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Wehrdienstabgabe für Männer mit leichten Behinderungen: Die Schweizer Praxis ist diskriminierend

27.05.2021

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt, dass dienstwillige Männer, die aufgrund einer leichter Behinderung für militärdienstuntauglich erklärt werden, nicht zur Wehrdienstersatzabgabe verpflichtet werden dürfen. Andernfalls liegt eine Diskriminierung vor. Die Schweiz wurde für diese Praxis bereits im Jahr 2009 von Strassburg gerügt und hat daraufhin ihre Gesetzgebung für Personen mit leichter Behinderung angepasst – das Resultat ist unbefriedigend.

In seinem Urteil vom 12. Januar 2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen einer Diskriminierung aufgrund des Gesundheitszustandes gemäss Artikel 14 in Zusammenhang mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Schweizer Behörden hatten den Beschwerdeführer aufgrund einer leichten Behinderung für Wehrdienstuntauglich erklärt und zur Bezahlung der Wehrpflichtersatzabgabe verpflichtet. Die Richter*innen in Strassburg stellten fest, dass der Beschwerdeführer – im Gegensatz zu Personen mit schweren Behinderungen – einen Wehrpflichtersatz leisten musste, ohne dass ihm die Möglichkeit offenstand, einen angepassten Ersatzdienst zu leisten. Diese Ungleichbehandlung qualifizierten sie als Diskriminierung.

Zwang zum Wehrdienstersatz trotz Untauglichkeit

Der Beschwerdeführer wurde 2004 wegen einer leichten Behinderung (Invaliditätsgrad von unter 40%) für militärdienstuntauglich erklärt. Im Jahr 2010 forderte ihn das Berner Amt für Bevölkerungsschutz, Sport und Militär dazu auf, die Wehrpflichtersatzabgabe zu bezahlen. Gegen diesen Entscheid erhob er Einsprache: Er sei aus medizinischen Gründen für wehrdienstuntauglich erklärt worden, und beantrage deshalb, vom Wehrpflichtersatz befreit zu werden. Die Einsprache wurde von der Sicherheitsdirektion abgewiesen.

Im Dezember 2011 wurde der Beschwerdeführer der Reserve des Zivilschutzes zugeteilt und vom Besuch des Einführungskurses dispensiert. Dagegen legte er Rekurs bei der kantonalen Steuerrekurskommission ein, jedoch ohne Erfolg. Seine Beschwerde ans Bundesgericht wurde im Jahr 2012 abgewiesen. Ähnlich wie zuvor die kantonalen Instanzen erwog das Bundesgericht, dass der Beschwerdeführer seinen Willen zur Leistung des obligatorischen Wehrdienstes nicht genügend zum Ausdruck gebracht habe, weil er den ursprünglichen Dienstuntauglichkeitsentscheid aus dem Jahr 2004 nicht angefochten hatte. Ebenso habe er nicht kommuniziert, dass er Zivilschutz zu leisten wünsche, was seine Ersatzabgabe reduziert hätte. Da der Beschwerdeführer angeblich nicht alles in seiner Macht stehende unternommen hatte, um seinen Dienst zu leisten, lag in den Augen der Schweizer Behörden keine Diskriminierung vor.

Nachdem der Beschwerdeführer nach einem Wohnsitzwechsel in die Zivilschutzreserve eingezogen worden war, wurde er Ende 2013 von seiner Dienstpflicht entbunden. Gegen den negativen Bundesgerichtsentscheid reichte der Beschwerdeführer am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde wegen Diskriminierung aufgrund seines Gesundheitszustandes ein. Indem er trotz der medizinisch begründeten Untauglichkeit zur Leistung von Militärdienst eine Ersatzabgabe entrichten müsse, werde er im Gegensatz zu Personen mit einer schwereren Behinderung diskriminiert. Gleichzeitig werde es ihm – anders als Personen, die den Militärdienst aus Gewissensgründen nicht leisten wollen – verweigert, einen zivilen Ersatzdienst zu leisten und so von der Wehrpflichtersatzabgabe befreit zu werden. Schliesslich könne er – im Gegensatz zu Frauen – den Militärdienst auch nicht freiwillig antreten.

Keine Möglichkeit den Wehrpflichtersatz durch Zivildienst zu reduzieren

In Einklang mit seinem Urteil aus dem Jahr 2009 (Glor gegen die Schweiz) hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erneut fest, dass die Auferlegung des Wehrpflichtersatzes ohne die Möglichkeit, Alternativdienst zu leisten, eine Diskriminierung darstelle (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK). Damit würden dienstuntaugliche Männer gegenüber Menschen mit einem Invaliditätsgrad von über 40 Prozent, die den Militärpflichtersatz nicht bezahlen müssen, in einer vergleichbaren Situation ungerechtfertigterweise unterschiedlich behandelt. Sodann wird im Urteil festgehalten, dass der Beschwerdeführer im Vergleich zu Personen, die den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigern, eindeutig benachteiligt würde: Während diese die Wehrpflichtersatzabgabe nicht entrichten müssen, sofern sie einen zivilen Ersatzdienst leisten, stand dem Beschwerdeführer diese Möglichkeit nicht offen.

Dass der Beschwerdeführer seinen Dienstwillen – ob im Rahmen der Wehrpflicht oder eines zivilen Ersatzdienstes – nicht explizit geäussert habe, spielt für die Richter*innen in Strassburg keine entscheidende Rolle. Es lägen in jedem Fall keine Hinweise dafür vor, dass er nicht bereit gewesen wäre, seinen Dienst zu absolvieren. Der einzige Grund, weshalb er seiner Wehrpflicht nicht nachgekommen war, sei die festgestellte Dienstuntauglichkeit gewesen. Weiter urteilten die Richter*innen, dass für den Beschwerdeführer die Reduktion seines Wehrpflichtersatzes mittels eines zivilen Ersatzdienstes nur theoretisch offen gestanden hätte: Aufgrund der festgestellten Dienstuntauglichkeit war es ihm von vornherein nicht möglich, Zivildienst zu leisten, da dieser gleichermassen Wehrdiensttauglichkeit voraussetzt. Sodann war er im Rahmen des Zivilschutzes in die Reserve eingeteilt worden und musste entsprechend auch keine Einsätze leisten, die ihm eine Reduktion der Abgabe ermöglicht hätten.

Nach Meinung der Strassburger Richter*innen müssen Personen mit einer Behinderung entweder die Möglichkeit haben, im Militär eine mit ihrer Einschränkung vereinbare Funktion auszuüben, oder alternativ einen zivilen Ersatzdienst leisten können. Zwar hatte die Schweiz im Nachgang zum Urteil Glor gegen die Schweiz bereits Gesetzesänderungen veranlasst, jedoch waren diese im aktuellen Fall nicht zur Anwendung gekommen.

Fehlende gesetzliche Grundlage für Wehrpflichtersatz

Gemäss Artikel 59 der Schweizer Bundesverfassung ist jeder Schweizer verpflichtet, Militärdienst oder alternativ einen zivilen Ersatzdienst zu leisten. Das Bundesgesetz über die Wehrpflichtersatzabgabe (WPEG) sieht für Personen, «die ihre Wehrpflicht nicht oder nur teilweise durch persönliche Dienstleistung (Militär- oder Zivildienst) erfüllen», einen Ersatz in Geld vor. Davon ausgenommen sind Personen, die wegen einer «erheblichen Behinderung» als dienstuntauglich gelten (Art. 4 Abs. 1 lit. a-ater WPEG). Das Bundesgesetz über den Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz (BZG) bestimmt in Artikel 29 sodann, dass anstelle des Wehrpflichtersatzes auch Zivilschutz geleistet werden kann. Es besteht allerdings kein rechtlicher Anspruch auf Einteilung in den Zivilschutz (Art. 33 Abs. 2 BZG), weshalb viele Männer, die als dienstunfähig eingestuft worden sind, keinen Zivilschutz leisten können. Sie sind deshalb gezwungen, die Ersatzabgabe zu bezahlen.

Im Nachgang zum Urteil Glor gegen die Schweiz haben die Gesetzgebenden die Rechtslage entsprechend angepasst: Im Jahr 2012 revidierte der Bundesrat die Verordnung über die medizinische Beurteilung der Militärdiensttauglichkeit und der Militärdienstfähigkeit (VMBM). Seit Inkrafttreten der entsprechenden Änderung im Jahr 2013 können medizinische Untersuchungskommissionen zur Militärdiensttauglichkeit Personen nur für bestimmte Funktionen und mit Auflagen für tauglich erklären (Ziffer 4 Anhang 1 VMBM). Gemäss der Bestimmung ist ein solcher «neuer» Militärdienst an die Bedingung geknüpft, dass die beurteilte Person «grundsätzlich aus medizinischen Gründen militär- und schutzdienstuntauglich» erklärt wird. Sie muss ausdrücklich und schriftlich ihren Dienstwillen erklären, worauf eine speziell gebildete Untersuchungskommission sie als Betriebssoldat einteilen kann.

Unbefriedigende Lösung

Die Gesetzesänderung in der Schweiz infolge des Urteils Glor gegen die Schweiz konnte im aktuellen Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht berücksichtig werden. Der zu beurteilende Sachverhalt – die Aufforderung zum Wehrpflichtersatz – spielte sich Jahre vor der Revision der Verordnung über die medizinische Beurteilung der Militärdiensttauglichkeit und der Militärdienstfähigkeit (VMBM) ab.

Ob die neue Bestimmung auf Verordnungsebene konsequent umgesetzt wird und eine befriedigende Lösung darstellt, muss in Frage gestellt werden. Zwar soll der Militärdienst mit speziellen medizinischen Auflagen grundsätzlich absolviert werden können, wenn im zivilen Leben eine Berufstätigkeit ohne grössere Einschränkungen möglich ist. Jedoch wurden 2018 ganze 45% der Stellungspflichtigen als untauglich für den Spezialdienst befunden. Laut Steuerverwaltung mussten zudem 90% von ihnen Wehrpflichtersatz zahlen – waren also nicht schwer genug eingeschränkt, um von der Ersatzpflicht befreit zu werden. Es darf vermutet werden, dass der Bund nicht auf die rund 170 Millionen Franken Wehrpflichtersatz pro Jahr verzichten will. So verdoppelte er etwa im Jahr 2010 auch den Mindestbetrag für den Wehrpflichtersatz – von 200 auf 400 Franken – obwohl dieser vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Belastung für Schlechtverdienende kritisiert wurde.

Problematisch für Menschen mit leichten Behinderungen bleibt insbesondere die Verweigerung des Zivildienstes für Dienstuntaugliche. Da es um einen Ersatz zum Militärdienst geht, wird die Zulassung zum Zivildienst bis anhin an die Diensttauglichkeit geknüpft. Dies, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Öffnung des Zivildienstes für Militärdienstuntaugliche in seinem Urteil von 2009 als «durchführbar» bezeichnete. 

Davon betroffen sind unter anderem Männer mit Hämophilie (Blutgerinnungsstörung): Laut der Schweizerischen Hämophilie-Gesellschaft (SHG) haben sie trotz Dienstbereitschaft nur schwer Zugang zum «Militärdienst mit speziellen medizinischen Auflagen». Hämophilie hat gemäss einem internen Reglement des Militärs zwingend eine Untauglichkeit für den Militär- und Schutzdienst zur Folge. Die SHG hat das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) in einem Brief gebeten, dieser Diskriminierung ein Ende zu setzen und den Betroffenen einen adäquaten Dienst anzubieten. In seiner Antwort verwies der Chef Armeestab auf eine Invalidität von mindestens 40 % als Voraussetzung für die Befreiung vom Wehrpflichtersatz. Junge Männer mit Hämophile benötigen jedoch keine IV-Rente. Er erwähnte zudem den Begriff «Integritätsschaden» aus dem Unfallversicherung-Gesetz, was jedoch auch nicht zur chronischen Krankheit Hämophilie passt.

Für Menschen mit leichten Behinderungen, welche als untauglich eingestuft werden, gibt es bis heute keine Alternative zum Wehrpflichtersatz. Die Reaktion der Schweiz auf die Rüge aus Strassburg zum Fall Glor gegen die Schweiz ist damit unbefriedigend. Vor diesem Hintergrund hat Nationalrätin Marie-France Roth Pasquier (Mitte/Freiburg) in Absprache mit dem Dachverband AGILE.CH eine Interpellation eingereicht, um der Diskriminierung ein Ende zu setzen. Angesichts der ausweichenden Antwort des Bundesrates auf ihre Frage und im Hinblick auf das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte reichte die Parlamentarierin im Juni 2021 eine zweite Interpellation nach.