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Wegweisung: EGMR weist die Beschwerde eines psychisch schwerkranken Türken ab

14.04.2015

Die Schweiz darf einen Türken, der seit vielen Jahren in der Schweiz lebt und hier Familienangehörige hat, in die Türkei wegweisen - trotz diagnostizierter Schizophrenie und mehreren Rückfällen in den letzten Jahren. Der Mann hatte seine Ehefrau vor 14 Jahren im Streit getötet. Nach Verbüssung der Haftstrafe verlor der Mann seine Aufenthaltsgenehmigung und erhielt von den Behörden die Wegweisung. Gegen diese wehrte er sich erfolglos bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

(Zusammenfassung des Urteils von David Suter, Schutzfaktor M)

Der Beschwerdeführer T. wurde in der Türkei wegen seiner politischen Aktivitäten verfolgt. 1988 flüchtete er in die Schweiz. Hier wurde ihm 1994 Asyl gewährt, zusammen mit zweien seiner Söhne. Eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt er 1995 und holte daraufhin seine Ehefrau und drei weitere Kinder in die Schweiz. 1990 erlitt T. einen schweren Arbeitsunfall. Infolge dessen war er zu 100% arbeitsunfähig. Zu diesem Zeitpunkt erkrankte er auch an Schizophrenie, die jedoch erst 2002 diagnostiziert wurde.

2001 erschoss T. seine Frau im Streit. Dafür wurde er 2003 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Wegen seiner psychischen Erkrankung wurde er jedoch nicht ins Gefängnis, sondern in eine geschlossene Anstalt eingewiesen. Von dort wurde er im April 2010 entlassen unter der Bedingung, seine Behandlung noch während drei Jahren im offenen Vollzug fortzusetzen. T. erlitt jedoch mehrere Rückfälle, während denen er erneut interniert werden musste.

Wegweisung nach 24 Jahren in der Schweiz

Wegen dieser Verurteilung wurde T. im Jahre 2009 der Asylstatus aberkannt und 2010 die Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz entzogen. Dagegen zog T. bis vor Bundesgericht, jedoch ohne Erfolg. Im August 2012 erhielt dann der nun bereits 62 Jahre alte T. die Wegweisungsverfügung. Dagegen erhob T. am 8. Oktober 2012 Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

Vor dem EGMR berief sich T. auf den Schutz des Lebens, Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), und auf den Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung, Art. 3 der EMRK. Die Familie der getöteten Ehefrau habe ihm mit der Blutrache gedroht, und die türkischen Behörden könnten ihn nicht davor schützen. Und weil er weiterhin in stationärer psychiatrischer Behandlung bleiben müsse, wäre er ein noch leichteres Ziel für einen Mordanschlag.

Gefährdung für sich und Dritte?

Seine Invalidenrente würde zudem nicht ausreichen, um seine psychiatrische Behandlung in der Türkei fortzusetzen. Und während T. in der Schweiz einen Vormund hat, würde in der Türkei niemand für ihn da sein. Er könnte daher einen Rückfall erleiden und dabei sich und andere Personen schwer verletzen oder sogar töten. Zudem sei er höchstwahrscheinlich nach wie vor wegen seiner politischen Aktivitäten registriert und könnte nach seiner Rückkehr verhaftet und gefoltert werden.

Der EGMR folgte dieser Argumentation in seinem Urteil vom 14. April 2015 nicht. Er folgte vielmehr der Argumentation der Schweizer Behörden, dass einerseits T. die Gefahr von Blutrache und Folter zu wenig genau dargelegt hätte und andererseits Fakten vorliegen, die diese Gefahr als gering erscheinen lassen.

Strenge Bedingungen für den Non-Refoulement-Schutz

Mit Bezug auf T.s Gesundheitszustand betonte der EGMR, dass bessere Behandlungsmöglichkeiten und Sozialleistungen im ausweisenden Staat selbst bei Schwerkranken prinzipiell keinen Rückschiebungsschutz auslösen. Sogar wenn die Lebenserwartung des Beschwerdeführers in der Türkei «erheblich reduziert» werde, liege damit noch keine Verletzung von Art. 2 oder 3 der EMRK vor. Zudem hätten die Schweizer Behörden die medizinische Behandlung von T. bis zu seiner Ausweisung sichergestellt und würden in dieser Sache auch mit den türkischen Behörden kooperieren.

Dieses Urteil bestätigt die extrem hohe Hürde des Strassburger Gerichtshofs, wenn es um die Anwendung des Rückschiebungsverbots geht – insbesondere wenn es um medizinische Fälle geht und solche, in denen es sich um eine Rückschiebung in einen Mitgliedstaat des Europarats geht. In einer abweichenden Meinung wird diese Strenge vom belgischen Richter beim EGMR, Paul Lemmens, zu Recht kritisiert.