde: Das Bundesgericht befand, dass die Straftat schwerwiegend war, da sie andere Personen und die öffentliche Sicherheit gefährdete, und dass die Umsiedlung seiner Familie nach Bosnien-Herzegowina - seinem Wohnsitzland - keine besonderen persönlichen Schwierigkeiten bereiten würde. P.J. wurde daher im Juli 2020 abgeschoben, während seine Frau R.J., die in der Schweiz geboren worden war und ihr ganzes Leben hier verbracht hatte, sowie ihre zwei Töchter in der Schweiz blieben. Die drei erhielten im Dezember 2021 die Schweizer Staatsbürgerschaft. Das Ehepaar wandte sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um die Ausweisung von P.J. aufgrund des Rechts auf Achtung des Familienlebens anzufechten.

Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben

In seinem Urteil vertritt der EGMR die Auffassung, dass die Schweiz das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) verletzt hat. Ein Eingriff einer Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur dann erlaubt, wenn er eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (Art. 8 Abs. 2 EMRK). Im vorliegenden Fall ist P.J, der zum Zeitpunkt der Ausweisung etwa 6 Jahre und 8 Monate im Land gelebt hatte, gemäss der Empfehlung Rec(2000)15 des Ministerkomitees des Europarats ein langfristiger Einwanderer.

Um seine Ausweisung zu rechtfertigen, hatten die Schweizer Behörden einerseits argumentiert, dass P.J. eine unterdurchschnittliche Integration aufweise, und andererseits, dass P.J.s Frau - R.J. - die Wahl habe, ihrem Ehemann nach Bosnien-Herzegowina zu folgen oder in der Schweiz zu bleiben. Zudem könnten sich die Töchter von P.J. und R.J. aufgrund ihres Alters an eine neue Umgebung in Bosnien-Herzegowina anpassen. Die Strassburger Richter*innen sind der Ansicht, dass die Behörden ihrer Situation und den negativen Auswirkungen der Abschiebung auf die Familienmitglieder nicht das nötige Gewicht verliehen haben. 

Die Strassburger Richter*innen sind ausserdem der Ansicht, dass die Schweizer Behörden nicht berücksichtigt haben, dass P.J. keine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit mehr darstellte: Er hatte sich vorbildlich verhalten und schnell eine feste Anstellung gefunden, was seine Rehabilitierung und sein Engagement für die Einhaltung der Rechtsordnung beweise. Der EGMR bekräftigt somit, dass das Verhalten der verurteilten Person nach der Verhängung einer strafrechtlichen Ausweisung bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Ausweisung berücksichtigt werden muss. Er erkennt zwar an, dass die Verurteilung von P.J. im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln schwerwiegend ist, erinnert jedoch daran, dass die Schweizer Behörden die Straftat nicht mit einer unbedingten Strafe geahndet haben, sondern dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, da P.J. keine Vorstrafen hat.

Die Schweiz ist zu streng

Es ist nicht das erste Mal, dass der EGMR eine Verletzung der Schweiz von Artikel 8 EMRK im Falle der Ausweisung einer ausländischen Person feststellt. In ihrem Urteil zum Fall I.M. gegen die Schweiz stellten die Strassburger Richter*innen fest, dass die Schweizer Behörden keine Abwägung aller auf dem Spiel stehenden Interessen vorgenommen hatten, um die Notwendigkeit der Ausweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz zu beurteilen. Der Gerichtshof hatte dem Bundesverwaltungsgericht vorgeworfen, nur oberflächlich die Verhältnismässigkeit der Ausweisung geprüft zu haben und sich nicht mit Kriterien auseinandergesetzt zu haben, die im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs relevant sind. Der EGMR stellte auch im Fall Boultif eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gegen die Schweiz fest: Der Beschwerdeführer war ein algerischer Staatsangehöriger mit einer B-Bewilligung, der seit fünf Jahren mit einer Schweizerin verheiratet und wegen Raubes zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Er war ausgewiesen worden. Die Richter*innen waren der Ansicht, dass man der Ehefrau nicht auferlegen könne, mit ihrem Ehemann nach Algerien zu ziehen, und dass der Staatsangehörige aufgrund seines Verhaltens zum Zeitpunkt der Nichtverlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung keine Gefahr für die Schweiz darstellte.

Die Rechtsprechung des EGMR ist im Bereich der Ausweisung jedoch nicht einheitlich. Zum ersten Mal hatte sich der EGMR im Urteil M.M. gegen die Schweiz zur Vereinbarkeit von Artikel 66a des Strafgesetzbuchs mit der EMRK geäussert. In diesem Fall stellten die Strassburger Richter*innen fest, dass die nationalen Gerichte die persönliche Situation des Beschwerdeführers und die verschiedenen Interessen, die auf dem Spiel standen, ernsthaft geprüft hatten, bevor sie seine Ausweisung verhängten. In seinem Urteil zum Fall K.A. gegen die Schweiz, in dem der Beschwerdeführer zu einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung verurteilt worden war, weil er sechs Monate lang grosse Mengen Heroin zu wirtschaftlichen Zwecken verkauft hatte, stellte der Gerichtshof ebenfalls fest, dass die verhängte Ausweisungsmassnahme verhältnismässig war.