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Abgrenzung gegen Islam darf als «verbaler Rassismus» eingestuft werden

16.01.2018

(auf der Grundlage der Zusammenfassung von Schutzfaktor M)

Gemäss einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verletzte das Bundesgericht die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK) der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA), als es der Stiftung verbot, eine Rede des Präsidenten der Jungen SVP Thurgau im Kontext der Debatte um die Anti-Minarett-Initiative als «verbalen Rassismus» zu einzustufen.

Sachverhalt

Die Junge SVP Thurgau führte am 5. November 2009 in Frauenfeld eine Kundgebung für die Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» durch, worüber sie anschliessend auf ihrer Website berichtete. Sie fasste dabei auch die Rede ihres Präsidenten kurz zusammen:

«In seiner Rede vor dem Thurgauer Regierungsgebäude betonte der Präsident der JSVP Thurgau, dass es an der Zeit ist, der Ausbreitung des Islams Einhalt zu gebieten. Mit der Kundgebung wolle die Junge SVP in einer aussergewöhnlichen Zeit eine aussergewöhnliche Massnahme ergreifen. Die Schweizer Leitkultur, welcher das Christentum zugrunde liegt, dürfe sich nicht von anderen Kulturen verdrängen lassen, fügte der Referent hinzu. Ein symbolisches Zeichen wie das Minarettverbot sei daher ein Ausdruck für den Erhalt der eigenen Identität.»

Die Stiftung GRA klassifizierte diese Aussage auf ihrer Webseite in der «Chronologie der rassistischen Vorfälle» als verbalen Rassismus. Nach erfolgloser Aufforderung der JSVP Thurgau, den entsprechenden Text vom Netz zu nehmen, klagte der Referent im August 2010 gegen die Stiftung wegen Persönlichkeitsverletzung. Das Bezirksgericht wies die Klage 2011 ab, das Obergericht entschied hingegen zugunsten des Referenten und verbot der Stiftung, den Text weiterhin auf ihrer Website zu veröffentlichen. Die Stiftung wehrte sich dagegen beim Bundesgericht. Es sei der Zweck der Stiftung, die Öffentlichkeit über rassistisches Verhalten aufmerksam zu machen. Die Bewertung des Zitates des Referenten sei durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt.

Im August 2012 kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Äusserungen des Präsidenten der JSVP Thurgau nicht als «verbal rassistisch» verstanden werden könnten, da sie keine explizite Herabsetzung des Islam beinhalteten. Die Bewertung der Stiftung sei daher unzutreffend und würde die Persönlichkeit des Präsidenten des JSVP des Kantons Thurgau verletzen. Die Persönlichkeitsverletzung könne auch nicht durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt werden.

Das Urteil des EGMR

Gegen das Urteil des Bundesgerichts erhob die Stiftung GRA Beschwerde beim EGMR. Die GRA argumentierte unter anderem, das Bundesgericht hätte fälschlicherweise den strafrechtlichen Begriff der rassistischen Diskriminierung zum Massstab dafür genommen, ob die Klassifizierung einer Aussage als «verbalem Rassismus» in der politischen Auseinandersetzung vertretbar sei oder nicht. Dabei habe die GRA den Referenten niemals beschuldigt, gegen die Rassismus-Strafnorm Art. 261bis StGB verstossen zu haben.

Der EGMR hat nun der Stiftung GRA in seinem Urteil vom 9. Jan. 2018 vollumfänglich Recht gegeben. Der EGMR hebt insbesondere hervor, dass die Stiftung GRA in einer demokratischen Gesellschaft eine ähnliche Wächterrolle einnimmt wie die Presse und dass sich die Meinungsäusserung im Rahmen einer heiss geführten politischen Debatte abgespielt hatte. Der Präsident der Jungen SVP Thurgau sei, trotz seines jungen Alters, eine Person des öffentlichen Lebens, der mit öffentlicher Kritik zu rechnen habe. Auf der andern Seite hätte das Urteil des Bundesgerichts auf die Stiftung GRA einen nicht zu rechtfertigenden Abschreckungseffekt gehabt.

Der EGMR hält im Gegensatz zum Bundesgericht fest, dass das Werturteil der Stiftung, wonach die Aussage des Präsidenten der Jungen SVP verbalen Rassismus darstellt, eine sachliche Grundlage aufweise. Die Aussage, wonach die Schweizer Leitkultur gegen die Expansion des Islam zu schützen sei, porträtiere den Islam als etwas Negatives, wogegen es die schweizerische Kultur zu verteidigen und zu schützen gelte.

Der EGMR bestätigt im Übrigen die Auffassung der GRA, dass der Begriff des Rassismus im Rahmen einer öffentlichen Debatte nicht auf den strafrechtlichen Rassismusbegriff verengt werden darf. Ausserdem findet der Gerichtshof das Urteil des Bundesgerichts allzu stark abweichend von den Prinzipien der EGMR-Rechtsprechung zur Güterabwägung zwischen dem Schutz der Privatsphäre und der Meinungsäusserungsfreiheit.

Kommentar

Es ist zu begrüssen, dass der EGMR einmal mehr die Meinungsäusserungsfreiheit im Rahmen politischer Debatten geschützt hat. Damit stützt er ein Anliegen, welches auch das Bundesgericht regelmässig vertritt, gerade auch, wenn es um den Schutz von grenzwertigen Äusserungen aus dem rechten politischen Spektrum in der öffentlichen Debatte geht.

Das Urteil des EGMR bestätigt, dass auch bei aufgeladenen Themen wie Migration ein weiter Raum für freie Meinungsäusserungen und Wertungen besteht. Politiker/innen, die sich für polarisierende Volksinitiativen stark machen, müssen damit rechnen, dass ihr Handeln und ihre Äusserungen von Teilen der Öffentlichkeit negativ bewertet werden.

In einem Kommentar von 2012 hatte humanrights.ch das Bundesgerichtsurteil übrigens noch befürwortet, weil es sich gegen eine ausufernde Anwendung des Rassismus-Labels gewandt und damit zur begrifflichen Präzision beigetragen hatte. Diese Einschätzung hat offensichtlich zu kurz gegriffen. Denn es kann nicht der Zweck eines Gerichtsurteils sein, Sprachpolitik zu betreiben. Wenn auch das Bundesgerichtsurteil auf der Ebene der Bedeutung des Rassismus-Bergiffs nicht unbedingt falsch war: rechtspolitisch war es daneben. Denn das Bundesgericht hatte beim damaligen Entscheid offensichtlich seine eigene Maxime missachtet, den Raum der Meinungsfreiheit im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung weiter abzustecken als im übrigen gesellschaftlichen Leben. Und zu dieser Freiheit gehört auch eine schwammige Begriffsverwendung.

Dokumentation